Die berühmte italienische Sängerin Cecilia Bartoli veröffentlichte 2009 eine CD mit dem Titel «Sacrificium. La Scuola dei Castrati». Im Begleittext weist sie auf die Grausamkeit hin, die den kastrierten Jungen angetan wurde. Auch Rosina Sonnenschmidt wurde durch die Beschäftigung mit der Musik des italienischen Frühbarocks, die für Kastraten komponiert wurde, auf das Thema Kastration aufmerksam. Um das Jahr 1600 wurde Sängerinnen von der katholischen Kirche in Rom verboten, öffentlich aufzutreten. Dieses Auftrittsverbot «gab den Ausschlag, sich kastrierter Sänger zu bedienen. Frauenfeindlichkeit war die Ursache und wurde kompensiert durch ein weiteres Leid, nämlich die Kastration von Knaben zu Gesangszwecken.» (S. 80) Die Autorin beschreibt, wie in verschiedenen Kulturen und zu verschiedenen Zeiten Jungen oder Männer kastriert wurden, z.B. um sie als Haremswächter zu gebrauchen. Es gab aber auch die Kastration oder Selbstkastration aus religiösem Fanatismus. Das Thema wird durch viele, zum Teil erschreckende Bilder illustriert.
Im zweiten Teil des Buches beschäftigt sich Michael Titze mit psychologischen Aspekten der Kastration. Er schildert die Kastration wie die Versklavung als ein Mittel von Personen der herrschenden Schicht, um die Eunuchen für die eigenen Zwecke nutzen zu können.
Das Thema Kastrationsangst spielte für Sigmund Freud eine wichtige Rolle. Titze beschreibt die hysterischen Störungen, mit denen sich Freud und sein älterer Kollege Josef Breuer in den «Studien über Hysterie» beschäftigten. Wenig später postulierte Freud in der sogenannten Verführungstheorie, dass in allen von ihm analysierten Fällen von Hysterie die Patientinnen und Patienten in der Kindheit sexuell missbraucht worden seien. In Anlehnung an die Arbeiten von Marianne Krüll, Jeffrey Masson und Alice Miller führt Titze Freuds Absage an die Verführungstheorie einerseits auf biographische Gründe zurück, andererseits auf die Ablehnung seiner Theorie durch seine ärztlichen Kollegen. Es gibt allerdings auch andere Hypothesen, warum Freud die Verführungstheorie bald wieder aufgab: So spricht einiges dafür, dass Freud zumindest einige seiner Patientinnen durch den „Zwang der Behandlung“ massiv im Sinne seiner Annahmen beeinflusste (vgl. Han Israels: Der Fall Freud, 1999).
Nachdem er die Verführungstheorie aufgegeben hatte, betrachtete Freud den «Ödipuskomplex» als seine bedeutsamste Entdeckung. Nach diesem Konzept richtet der Junge im Alter von vier bis sechs Jahre sexuelle Wünsche auf seine Mutter und betrachtet den Vater als seinen Rivalen, der ihm nach Freud «im Wege steht und den er aus dem Weg räumen möchte.» Wenn das Kind dabei ertappt wurde, dass es mit seinem Penis spielte, war anscheinend zur damaligen Zeit eine Katrationsdrohung eine übliche (und aus heutiger Sicht: üble) pädagogische Maßnahme, die Angst auslöste. Auch wenn Kinder etwas über die jüdische Tradition der Beschneidung erfahren, ist es möglich, dass sie dies als eine Art von Kastration interpretieren.
Der von Freud ausführlich beschriebene Fall des «kleinen Hans» lieferte angeblich einen überzeugenden Beweis für die Theorie des Ödipuskomplexes. Titze zeigt aber anhand verschiedener Zitate, wie stark das Kind von seinem Vater im Sinne der psychoanalytischen Theorie indoktriniert wurde, bevor er nach der «Inquisition des Vaters» Antworten gibt, die mit Freuds Theorie übereinstimmen.
Titze bespricht auch den «Kastrationskomplex», den Freud Mädchen unterstellt. Der Anblick des Geschlechtsteils eines Jungen führe dazu, dass es sich «schwer beeinträchtigt» fühle und dem Penisneid verfalle. Wenn aber Mädchen und Frauen sich minderwertig fühlen, dann sicherlich nicht, weil sie keinen Penis besitzen, sondern weil sie von den Eltern und später von Vertretern einer patriarchalisch orientierten Gesellschaft als minderwertige Wesen behandelt werden.
Die radikale Abkehr von der Verführungstheorie führte bedauerlicherweise dazu, dass Psychoanalytiker die Berichte von Patientinnen und Patienten über sexuelle Übergriffe in der Kindheit nicht mehr ernst nahmen, sondern als Fantasien interpretierten, die auf unbewussten Wünschen beruhten. Der engagierte und informative Beitrag von Titze weist ausführlich auf Irrwege der Psychoanalyse hin. Man kann nur hoffen, dass sich Psychoanalytiker heutzutage nicht mehr an diesen theoretischen Positionen von Freud orientieren. |