Leipzig. Der Osten hat sich auf das »kleine Glück« eingestellt und der Westen auf die Individualität. Das sagen Dr. Michael Titze, Psychotherapeut in Tuttlingen und Dr. Hans-Joachim Koraus, Psychoanalytiker in Leipzig. Michael Titze ist Vorsitzender von HumorCare Deutschland, Hans-Joachim Koraus Lehranalytiker am sächsischen Institut für Psychoanalyse.
Der Dalai Lama bezeichnet das Glück als die Triebkraft des menschlichen Lebens und landet in den Bestseller-Listen. Messen Sie dem Glück ebenso große Bedeutung zu?
Michael Titze: Wenn Sie das Glücksgefühl meinen, das jeder Mensch anders, eben auf seine ganz eigene Art empfinden kann - ja!
Hans-Joachim Koraus: Das Glück hat ja im Buddhismus eine etwas andere Bedeutung als im abendländischen Raum. Neben Gesundheit, Wohlstand, Freunden und Gefährten gehört ein ruhiger Geisteszustand und innerer Frieden dazu. Dass der Dalai Lama so große Aufmerksamkeit genießt, zeigt: Es scheint uns etwas entglitten zu sein.
Was ist Glück, ein Sechser im Lotto, ein Überschwappen der Hormone nach dem Marathon-Lauf?
Michael Titze: All das und viel mehr! Dieses »mehr« bezieht sich aber keineswegs auf Superlative, sondern auf die unendlich vielen Möglichkeiten, sein eigenes kleines Glück im Alltag zu finden. Ein Beispiel gab uns der Philosoph Diogenes. Er genoss die Abendsonne, als Alexander der Große vor ihn trat und ihm anheim stellte, sich etwas zu wünschen, was ihn wirklich glücklich machen würde. Diogenes erklärte schlicht und einfach: »Geh nur einen Schritt zur Seite, du stehst mir in der Sonne ...«
Hans-Joachim Koraus: Glück bedeutet die Suche nach einem sinnerfüllten Leben und auch Sinnlichkeit. Sinnlichkeit ist, innerlich offen zu sein für das Alltagsglück, das man nicht suchen und anstreben kann, sondern einem unverhofft begegnet. Da möchte auch ich mit einer Geschichte aufwarten: Ein Schüler kommt zu einem buddhistischen Lehrer und fragt: »Meister, wie kann ich glücklich werden?« Der sagt: »Sitze, wenn du sitzt, stehe, wenn du stehst und gehe, wenn du gehst.« Der Schüler meint: »Das mache ich doch, hast du nichts Besseres zu bieten?« Der Lehrer antwortet: »Das tust du nicht. Wenn du sitzt, stehst du in Gedanken schon wieder auf. Stehst du, bist du in Gedanken schon unterwegs. Und wenn du läufst, suchst du in Gedanken nach einem Sitzplatz.« Die Achtsamkeit auf den Augenblick ist weitgehend verloren gegangen.
Können wir also selbst beeinflussen, wie glücklich wir sind?
Hans-Joachim Koraus: Wer innerlich so gestimmt ist, ist nicht ständig froh, kann aber bestimmte Situationen glücklicher wahrnehmen.
Michael Titze: Glück ist etwas Subjektives. Wir müssen uns nur darin üben, unser Augenmerk auf das auszurichten, was uns selbst gelungen ist. Der Trick dabei ist, dass wir nicht in die große Ferne schauen und dass wir uns vor allem nicht an Mitmenschen orientieren, denen - scheinbar - der große Wurf gelang. Glücksgefühle entstehen, wenn wir uns aufdas konzentrieren, was uns im Hier und Jetzt Freude bereitet - und wenn wir uns dessen bewusst werden, was unserem Leben immer schon Sinn gab.
Was hindert die meisten Ihrer Patienten mit Depressionen und Burn-Out-Syndrom daran, glücklich zu sein?
Michael Titze: Wir leben in einer Überbietungsgesellschaft. Die Medien führen uns tagtäglich das scheinbar große Glück vor Augen: den ultimativen beruflichen Erfolg, die makellose Schönheit, die weltweite Berühmtheit, die grenzenlose Macht. Wer sich an diesen unrealistischen Vorgaben orientiert, muss über kurz oder lang resignieren. Die eigenen Möglichkeiten, das individuelle Können werden in diesem Zusammenhang entwertet, und es kommt zum verhängnisvollen Vergleich »nach oben«. Daraus resultieren Gefühle von Niedergeschlagenheit und existenzieller Leere.
Macht Arbeit glücklich?
Hans-Joachim Koraus: In der industriellen Produktion ist die Sinnfindung durch die Arbeit reduziert worden. Dadurch hat sich auch die Funktion der Arbeit verlagert. Sie ist mehr zur Quelle für soziale und materielle Möglichkeiten in der Freizeit geworden.
Michael Titze: Arbeit macht glücklich, wenn sie als innerlich bejahte Kür und nicht nur als von außen auferlegte Pflicht erlebt wird. In den längst vergangenen Zeiten der Vollbeschäftigung ließ sich diese Wahl relativ leicht treffen. Heute müssen viele froh sein, überhaupt Arbeit zu bekommen. So sucht man Sinnerfüllung in Freizeitaktivitäten.
Haben Ost und West unterschiedliche Auffassungen von Glück?
Hans-Joachim Koraus: Glück war im westlichen Deutschlands mehr mit Suche nach Individualität und Selbstverwirklichung verknüpft. Im Osten wurde glückliches Erleben mehr in Gruppen - in der Familie, im Freundeskreis, im Kollektiv - gesucht. Gemeinsames Erleben hatte einen sehr hohen Wert.
Michael Titze: Die durch den Sozialismus bedingte Reduzierung individueller Erfolgsmöglichkeiten, vor allem in materieller Hinsicht, schuf paradoxer Weise die emotionalen Voraussetzungen, sich auf das relativ leicht erreichbare »kleine Glück« einzustellen - und dieses auszukosten. Ähnlich war die Situation in Westdeutschland in der Nachkriegszeit. Eine Studie belegt, dass Westdeutsche um 1950 dreimal häufiger gelacht haben als in den Achtzigern!
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