Radikale Diskontinuität
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Von Michael Titze
Als Francois Lyotard vor etwas mehr als 20 Jahren das einstmals moderne »Projekt der großen Metaerzählungen« für gescheitert erklärt hat, waren die unkonventionellen Sprachspiele der vielzitierten »Postmoderne« schon längst Realität, wenngleich sie noch etwas im Verborgenen geblüht haben. Ihr Forum ist das kreative Stegreiftheater, das keiner vorbestimmten Spielregel folgt, sondern sich in jener kreativen Beliebigkeit entfaltet, die durch »radikale Diskontinuität« (Foucault), »katastrophische Antagonismen« (Reese-Schäfer) und »chaotische Verhältnisse der Rationalitäten« (Schulze) ausgeweisen ist. Die Postmoderne hat so Abschied genommen von der Betuchlichkeit einer logisch zementierten »Kommensurabilität«, die alles eindeutig festgelegt und objektiv erklärt haben wollte. Aber hatte nicht schon René Descartes zum großen Zweifeln aufgerufen, als er unmissverständlich voraussetzte, »dass alles, was ich sehe, falsch ist«? Dieser Zweifel - sofern er konsequent beherzigt wird! - kann die vielen Gesetze, denen sich das Abendland seit Beginn der Neuzeit eilfertig unterwarf, grundsätzlich in Frage stellen. Damit wird immer auch der Omnipotenzanspruch jener Logik erschüttert, deren Prämissen uns Aristoteles diktiert hat. Kleine Kinder und träumende Menschen, aber auch Angehörige von Naturvölkern und gewisse Geisteskranke kümmern sich um diese Prämissen keineswegs. Ohne sich dessen bewusst zu sein entsprechen sie damit der schon erwähnten Zweifelshypothese von Descartes.

In der gleichen Weise verfuhren schon kurz nach dem 1. Weltkrieg jene Kunstschaffenden, die sich gerade für solche Grenzbereiche und Konfliktzonen zu interessieren begannen, »aus denen Unbekanntes und der gewohnten Vernunft Widerstreitendes (Paraloges) hervorgeht«. Diese Standortbestimmung, die der Philosoph Wolfgang Welsch für das gesamte postmoderne Denken geltend macht, betraf vor 80 Jahren allerdings nur einige wenige Kreative, die das Absurde zu ihrem Betätigungsfeld machten. So schrieb Richard Huelsenbeck, der von der Psychoanalyse stark beeinflusste Mittbegründer des »Dada«, im Jahre 1918 Folgendes:

»Soweit ist es nun tatsächlich mit dieser Welt gekommen
Auf den Telegraphenstangen sitzen die Kühe und spielen Schach
So melancholisch singt der Kakadu unter den Röcken der spanischen Tänzerin
Wie ein Stabstrompeter und die Kanonen jammern den ganzen Tag ...
Ich ziehe den anatomischen Atlas aus meiner Zehe
Ein ernsthaftes Studium beginnt ...
Ach ach ihr großen Teufel - ach ach ihr Imker und Platzkommandanten
Wille wau wau wau Wille wo wo wo wer weiß heute nicht
Was unser Vater Homer gedichtet hat ...«

Dieser paralogische - bzw. »paradoxe« oder »inkongruente« - Dissens, ist nach Lyotard eine »Macht« (puisance), die die konventionell-plausible Erklärungsfähigkeit einerseits destabilisiert, andererseits aber neue Richtlinien kreativen Denkens ermöglicht. Dissens entseht, wenn der althergebrachte Konsens »dekonstruiert« (Derrida) wird. Dies kann so weit gehen, dass selbst die semantischen Regeln aufgehoben werden, was etwa Christian Morgenstern mit seinem »Gruselett« unter Beweis gestellt hat:

»Der Flügelflagel gaustert
durchs Wiruwaruwolz,
die rote Fingur plaustert
und grausig gutzt der Golz.«

In dieser dadaistischen Tradition steht auch Ernst Jandls »experimentelle Poesie«, wie das dekonstruierende Gedicht »lichtung« zeigt:

»manche meinen
lechts und rinks
kann man nicht
velwechsern.
werch ein illtum!«

In Amerika wird auch von non sequiturs gesprochen, was sinngemäß heißt, dass Zusammenhänge ohne Konsistenz hergestellt werden, so dass sich ein logischer Dissens bzw. Nonsens ergibt. Ein Meister auf diesem Gebiet ist Woody Allen, der wahrscheinlich populärste Protagonist postmodernen Denkens. Von ihm stammen Aussagen wie diese:

»Was wäre, wenn alles nur eine Illusion wäre und nichts existierte? In diesem Falle hätte ich für meinen Teppich definitiv zu viel gezahlt!«

»Es mag sein, dass es kein Leben nach dem Tod gibt. Ein deprimierender Gedanke - besonders für einen, der sich nicht rasiert hat!«

Die postmoderne Gegenwart besitzt zwangsläufig ein großes Portal zur Welt des Humors, die schon Sigmund Freud ausgiebig erforscht hat. Hier kommt es gleichfalls zur Aufweichung des Omnipotenzanspruchs einer Logik, die die Psychoanalyse mit dem sog. Realitätsprinzip in Zusammenhang bringt. Das Lustprinzip, das Freud von einem »primären Prozess« dominiert sah, der durch und durch paralogisch daherkommt, ist hier »bedenkenlos« am Werk. So können non sequitur-Aussagen zustande kommen wie dieses Zwiegespräch zwischen einem aufgeregten Fahrgast und einem Busfahrer:

»Wieviel Uhr?«
»Donnerstag.«
»Mein Gott, da muss ich ja aussteigen!«

Wie es scheint, ist der Humor für die postmoderne Gegenwart von einer besonderen Bedeutung. Auf allen Fernsehkanälen toben schräge Comedy-Shows, Moderatoren wie Karl Dall haben bemerkenswerte non sequitur-Fähigkeiten entwickelt, und das Schlagwort von der »Spaßgesellschaft«, in die wir uns zu transformieren begonnen haben, ist ebenso en vogue wie die provokative Therapie Frank Farrellys - eine psychotherapeutische Hilfestellung, die sich konsequent paralogischer Absurditäten bedient.

© Dr. Michael Titze
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