Die Heilkraft des Lachens
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Von Michael Titze
[Aus: Bucher/Seitz/Donnenberg: Ich im pädagogischen Alltag,
Salzburg, Otto Müller Verlag, 1998, S. 114-127]
In meiner Arbeit als Psychotherapeut begegnen mir täglich Menschen, die darunter leiden, »komisch« zu sein. Seit ihrer Kindheit haben sie beschämende Versagungen, Enttäuschungen und Erniedrigungen erdulden müssen. Obwohl sie sich nach menschlicher Nähe, nach Anerkennung und vor allem nach Liebe sehnen, sind sie ständig auf der Flucht vor den Mitmenschen. Denn immer wieder mußten sie spüren, daß sie nicht dazugehören, daß sie von den anderen weder gemocht noch akzeptiert werden. So sind sie zutiefst einsam.

Das bittere Gefühl, nicht liebenswert zu sein, ist bei diesen Menschen allgegenwärtig. Es war da, als ihnen, früh in der Kindheit schon, selbstbezogene Eltern die Tür zum »Depot des Lebens« (Manganelli, 1990, 5. 91) nicht öffnen konnten.

Die Familientherapeuten Almuth Sellschopp-Rüppell und Michael von Rad beschrieben die Persönlichkeitsmerkmale solcher Eltern. Es sind dies:
  1. Eine überzogene Forderung an das Kind, sich allein ihnen gegenüber loyal zu verhalten. Dies führt zu einer zu großen Bindung an die Familie, was wiederum unlösbare Konflikte mit außenstehenden Liebesobjekten nach sich zieht. Die Eltern können nicht ohne das Kind leben (was ein Aspekt der sogenannten Parentifikation ist). Doch sie selbst lassen es im Stich, wenn es hilfsbedürftig ist.
  2. Oft lassen sich ein pseudostarker Vater und eine instabile, unzuverlässige Mutter finden.
  3. Eine überzogene und unnachgiebige normative Ideologie (bezüglich dessen, was im Rahmen der Familie richtig und falsch zu sein hat!) sowie der unerschütterliche Glaube an die eigene Güte und Selbstlosigkeit lassen auf Seiten der Eltern kaum eine rationale Selbstkritik entstehen. (Sellschopp-Rüppell/von Rad, 1977, S. 356)

Solche Eltern sind nicht fähig, das Kind für das Leben in der Gemeinschaft vorzubereiten (nach Alfred Adler ist dies die wichtigste Funktion der Erziehung). Denn das würde bedeuten, auf eigene Interessen zu verzichten, die sich aus dem unstillbaren Verlangen ableiten, wenigstens im Rahmen der Familie Geltung zu besitzen.

Deshalb beurteilen diese Eltern die expansive Lebenskraft ihrer Kinder, die auf eine außerfamiliäre Kontaktaufnahme abzielt, im allgemeinen negativ. Sie wünschen sich ein Wesen, das nur für sie da ist und das so »pflegeleicht« ist wie eine unlebendige Spielzeugpuppe. Sie wollen ein Kind, das adrett, lieb, brav und »vorzeigbar« ist, das sich problemlos lenken und maßregeln läßt. Die unruhige Lebendigkeit eines Kindes aus Fleisch und Blut irritiert sie und macht sie ärgerlich. Sie nehmen Anstoß an seiner Ausgelassenheit. Sie können seiner kichernden Fröhlichkeit und seinen harmlosen Blödeleien nichts abgewinnen, insbesondere dann, wenn dies im Kreise von Gleichaltrigen geschieht, auf die sie uneingestanden - eifersüchtig reagieren. Denn andere Kinder könnten einen »schlechten Einfluß« ausüben. Sie könnten das eigene Kind, das doch Eigentum der Eltern ist, der Familie entfremden. Deshalb zeigen sich selbstbezogene Eltern so häufig empört, wenn das Kind seine eigenen Wege gehen will. Das Kind soll nicht das tun, was ihm Spaß macht. Es soll vielmehr dafür da sein, daß es den Eltern, die sich seit ihrer eigenen Kindheit vom Schicksal stiefmütterlich behandelt fühlen, gut geht. So soll es die Eltern insbesondere für die vielen Enttäuschungen und Kränkungen entschädigen, die diesen im Laufe eines enttäuschenden Lebens widerfahren sind. Um dies zu leisten, muß das Kind in die Rolle eines »Kümmerers« hineinwachsen, der ständig auf die »narzißtische« Bedürftigkeit - wie es im Jargon der Selbstpsychologie heißt - seiner elterlichen Bezugspersonen achten muß. Täte es dies nicht, müßte es viele beschämende Konsequenzen erdulden, zum Beispiel den unheilvollen Liebesentzug, der die Form bloßer gekränkter Nichtbeachtung annehmen kann oder sich in nicht selten stundenlangem Nörgeln, Beschimpftwerden, tränenreichen Katastrophenandrohungen (»Wegen dir kriege ich noch einen Herzinfarkt und muß sterben!«) und dergleichen mehr äußern kann (vgl. Titze, 1996a, Kap. 2-4).

In Carlo Collodis (1990) Märchen vom Hampelmann Pinocchio wird dies eindrucksvoll nachvollziehbar. Ständig muß Pinocchio für seinen »armen Vater Gepetto« sorgen, der einerseits gutmütig, andererseits aber auch lebensuntüchtig ist. Und seine Feenmutter ist ein typisches Beispiel für eine uneinheitliche - partiell unreife - Persönlichkeit: So nimmt sie verschiedene Gestalten an. Sie tritt als übermächtige, allseits kompetente Erwachsene auf, die Pinocchio ganz nach ihrem Gutdünken erzieht. Einmal ist sie das »gute Frauchen«, das für Pinocchio kocht und ihn mit Süßigkeiten versorgt. Ein andermal gibt sie ihm jedoch Brot aus Gips, Huhn aus Pappe und Aprikosen aus Alabaster zum Essen. Pinocchio muß vor Verzweiflung weinen und wird vor Schmerz und Hunger ohnmächtig. - Dann wieder ist die Fee eine strenge Erzieherin, die Pinocchio aufgrund ihrer Drohungen (»Wehe dir, wenn du mir noch einmal einen solchen Streich spielst!«) dazu bringt, Klassenbester zu werden. Da freilich erlaubt sie ihm, seine Freunde und Schulkameraden zum Festkaffee einzuladen. Die Fee erzieht Pinocchio, die Wahrheit zu sagen, indem sie sich über ihn lustig macht, ihn auslacht. Pinocchio weiß schließlich nicht mehr, »wohin er sich vorlauter Scham verkriechen sollte«, wie Collodi (ebd., 5. 129) schreibt. Pinocchio hat nämlich seiner Feenmutter gegenüber oft ein schlechtes Gewissen. So spricht er an einer Stelle zu sich selbst: »Wie soll ich meiner guten Fee unter die Augen treten? Was wird sie sagen, wenn sie mich so sieht? Wird sie mir diesen Streich verzeihen? Ganz bestimmt wird sie ihn mir nicht verzeihen, nein, sie wird ihn mir nicht verzeihen! Und das geschieht mir recht, denn ich bin ein schlechter Junge; immer verspreche ich, mich zu bessern und halte nie mein Wort!« (ebd., 5. 245). Die Fee tritt Pinocchio aber auch als kleines unlebendiges Mädchen gegenüber. In dieser Rolle ist sie erbarmungslos kalt, ohne jegliches Mitgefühl. Sie gibt Pinocchio unsäglichen Qualen und Beschämungen hin. Sie nimmt dabei ungerührt in Kauf, daß seine Lebendigkeit abgetötet wird. Denn sie hat nur das eine im Sinn: Sie will Pinocchio zu ihrem unlebendigen Brüderchen machen, d. h. zu ihrem willenlosen Partner. (Dies wird in der Familientherapie als »Parentifikation« bezeichnet. [vgl. Boszormenyi-Nagy/Spark, 1981]) Als sich Pinocchio diesem Ansinnen entziehen will, macht sie ihm unsägliche Schuldgefühle. So kehrt Pinocchio - nach »harten und erniedrigenden« Erlebnissen (Collodi 1990, 5. 169) - in das Haus seiner Fee zurück. Doch er findet nur ein Grab mit einer kleinen Marmortafel vor. Auf dieser sind in Blockschrift die traurigen Worte eingegraben:

HIER RUHT DAS MÄDCHEN MIT DEM TÜRKISBLAUEN HAAR

UNTER SCHMERZEN GESTORBEN

WEIL SIE VON IHREM KLEINEN BRUDER PINOCCHIO VERLASSEN WARD

Diese Worte verfehlen ihre Wirkung nicht. Der Schmerz, den Pinocchio empfindet, ist ungeheuerlich. Es ist der Schmerz des Kindes, das sich völlig im Stich gelassen fühlt, weil seine Mutter nicht wirklich Mutter sein kann. Diese Mutter ist ein unlebendiges Mädchen, das sich vom eigenen Kind das erhofft, was ihr selbst versagt geblieben war: eine absolute liebevolle Zuwendung und eine ideale lebendige Nähe. In diesem Zusammenhang nimmt sie die Gestalt eines schönen wachsweißen Mädchens an, das Pinocchio mit geschlossenen Augen und gekreuzten Händchen gegen übertritt und ihm wortlos also »nonverbal« erklärt: »Auch ich bin gestorben.« Sie will ihrem Kind nur »Schwester« sein. Doch damit ist Pinocchio völlig überfordert. So muß sie ihn neuerlich beschämen, muß ihm vorwerfen, daß er, ihr »kleiner Bruder«, sie verlassen habe und für ihren Untergang verantwortlich sei. Collodi (ebd., 5. 171) beschreibt die Verzweiflung Pinocchios in erschütternder Weise: »Er fiel auf sein Gesicht nieder, küßte den Grabstein vieltausendmal und brach in herzzerreißendes Schluchzen aus. Er weinte die ganze Nacht hindurch, und beim nächsten Morgengrauen weinte er immer noch, wenn auch seine Augen keine Tränen mehr hatten. Und sein Wehklagen war so qualvoll und durchdringend, daß es von allen Hügeln im Umkreis als Echo wiederholt wurde.« Im Zustand dieser Verzweiflung findet die grausame Botschaft der Fee ihr Ziel. Pinocchio übernimmt die Verantwortung für die Unlebendigkeit der Mutter-Schwester. Er bekennt sich voller Zerknirschung für schuldig: »Oh, meine liebe kleine Fee, warum bist du gestorben? Warum bin nicht ich, der ich so schlecht bin, statt deiner gestorben, die du so gut warst?... Kehre ins Leben zurück, werde wieder lebendig! Tut es dir denn gar nicht leid, wenn du mich so allein und von allen verlassen siehst?« Dies ist ein Beispiel für die Entstehung eines beschämenden Dressurgewissens, wie es von Nietzsche (1980) so meisterhaft beschrieben wurde. Dieses Gewissen beinhaltet Idealnormen, die nicht allgemeingültig im Sinne des gesunden Menschenverstands sind. Vielmehr sind sie Ausdruck der maßlosen selbstbezogenen Bedürftigkeit einer konkreten elterlichen Bezugsperson.

In der Psychotherapie geht es nicht zuletzt darum, einen Klienten von den verhängnisvollen Zwängen dieses Dressurgewissens zu befreien. Dies ist die Voraussetzung dafür, daß sich die ursprüngliche expansive Lebenskraft eines gehemmten und entmutigten Menschen wieder entbinden kann. Ist dies geschehen, dann erst kann sich dieser Mensch der größeren Gemeinschaft öffnen. Er kann es wagen, sein soziales Interesse, das bislang in das Korsett innerfamiliärer Rollenzwänge eingebunden war, zu erproben - und zwar in einer Weise, die im durchaus positiven Sinne »unverschämt« ist! Doch muß der betreffende Klient erst aus einer Erstarrung befreit werden, die ihn oft über Jahrzehnte gelähmt hat. Diese Erstarrung ist die Folge eines tiefen Mißtrauens. Denn wer sich selbst mit den gleichen »negativen Augen« betrachtet, wie dies einst die beschämenden Erzieher taten, der wird allmählich blind für sein Können. Er sieht nur noch seine Fehler. Er konzentriert sich nur noch auf das, was er »falsch macht«, so daß das eigene Leben schließlich als ein einziger großer Mißerfolg erscheint. Und das ist der Grund, weshalb sich dieser Mensch seiner selbst schämen »muß«. Diese Scham führt allmählich zu einer Entfremdung gegenüber der eigenen Lebenskraft und gegenüber der Gemeinschaft. Sie wird verdrängt, unterdrückt, gleichsam in ein inneres Gefängnis eingesperrt. Als Folge davon zeigt sich häufig eine unnatürlich verkrampfte und angespannte Haltung. Sie verleiht nicht selten ein hölzernes Gehabe, das den Körper wie mechanisch erscheinen laßt. Und eben das kann auf andere »komisch« wirken. (Titze, 1996a, b)

Wenn Kinder gelernt haben, ihr Verhalten an Idealnormen auszurichten, die von selbstbezogenen Eltern vorgegeben wurden, können sie die vielen ungeschriebenen Spielregeln des Gemeinschaftslebens kaum beherrschen. So ecken sie an. Sie fallen auf, weil sie »irgendwie komisch« sind, weil sie sich als ahnungslose Außenseiter erweisen, die nicht wissen, was sich gehört, was gerade »in« ist, wie man sich in der sozialen Gruppe zu geben hat, welchen Jargon man sprechen soll usw. So werden diese Kinder von den anderen häufig abgelehnt, nicht selten auch verspottet und gehänselt. Dies ist eine weitere beschämende Erfahrung, die den unheilvollen Glauben bestätigt, daß »mit mir etwas nicht stimmt»! So beginnen sich diese Kinder mißtrauisch zu kontrollieren. Sie wollen »alles richtig machen«, nicht auffallen, wobei sie wiederum auf ihr familiäres Rollenverhalten zurückgreifen. So wie sie gelernt haben, es Papa und Mama recht zu machen, so wollen sie häufig ihre Spielkameraden bei Laune halten - indem sie sich von diesen ausnutzen oder verspotten lassen, indem sie diesen Geschenke machen oder mit ihnen in eben jener altklugen Weise sprechen, die sie im Rahmen ihrer Familie als Ersatzpartner ihrer Eltern eingeübt hatten.

Die Pubertät ist insofern eine besonders kritische Phase, als die betreffenden Jugendlichen nunmehr immer bewußter auf das äußere Erscheinungsbild achten. Scham gebundene Jugendliche versuchen sich dabei in einer häufig ganz überzogenen Weise zu kontrollieren. Denn sie fürchten nichts mehr, als unangenehm aufzufallen und sich vor den Augen der anderen zu blamieren. Damit wird die innere Spannung und die äußere Verspanntheit nicht selten derart gesteigert, daß es zu psychosomatischen und depressiven Symptomen kommen kann. Die betroffenen Jugendlichen fühlen sich buchstäblich unwohl in ihrer eigenen Haut. Sie schämen sich vor den Augen der Welt, und sie möchten am liebsten »verschwinden«. Denn sie erleben sich selbst als »komisch« und »lächerlich«. Die Angst vor dem Ausgelachtwerden beginnt den freien Bewegungsablauf zu lähmen. Sie beherrscht zunehmend das Denken und Handeln des jungen Menschen. In dieser Gelotophobie (=Lachangst) wirkt sich ein tiefgreifender existentieller Bruch aus: Das Lachen wird nicht mehr als Ausdruck fröhlicher Lebenslust, sondern als grausames »soziales Zuchtmittel« (Bergson) er lebt: Die Gleichaltrigen, auf die das natürliche soziale Interesse des schamgebundenen Jugendlichen voller Sehnsucht ausgerichtet ist, strafen diesen durch ihren Spott dafür, daß er sich auf ihre lebendige Gemeinschaftlichkeit, ihren unverkrampften common sense nicht einzustellen vermag. Hieraus leitet sich häufig eine beklemmende Entfremdung vom »lebendigen Leben« (Dostojewski) ab. Die Betroffenen fühlen sich buchstäblich unwohl in ihrer Haut. Sie spüren, daß sie nicht dazugehören und daß sie »wie in Feindesland« (Adler) leben. Denn sie erleben sich nicht als Menschen aus Fleisch und Blut. Die Verkrampfung ihres Körpers läßt sie hölzern erscheinen: wie den Hampelmann Pinocchio. Und so sind sie den anderen fremd und unheimlich zugleich. Oft ist es pure Unsicherheit, die bei diesen jenes spöttische Grinsen auslöst, das ein »komischer« Mensch so fürchtet! (Titze, 1997b)

Die Folge ist häufig eine Abkehr von sozialen Aktivitäten, ein entmutigter Rückzug, der diese Jugendlichen beständig zurückweichen, immer auf der Flucht vor den Mitmenschen sein läßt. Wie Pinocchio führt sie diese Flucht durch eine irreale Phantasiewelt, in der die Fiktion großartiger Vollkommenheit, Überlegenheit und Macht nicht selten suchtartig erträumt wird. Damit einhergeht aber eine weitere Entfremdung gegenüber der Gemeinschaft. Denn die Ziele, die sich die Betroffenen in dieser Phantasiewelt setzen, sind zu hoch gesteckt, als daß sie, von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, jemals erreicht werden könnten. Und wenn sie sich den anderen über diese Größensucht mitteilen, machen sie sich einmal mehr lächerlich! Und so setzt sich der unheilvolle Zirkel fort. Um die quälende Schamangst zu verringern, werden vielleicht Suchtmittel konsumiert. Zuweilen wird auch der Anschluß an esoterische und pseudoreligiöse Kreise gesucht, die Erleuchtung und kosmisches Wissen verheißen. Häufig wird auch der verzweifelte Versuch unternommen, durch rastlose Arbeit überwertige Leistungen zu erbringen, die - endlich! - die ersehnte Anerkennung ermöglichen sollen. Wenn aber alles Suchen und alles Bemühen ins Leere geführt hat, wenn das brennende Gefühl der Schamangst nicht schwindet, sondern im Laufe der Jahre weiter anschwillt, dann wird die Entfremdung vom eigenen Selbst schließlich zu einem völligen Stillstand lebendiger Aktivität führen, der sich häufig auch in einer körperlichen Erstarrung äußert. Alfred Adler sah hier die Voraussetzungen für den sogenannten Minderwertigkeitskomplex (vgl. Adler 1966, 1973).

Die moderne Psychotherapie hat Wege gefunden, die aus dieser Erstarrung heraus führen können. Almuth Sellschopp-Ruppell und Michael von Rad (1977. 5. 357) schlagen für die Behandlung des von ihnen beschriebenen »Pinocchio Syndroms« eine Vorgehensweise vor, die den Klienten aus seiner zwanghaften Unlebendigkeit herausführen soll. Voraussetzung dafür ist das Zustandekommen einer emotional verläßlichen therapeutischen Beziehung, die vom unmittelbaren Kontakt lebt. Die Autoren betonen sodann die Notwendigkeit, die bestimmenden Konflikte auf eine szenische Weise zu bearbeiten. Das ist im Rahmen einer Gruppentherapie, die nicht allein verbale Methoden verwendet, am ehesten möglich. In Entsprechung hierzu wurde jüngst das »Humordrama« entwickelt (vgl. Titze 1997a). Es zielt auf die Entbindung der sogenannten Humorreaktion ab. Sie äußert sich unverkennbar in einem befreiten Lachen. Wenn es dem Klienten gelingt, sich von all dem humorvoll, d. h. im wahrsten Sinne des Wortes »un-verschämt« zu distanzieren, was seine natürliche Lebendigkeit gebunden und gehemmt hatte, dann kann er sich allmählich auf ein selbstbewußtes und eigenverantwortliches Teilhaben am Gemeinschaftsleben einlassen. So paradox es auch klingt: Gemeinschaftstätig wird ein Mensch erst dann, wenn er sich von den unreflektierten Zwängen eines idealnormativen Dressurgewissens befreit hat, das den privatlogischen Rollenzuweisungen selbstbezogener Bezugspersonen folgt.

Um die Humorreaktion hervorzurufen, bedarf es einer Grenzüberschreitung, einer zeitweiligen Nichtbeachtung von normativen Schranken. Adler (1982, 5. 181) sprach auch von einer Revolte gegen das »gesellschaftlich durchschnittliche Bezugssystem«. Eben diese Risikobereitschaft zeichnet den Humor aus. Es gibt für ihn, wie Jean Paul (1980, 5. 125) feststellt, »nur Torheit und eine tolle Welt; er erniedrigt das Große, um ihm das Kleine, und erhöhet das Kleine, um ihm das Große an die Seite zu setzen und so beide zu vernichten, weil vor der Unendlichkeit alles gleich ist und nichts«.

Der Humor ist nicht einseitig ausgerichtet. Er entsteht im Spannungsverhältnis des Gegensinnigen. Er löst die geistige Eingleisigkeit disziplinierten Denkens auf, die nach Arthur Koestler (1966, 5. 34 ff.) in einer einzigen Begriffswelt - gleichsam auf einer einzigen Ebene - angesiedelt ist. Als kreative Form geistiger Aktivität bricht der Humor aus dem starr Festgelegten aus, so daß er mehrere Ebenen bzw. Bezugssysteme in Anspruch nehmen kann. Damit ist er normativ buchstäblich ungebunden. Dabei werden heterogene Ebenen bzw. Bezugssysteme zu einer »Bisoziation« vereinigt, die Koestler (ebd., 5. 36) so definiert: »Wenn zwei voneinander unabhängige Wahrnehmungs- oder Denksysteme aufeinandertreffen, ist das Resultat entweder ein Zusammenstoß, der im Lachen endet, oder eine Verschmelzung zu einer neuen geistigen Synthese.« So wird die Grenze zur »Gegenwelt des Unernsten« unentwegt überschritten.

Zur Veranschaulichung erwähnt Koestler (ebd., 5. 37) den Wilden, der sich vorwurfsvoll an die geschnitzte Totemfigur wendet und ausruft: »Sei nur nicht so stolz, ich kenn dich noch als Zwetschgenbaum!« Dies ist ein Beispiel für eine humorvolle bzw. »un-verschämte« Doppelbindung: Denn das Numinose wird mit dem Banalen und das Metaphorische mit dem Konkreten bisoziiert. Dieser Wilde ist der Prototyp eines mutigen Schelms, der den Humor gleichsam personifiziert.

Auch die Geschichte Pinocchios liest sich passagenweise wie ein Schelmenstück. Denn ein Schelm ist ein unverschämter Starrkopf. Er ist jemand, der wegen seiner verrückten Streiche zugleich geschätzt und gefürchtet wird. Der Schelm erscheint uns auch in Gestalt des »Hanswurst«, den Jean Paul (ebd., 5. 160) als den »wahren Gott des Lachens«, als den »personifizierten Humor« charakterisiert hat. Er ist der »Typ des Schlaudummen oder Dummschlauen, in dem gar nicht mehr zu erkennen ist, wo die Schlauheit aufhört und die Dummheit beginnt«, meinte der Mythenforscher Karl Kerenyi (1954, 5. 166). In der weltberühmten Figur des Mulla Nasrudin feiert dieser Typ seit langem fröhliche Urständ. C. G. Jung (1954, 5. 185) beschrieb den Hanswurst als einen »negativen Helden«, der durch seine Dummheit das erlangt, »was ein anderer durch seine beste Leistung zu erreichen verfehlt hat«.

In Frankreich wurde der Hanswurst als »Colon« oder auch »Claune« bezeichnet, was ins Deutsche übersetzt »Bauerntölpel« bedeutet. Daraus entwickelte sich dann die englische Bezeichnung »Clown«. Dieser fand in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Manegenkomiker Eingang ins Zirkusleben. (Seitler, 1982)

Der Zirkusclown war stets ein »Gegenteiler«, Sinnbild auch des trotzigen Kindes. Denn es besteht »eine eigenartige Wesensverwandtschaft zwischen dem tolpatschigen Erwachsenen mit der roten Nase und den großen Schuhen und seinen jungen Zuschauern, den Kindern«, schreibt der Clown und Hochschullehrer Ernst Kiphard (1986, 5. 26). Beide leiden an zahllosen Schwächen und Unzulänglichkeiten. Die Erwachsenen erscheinen ihnen allwissend und übermächtig. Dabei hegen Clown und Kind den gleichen unerfüllbaren Wunsch: einmal den allmächtigen Erwachsenen ein Schnippchen zu schlagen, gegen ihre Autoritätsansprüche aufzubegehren, um wieder einmal etwas Verbotenes zu tun. Der Clown fällt tatsächlich überall aus dem Rahmen, denn er entspricht nicht den Idealen von Klugheit, Vernunft, Schönheit oder souveräner Körperbeherrschung. Nicole Kristuf (1993, S. 45) schreibt, daß der Clown »verbotene Grenzen überschreitet und immer das Gegenteil von dem tut, was >man< von ihm erwartet. Es ist verständlich, daß uns die Welt des Clowns zunächst wie ein Chaos erscheint. Im Reich des Clowns werden alle Erwartungen enttäuscht. Er geht nicht, er torkelt und stolpert, fällt hin. Er flüstert seinem Clownskollegen nicht leise ins Ohr, nein, er brüllt ihm die geheime Botschaft ins Ohr. Auf seinen Instrumenten bringt er nur schiefe Töne hervor. Er läuft mit dem Kopf voran gegen alle Hindernisse. Dem Circusdirektor zeigt er eine lange Nase. Und schließlich, er schaut von der falschen Seite ins Gewehr - welche Katastrophe konnte das zur Folge haben!« Der Clown ist schon von seinem Äußeren her »eine übertriebene Karikatur der Dummheit, der manchmal noch ein ansteckend wirkendes Grinsen aufgesetzt ist«, bemerkt Arthur Koestler (ebd., 5. 77). Gleichzeitig stellt er aber auch unter Beweis, daß ein lächerliches Erscheinungsbild nicht allein Anlaß zur Belustigung der anderen ist, sondern auch ein Mittel der eigenen (lustvollen) Selbstbehauptung sein kann. So ist der Clown das nicht schamgebundene Ebenbild komischer Menschen. Denn »allen Clowns gemeinsam ist die Komik, die aus der mechanischen Starrheit oder Zerstreutheit eines lächerlichen Menschen resultiert« (ebd.). Der Clown fürchtet sich nicht vor dem »Versagen«, dem Scheitern. Im Gegenteil scheint er ein gehöriges Maß an Befriedigung daraus zu ziehen. Clowns agieren auf der Stufe eines Kleinkindes, das noch nicht »richtig« sprechen kann und das seine Körperfunktionen noch nicht »richtig« beherrscht und das noch nicht von der Last eines »schlechten Gewissens« niedergedrückt wird! Clowns verzichten, wie Constantin von Barloewen (1981, 5. 92) bemerkt, »auf die Sprache, ersetzen sie durch Stummheit und Stammeln, die indes umso beredter sind, je mehr sie unverständlich erscheinen«. Wie alle komischen Menschen stehen Clowns außerhalb der Gemeinschaft: »Die Vereinzelung ist Merkmal clownesker Lebensform. Der Clown bleibt ein einzelner, auch wenn er in Gruppen auftritt« (ebd., 5. 97).

Und dennoch ist der Clown kein bemitleidenswerter Schwächling. Er ist der große »Widersacher« (ebd., 5. 125), der seinen Zweifel überall hinträgt. »Er ficht seinen Kampf sehr sanft, ganz ohne das Klirren der Piken auf den Rüstungen, denn er ist das Sinnbild des mutig revoltierenden Menschen« (ebd., 5. 125). Er ist, wie Klaus Peter Müller (1986, 5. 226) bemerkt, der unfügsame, der geheiligte Rebell, »ein Grenzgänger zu Abgründen«.

Es gibt viele verschiedene Clown-Figuren (vgl. Fried/Keller, 1996). Grundsätzlich kann man zwei Formen unterscheiden: Auf der einen den kompetenten »Weißclown« (Harlekin, Pierrot, Gracioso), der die Sphäre des Erwachsenseins repräsentiert. Sein Urahne ist der sogenannte »weiße Mime« (mimus albus), der in den Komödien der alten Griechen und Römer eine lustige Rolle spielte.

Der Gegenspieler des lebenstüchtigen Weißclowns ist der inkompetente Clown (Dummer »August, Hanswurst). Erzeigt die Variationen lustvollen Scheiterns, dies ist der Versuch einer Selbstverkleinerung bis hin zur Unsichtbarkeit« (Fried/Keller. 1991, S. 162). Sein Gang ist komisch, weil er den normalen Abstand der Füße zueinander verringert, was die Standfläche seines Körpers reduziert und sein Gleichgewicht prekär erscheinen läßt (Seitler, 1982, 5. 15). Schon der Spaßmacher römischer Komödien, der Centunculus, trat in einem bunten Kostüm auf. Er besaß auch schon jenen Kahlkopf, der zu einem Erkennungsmerkmal des heutigen inkompetenten Clowns gehört, ebenso wie die überdimensionierten absatzlosen Schuhe, die seinen komischen Gang bewirken. Die Gestik, Mimik und Körperhaltung des inkompetenten Clowns ist reduziert: Seine ganze Erscheinung kündigt ein Scheitern an. Die rote, auffällig deformierte Nase ist das wohl wichtigste Ausdrucksmittel des Minimalclowns. Er trägt diese Nase, um zu zeigen, daß für ihn die Kategorien von Macht und Ohnmacht hinfällig sind. (Die Stellung der Nase war immer schon ein Hinweis auf das Selbstwertgefühl eines Menschen: Wer seine Nase hoch trägt bzw. »hochnäsig« ist, zeigt an, daß er stolz ist. Der beschämte Mensch, der seinen Kopf hängen läßt, trägt demgegenüber seine Nase »tief«. Darüber hinaus ist die aus der Norm fallende Nase ein besonders exponiertes Merkmal des Komischen. Kinder halten sich deshalb die ausgestreckten Finger der Hand an die Nase, wenn sie einen anderen veralbern wollen.) Auf dieses Ausdrucksmittel greift auch das Humordrama zurück. Es verwendet die Clownsnase als ein Mittel für die Ausklammerung der Sphäre des Erwachsenseins. Auch im Humordrama gilt: Sobald sich ein Klient diese Nase aufgesetzt hat, nimmt er die Identität des Mininialclowns an, dessen Bestimmungszweck darin liegt, von allem »weniger« zu machen. Damit wird aber auch die Identität eines kleinen Kindes angenommen, dessen Können sich in einer anderen Sphäre entfaltet als der des privatlogisch reglementierten Dressurgewissens.

Es ist die Identität des »un-verschämten« Kindes, die vom Clown unentwegt vorgelebt wird: »Er benimmt sich töricht, läßt sich nicht belehren und, was vielleicht das wichtigste ist, er steht immer wieder auf, mit einem selbstüberzeugten Lachen auf dem Gesicht, steigt über seine Trümmerhaufen hinweg und versucht`s aufs Neue« (Fried/Keller, 1991, 5. 81, 5. 211). Eine Humordrama-Teilnehmerin schrieb über die Clownsnase:


»Die Clownsnase ist eine Maske, und meine Maske ist die Clownsnase. Wie auch immer ich die Wörter vertausche, Hauptsache ist, daß sie mein Gesicht larvieren -.«Das Gesicht verlieren« - diese Vorstellung verliert ihren Schrecken, wenn ich die Clownsnase aufsetze. In diesem Augenblick verliere ich das Gesicht, dessen ich mich schäme. Das ist nicht entwürdigend, sondern befreiend. Denn die Würde, »das Gesicht«, habe ich in meiner Kindheit verloren. Mit dieser Scham laufe ich durch den Alltag. Und mein Alltagsgesicht zeigt - paradoxerweise - jedem an, daß ich, mein Gesicht verloren habe. damals, als ich Kind war.

Doch die Clownsnase auf meiner Nase befreit mich von dieser Scham. Sie befreit mich von meinem »verlorenen Gesicht«. Sie, die rote, kugelige, künstliche Nase vermittelt mir die Empfindung, mich verbergen zu können. Sie läßt mich spüren, daß sich mein altes verhaßtes Gesicht auflöst. Es sind aber nicht meine realen Augen oder meine realen Lippen, die mich stören, weil ich mich ihrer schäme: Es ist meine Identität, die sich in diesem Gesicht offenbart. Ihrer schäme ich mich. Die aufgesetzte, darüber gestülpte Clownsnase schafft die Illusion in mir, ein anderer, neuer, befreiter Mensch zu sein. Toll, wie ich mich (bzw. mein aufgezwungenes Image >gefallenes: besser zu Fall gebrachtes, mißbrauchtes Mädchen) befreien kann, wenn diese 10 cm&Mac183; roter Gummi meine Nase bedecken! Ich kann es auch anders herum betrachten: Mit meiner >Persona<, mit der ich mich seit meiner Kindheit identifiziere, versuche ich (weshalb eigentlich?) etwas krampfhaft aufrechtzuerhalten, versuche ich meine Scham zu überspielen. Doch erst die Clownsnase öffnet mir den Zugang zu einer neuen Rolle. Sie befreit mich von einem vorgefaßten, aufgezwungenen Image. Der Clown nimmt mir meine alte, verhaßte Persona ab. Oh, wie leicht, wie lebensfroh lebt sichs als Clown! Und wie lebensfeindlich, wie trist lebt sichs mit dem Kainsmal der Scham im Gesicht.«


Clowns sind inzwischen auch im Bereich der Gruppentherapie aktiv geworden. Der Psychoanalytiker Martin Grotjahn (1974, 5. 107 f.) hatte schon vor Jahren erklärt, jeder große Clown sei ein schöpferischer Künstler und, wie ein Analytiker, ein Deuter. Doch anders als der Wissenschaftler deute er keine objektiven Tatsachen der Außenwelt, sondern subjektive Wahrnehmungen der Innenwelt. Im folgenden möchte ich dafür einige Beispiele aus eigener Gruppenarbeit bringen, in deren Rahmen ein »therapeutischer Clown« als Ko Therapeut wirkt (vgl. Titze, 1997a). In dieser Funktion steht er dem jeweiligen Klienten im Sinne eines »kindlichen Doppelgängers« zur Seite. Er macht diesem vor, was es heißt, »lustvoll zu scheitern«. Er flüstert ihm Botschaften zu, die das Regiment beschämender »Man muß«-Vorstellungen aus den Angeln heben. Der therapeutische Clown fungiert somit als ein »un-verschämtes« Identifikationsmodell. Indem er sich in jeder Hinsicht von jenen Vorbildern unterscheidet, die das schlechte Gewissen eines schamgebundenen Menschen beinhaltet, kann er einen weitreichenden kathartischen Effekt anregen. In dieser Hinsicht steht der therapeutische Clown ganz in der Tradition des historischen Schelms. Im folgenden führe ich einige Beispiele dafür an.

Wir beginnen unsere Gruppenarbeit im allgemeinen mit problemzentrierten Gesprächen. Grundlegendes Thema ist die Scham. Es geht dabei jeweils um die Schilderung schamauslösender Situationen, die mit den Rollenzwängen in der Herkunftsfamilie in Zusammenhang gebracht werden. Damit folgen wir dem üblichen Beispiel einer aufdeckenden Psychotherapie. So werden verschiedene Stationen der Schamentstehung erkennbar. Sie sind Glieder einer Kette, die sich aus der aktuellen Gegenwart (die im Hier und Jetzt der Gruppensituation erlebt wird) über die Jahre hinweg bis in die Beziehungsstruktur der Herkunftsfamilie hinein verfolgen läßt. Immer geht es dabei um die Angst, sich daneben zu benehmen, etwas »Falsches« zu sagen und dadurch unangenehm aufzufallen. Daraus resultiert gewöhnlich das entmutigen de Bestreben, die eigenen Mangel zu überspielen, sich besser, souveräner, eben »normaler« zu verhalten. Sobald der »Sprung in die Clownsnase« vollzogen wurde, ist aber das Gegenteil angesagt: Die verschiedenen Stationen der Beschämung werden nun mit den Mitteln des Minimalclowns in Szene gesetzt.

Dem jeweiligen Akteur steht dabei der therapeutische Clown hilfreich zur Seite. Er sorgt vor allem dafür, daß der »Kopf« (also das selbstkontrollierende, rationale Erwachsenendenken) ausgeklammert bleibt. Dies erreicht er, indem er den Akteur mit den verschiedensten Mitteln ablenkt: So kann er ihm unter den Arm greifen und mit ihm kreuz und quer durch den Raum laufen, hüpfen oder auch tanzen lassen. Er kann den Akteur auch veranlassen, »chinesisch« oder »kisuaheli« zu sprechen - dies folgt der gleichen »Logik« wie die Kôan Praxis des Zen (vgl. Titze, 1996a, Kap. 12).


Ein Teilnehmer beschrieb das so:

«Das ist eine sehr nützliche Übung, die ich sehr gerne machen und die mir hilft, eine Menge kreativer Energie freizusetzen. Die variable Gestaltung und der sehr zielstrebige Einsatz des therapeutischen Clowns beeindrucken mich immer wieder zutiefst. Ich habe dadurch gelernt, viel spontaner in eine Vielzahl von Problemsituationen hineinzugehen. So kann ich am Montagmorgen endlich wieder locker zur Arbeit gehen, ohne mir zuvor im Kopf eine riesige, schier unüberwindliche Mauer von Leistungsanforderungen und Erwartungsängsten aufzubauen.«


Immer wieder macht der therapeutische Clown dem Akteur vor, wie sich ein Minimalclown (Fried/Keller, 1996, 5. 99 104) zu verhalten hat: Er verlangsamt die Gestik so stark, daß etwa die Bewegungen des Kopfes oder der Arme wie im Zeitlupentempo erfolgen. Er macht kleine, unbeholfene Schritte, wobei er sich wie eine hölzerne Marionette bewegt: mit durchgedrückten Armen und Knien, so daß die Körperbewegungen ebenso komisch wirken wie die unbeholfenen Gehversuche eines Kleinkindes! Wenn der Akteur spricht, muß er dafür sorgen, daß der Redefluß verändert wird. Um das zu erreichen, hat er vielleicht zuvor einen kleinen Schluck Wasser zu sich genommen, den er mit der Zunge im Oberkieferbereich zu halten versucht. Oder er streckt die Zungenspitze zwischen die Zähne. Das führt dazu, daß die Aussprache im wahrsten Sinne des Wortes verwaschen klingt! Eine andere Möglichkeit ist, in übertriebener Weise zu nuscheln, zu näseln oder den Redefluß bewußt zu verändern, so daß die Worte viel zu schnell oder viel zu langsam ausgesprochen werden. Hier wird ein Bezug zu den ersten Sprechversuchen des Kleinkindes hergestellt. Dazu schrieb ein anderer Teilnehmer:


»Sprechen war für mich mit großen Ängsten und mit Scham verbunden. Ich fühlte mich gegenüber Kollegen und Bekannten in einer für mich unerträglichen Weise unterlegen. Sobald ich mich dabei ertappt habe, zu lispeln oder zu stottern, überkam mich eine tiefe Verzweiflung, die meine Gehemmtheit noch weiter steigerte. In den vielen (Clownsübungen, die ich inzwischen durch geführt habe, konnte ich jedesmal die gleiche befreiende Erfahrung machen. Ich konnte erleben, daß ich mit Lust und Ulk das absichtlich produzieren kann, was mir bislang wie ein fremder Zwang erschien. Das Gelächter, das ich dabei hervorrufe, geht nicht mehr gegen mich. Es ist die Anerkennung für meinen Erfolg als Komiker«


Eine ähnliche Erfahrung beschreibt eine Teilnehmerin, die von Beruf Lehrerin ist:

»Schon in einer der ersten Gruppensitzungen brachte ich mein großes Problem ein: Die Eröffnung eines Elternabends! Dabei habe ich seit etwa zwei Jahren die folgenden Probleme: Sprachstörungen, Herzrasen, Mundtrockenheit, Atemnot und vor allem die Angst, >durchzudrehen<.In einem Rollenspiel sollte ich einen >Elternabend eröffnen<. Die übrigen Anwesenden spielten aufmüpfige, kritisierende schimpfende Eltern. in meiner eigenen Rolle als Lehrerin mußte ich alle meine Symptome auf möglichst komische Weise verstärken. Während ich versuchte, diese Hinweise auf meine Schamangst überdeutlich werden zu lassen, während die vor mir sitzenden >Eltern< ebenfalls ihre Rolle hervorragend spielten, stieg eine unglaubliche Wut in mir hoch. Sie wurde noch verstärkt durch den therapeutischen Clown. Er stachelte mich mit allen Mitteln seiner Kunst auf. Ich war gar nicht mehr in der Lage, auf ihre Worte, die im Stakkato auf mich niederprasselten, zu hören, ich spürte nur noch meine Wut.

Wochen später befand ich mich tatsächlich in dieser Situation. Es war ein Elternabend. Ich stand vor den Menschen und hatte wieder das Rollenspiel vor Augen. Ich spürte auch meine Wut wieder, sah mich in der Rolle des frechen Clowns und hörte mich selbst sagen: >Liebe Eltern, ich stehe hier vor ihnen voller hoffnungsloser Schamangst... < Und ich sagte dies mit einer klaren, festen, energischen Stimme. Und wie ich sie ungläubig lachen sah, wußte ich, daß ich gewonnen hatte. Denn sie lachten nicht über mich selbst, sondern über einen Witz, der wohl wirklich gelungen war. Den weiteren Verlauf des Abends konnte ich selbstbewußt und ungehemmt gestalten.«


Unter solchen und ähnlichen Voraussetzungen werden die schlimmen Schamerfahrungen der Vergangenheit und Gegenwart systematisch in Szene gesetzt. Das Lachen, das der jeweilige Akteur (mit der Assistenz des therapeutischen Clowns) erntet, wird nunmehr anders wahrgenommen. Es wird nicht mehr als ein Auslachen erlebt, sondern als die anerkennende Bestätigung eigenen Könnens. Denn der Akteur hat jetzt etwas geleistet, das in sehr vielen Fällen durchaus »bühnenreif« ist, also an die Darbietungen »richtiger« Clowns herankommt. Damit ist eben jener Einstellungswandel spielerisch vollzogen, den Viktor Frankl (1959, 5. 164 ff.; 1975, 5. 187 ff.) als die Voraussetzung für eine Immunisierung gegenüber der Schamangst ansieht. Denn es ist ja die Gelotophobie, die Angst vor dem Ausgelachtwerden, die zur neurotischen Selbstkontrolle und Selbstbeobachtung geführt hat. Diese Angst läßt sich in den meisten Fällen nicht auf der kognitiven Ebene eines »Umdenkens« auflösen. Das ist auch der Grund, weshalb manche paradoxe Interventionen ohne einen wirklich durchgreifenden Erfolg bleiben.

Die Immunisierung gegenüber der Angst vor dem Ausgelachtwerden nimmt im Humordrama breiten Raum ein (vgl. Titze, 1996b). So kann im Rahmen von Rollen spielen die Abwehrkraft des »dummen Lachens« geübt werden. Als Voraussetzung dazu gibt der jeweilige Akteur einige Schwächen von sich preis, für die er sich bislang besonders geschämt hat. Er wird dann von den Gruppenteilnehmern mit diesen Schwächen konsequent konfrontiert; zunächst unter den Voraussetzungen der clownesken Reduktion, also mit roter Nase, komischer Körperhaltung, verwaschener Aussprache usw. Der Protagonist darf (wieder mit der Assistenz des therapeutischen Clowns) nur das eine tun, nämlich möglichst dümmlich lachen. Auch das will geübt sein! Denn dieses Lachen ist ebenfalls eine Minimalleistung. Es soll weder aus vollem Hals kommen, noch lustig oder locker sein. Kurzum, es soll möglichst peinlich wirken!

Nach diesem ersten Durchgang legen die »Angreifer« die Clownsnase ab und konfrontieren den Protagonisten als »normale Erwachsene« mit den gleichen Vorwürfen. Aber auch jetzt darf sich dieser ausschließlich mit dümmlichem Lachen wehren.

Die Leitideen des Humordramas sind also in der Reduktion und im Gegensinn zu sehen. Beides zielt auf die Ausklammerung jener normativen Realitätsauslegung ab, die für den normalen Erwachsenen verbindlich ist. Der Klient kann damit eine Grenzüberschreitung vollziehen. Er kann sich zwangslos und spielerisch in die Sphäre seines eigenen Kindseins begeben, was im wahrsten Sinne des Wortes ungezwungen und un-verschämt ist. Daraus resultiert ein befreiender Effekt: Die einzelnen Gruppenteilnehmer können sich allmählich aus ihrer selbstbezogenen Haltung lösen, die ja nicht zuletzt eine Folge von Selbstbeobachtung und Selbstkontrolle ist. Sie bringen sich, entsprechend dem Beispiel kleiner Kinder, affektiv, das heißt voller unbefangener Lebensfreude und spiellustiger Albernheit in eine Gemeinschaft ein, die sie nunmehr nicht mehr zu fürchten brauchen.


© Dr. Michael Titze
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