Epoché und Reduktion in der Psychotherapie
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Von Michael Titze
[Aus: R. Kühn & M. Staudigl (Hrsg.): Epoché und Reduktion,
Würzburg, Känigshausen & Neumann, 2003, S. 229-239]
1. Vermittlung von Expertenwissen als Beispiel praxisbezogener Reduktion

Die Ausbildung zum Psychotherapeuten baut auf der Vermittlung von abstraktem Theoriewissen und konkretem Erfahrungsaustausch auf. Letzteres geschieht in der Regel im Rahmen von Selbsterfahrungsangeboten und kasuistischen Supervisionsgruppen. Bedingt durch die schulspezifische Begründung eines in sich konsistenten »Menschenbildes« wird dabei eine Anschauungsweise vermittelt, die das Entstehen von Expertentum ermöglicht. Dadurch wird eine wissensbezogene Einklammerung vollzogen, die eine strikte Abgrenzung gegenüber »laienhaften« und »naiven« Sichtweisen hervorbringen soll. Ein solches Expertentum äußert sich immer auch im Gebrauch einer spezifischen Denkweise, die sich ihrerseits in einer eigenen Fachsprache »ausdrückt«. Außenstehende, die über dieses Expertenwissen nicht verfügen, bleiben dadurch »ausgeklammert«. Die Leiter solcher Supervisionsgruppen verfügen in aller Regel über ein breites Expertenwissen, das sie (fach)sprachlich entsprechend umzusetzen verstehen. So können sie als »Vorbilder« bzw. »Identifikationsobjekte« dienen.

Auch die Ausbildungskandidaten verfügen gewöhnlich schon über dieses Expertenwissen, das - im Vergleich zu dem des Supervisors - natürlich eingeschränkt bzw. unvollkommen ist. Es kann sich dabei um Assistenzärzte oder junge Diplompsychologen handeln, die im Rahmen ihres Studiums Kurse über Klinische Psychopathologie, Medizinische Psychologie und Tiefenpsychologie belegt hatten und die sich bereits in psychotherapeutischer Weiterbildung befinden.


2. Die Realität der Psychotherapie innerhalb der Lebenswelt

Das Anliegen eines Supervisors wird darin bestehen müssen, ein (im Sinne von Theoriekonformität) unreflektiertes therapeutisches Handeln grundsätzlich in Frage zu stellen. Sein Ziel ist daher, eine »Professionalität« entstehen zu lassen, die sich aus der Verfügbarkeit über ein Spezialwissen herleitet, das neuartige Typisierungen ermöglicht. Dies muß eine entsprechende Modifizierung jener Horizontintentionalität implizieren, die in der allgemeinen Alltagserfahrung durchaus unkritisch und unreflektiert zum Tragen kommt. Vereinfacht ausgedrückt bedeutet dies, daß »man« im Modus der »natürlichen Einstellung« seine Mitmenschen, unabhängig davon, ob diese psychiatrisch diagnostiziert wurden oder nicht, »anders« wahrnimmt als ein psychopathologisch geschulter Experte. Dieser verfügt, wie eingangs schon bemerkt wurde, über einen theoretisch umschriebenen und so spezifisch strukturierten »Innenhorizont«, der zu »Wahr«-Nehmungen anregt, die ganz bestimmte noematische Verweisungsbezüge auftun. Das heißt, während der Alltagsmensch, als Nichtexperte, einen anderen Menschen als »freundlich«, »unsympathisch«, »merkwürdig«, »attraktiv« usw. auffassen mag, wird der psychiatrisch geschulte Experte in diesem Zusammenhang Prädikate apperzipieren, die auf spezifische diagnostische Schemata bzw. theoriekonforme Konstrukte verweisen. Es geht mithin um Typisierungen gemäß »ungewöhnlicher« Relevanzkriterien. Diese selektive Bestimmung von »Realität« konstituiert einen spezifischen Sinnhorizont, der gleichwohl immer (inter)subjektiv ist. In dieser formalen Hinsicht unterscheidet sich der Experte freilich in keiner Weise vom »Alltagsmenschen«, der »seine Wirklichkeit« ebenfalls gemäß (inter)subjektiver Typisierungsschemata aufbaut, auch wenn diese anderen Relevanzkriterien folgen. Denn »die Urbegriffe, die, durch die ganze Wissenschaft hindurchgehend, den Sinn ihrer Gegenstandssphäre und ihrer Theorie bestimmen, sind naiv entsprungen, sie haben unbestimmte intentionale Horizonte, sie sind Gebilde unbekannter, nur in roher Naivität geübter intentionaler Leistungen. Das gilt nicht nur für die Spezialwissenschaften, sondern auch für die traditionelle Logik mit all ihren formalen Normen.«

Die Lebenswelt ist der »allgemeine Boden menschlichen Welterlebens« . Sie besitzt insofern einen »offenen Horizont«, als sie mir unbegrenzte Möglichkeiten subjektiver Welterfahrung bietet. Dabei steht es mir frei, mich mit meinen Mitmenschen über die inhaltlichen Strukturen solcher Erfahrungen intersubjektiv auszutauschen bzw. auf jene typisierten Erfahrungszusammenhänge Bezug zu nehmen, die wir als »soziales Wissen« bezeichnen können. Die wesentliche Funktion der Lebenswelt besteht darin, einen unreflektiert hingenommenen Seins- und Weltglauben vorauszusetzen, der an eine nicht weiter hinterfragte, immer schon bestehende Vertrautheit mit den intentionalen Gegenständen anknüpft, welche die Lebenswelt konstituieren. Diese »erste Evidenz« einer naiv hingenommenen »Realität« korreliert auf der Subjektseite mit der »natürlichen Einstellung«, die nur solche »Wahr«-Nehmungen gelten läßt, die mir immer schon vertraut waren. Der intersubjektive Konnex ist dabei insofern a priori mitgegeben, als ich mir in einer apodiktischen Weise gewiß bin, mich jederzeit mit meinen Mitmenschen darüber austauschen zu können. Wenn diese Gewißheit, wie etwa im Falle psychotischer Krankheitsverläufe, nicht (mehr) besteht bzw. angezweifelt wird, ist die Offenheit dieses Horizonts nicht gewährleistet. Dadurch kommt es zu einer - mehr oder weniger konsequenten -»Herauslösung aus dem schlicht setzenden Dahinleben, -handeln, -meinen, mit dem wir in unserer Lebenswelt verwurzelt sind«. Blankenburg bezeichnet diese psychopathologisch relevante Form der Einklammerung (Ringel spricht von »Einengung«) als »Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit«. Daraus resultiert ein spezifischer Einstellungsmodus, der »private« Formen des Welterlebens auftut, die jeweils affektiv akzentuiert sind. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Angst, daneben aber auch die manische Euphorie oder die depressive Dysphorie.


3. Einklammerung von wissenschaftsspezifischen Realitätsbereichen

Der eingeklammerte Wirklichkeitsbereich psychotischen Welterlebens ist nur eine Möglichkeit der Epoché. Denn die Lebenswelt als solche umfaßt darüber hinaus weitere relativ geschlossene »Welten«, »Strata« oder »Sinnbereiche« (Schütz), die insofern eine je spezifische »Einstellung« ermöglichen, als alles ausgeklammert bleibt, was der (inter)subjektiven Realitätsauffassung innerhalb der entsprechenden Einklammerungen widerspricht. Als Beispiele lassen sich die Welten der Phantasie, des Spiels, des Traums, der Kunst, der Technik, aber auch der verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, so der Psychopathologie, anführen.

Wer sich auf den geschlossenen Sinnbereich eines wissenschaftlichen Theoriesystems einstellt, der muß sich systematisch mit einem Wissen vertraut machen, das von vornherein auf einen eng umschriebenen Teilbereich der Lebenswelt bezogen ist. Die intentionalen Gegenstände innerhalb dieses Teilbereiches sind durchaus nicht »objektiv« gegeben; es sind vielmehr Erscheinungen, die aufgrund von spezifischen Typisierungen bzw. noetischen Bewertungen einen eindeutigen noematischen Sinn zugesprochen bekommen. Die Genese dieses Wissenserwerbs ist durch typisierende Erfahrungszusammenhänge fundiert, die von »Experten« - wozu auch die Begründer einer psychotherapeutischen »Schule« gehören - aufgrund von »polythetischen« (Schütz) Einzelbeobachtungen gewonnen wurden. Dabei schufen diese Experten aufgrund von eigenständigen abstrahierenden Akten (Typisierungen) neuartige intentionale Gegenstände, die rein theoretische Konstrukte sind. Ein Beispiel wäre das Strukturmodell der Psychoanalyse , das von einem »Ich«, »Es« und »Über-Ich« ausgeht. Dem Studierenden werden diese Abstraktionen insgesamt (»monothetisch«) so vermittelt, als ob ihre »reale« Gegebenheit objektiv gesichert wäre. Um aber zu diesen Konstrukten zu gelangen, mußten ihre Schöpfer eine Ausklammerung der doxisch-originären Alltagswelt vornehmen, so daß eine eigene Welt im Sinne des geschlossenen Sinnbereichs des entsprechenden Theoriesystems geschaffen wurde.

Diese »neue Welt« versucht ein psychotherapeutischer Supervisor seinen Ausbildungskandidaten zu erschließen. Und wie jeder andere Lehrer auch, macht er seine Schüler, auf jene »Fehler« aufmerksam, die entstehen, wenn die von den Theoriebegründern vollzogene Einklammerung dieser Welt nicht sorgfältig nachvollzogen wird. So können die Ausbildungskandidaten etwa lernen, diagnostische Einschätzungen vorzunehmen, die wiederum mit den entsprechenden theorieimmanenten Konstrukten übereinstimmen müssen. Jene subjektiven Phantasien und affektiven Anmutungen, die sich im Rahmen einer therapeutischen Interaktion spontan ergeben können, werden dabei als objektivierbare Hinweise auf eben diese Konstrukte interpretiert. Lernziel ist, fest daran zu glauben, daß sich dadurch eindeutig wahre Aussagen über die Befindlichkeit von Patienten machen lassen. So »internalisieren« (um einen entsprechenden Fachbegriff zu verwenden) die Ausbildungskandidaten durchaus beeindruckende doxische Idealvorstellungen, die ihr weiteres Urteilen und ihre (non)verbalen Aussagen eindeutig bestimmen können. Sie lernen dabei, von dem mehr oder weniger systematisch abzusehen, was sie im Modus der »natürlichen Einstellung« von jeher »wahr«-genommen hatten. Diese Art der »Wahr«-Nehmung, sofern sie mit den fachspezifischen Konstrukten der entsprechenden Schulmeinung nicht konkordant ist, muß angezweifelt und bereichsweise sogar völlig in Frage gestellt bzw. ausgeklammert werden.

Die entscheidende Basis stellt das psychopathologische Konstrukt der »Störung« dar. Angehende Psychotherapeuten lernen, aus der Fülle von Eindrücken, die der jeweilige Patient bei ihnen hervorruft, solche Hinweise für eine spezifische »Pathologie« zu selegieren, die wiederum mit psychogenetischen Implikationen verbunden sind. Damit soll der »Patient« entsprechend einem hypostasierten Nicht-Können theoriekonform typisiert werden. (Als Beispiele lassen sich die diagnostischen Kategorien »Borderline-Störung«, »Störungen mit Regression auf die Separations-Individuationsphase«, »Störungen der Ich-Regulation«, »Störungen des narzißtischen Regulationskreises zwischen Ich und Ich-Ideal, »Störungen der Triebdynamik« nennen. )

Damit kann es zu einer reduktiven Beschränkung auf die Konstituenten einer »neuen Welt« kommen, die sich etwa in der Weise niederschlägt, wie fortan ein Patient apperzipiert wird, wie man sich ihm gegenüber zu verhalten hat, was (non)verbal zum Ausdruck zu bringen ist und wie man sich - theoriekonform - ein ganz bestimmtes diagnostisches »Bild« von ihm zu machen hat ... Diese Reduktion führt insofern zu einer selektiven Wahrnehmung, als im Rahmen der Psychotherapieausbildung gelernt wird, primär auf solche Informationen zu achten, die als Indikatoren für die spezifische Störung des Patienten, sein konfliktträchtiges Nicht-Können, angesehen werden. Im Falle einer psychoanalytischen Ausbildung stehen die »freien Assoziationen« des Patienten als ein zunächst unstrukturiertes Material zur Verfügung, das alsdann selektiv zu interpretieren ist. Sich selbst lernen die Ausbildungskandidaten dabei als therapierelevante »Objekte« zu verstehen, die dem frei assoziierenden Patienten - zum Beispiel über entsprechende Deutungen - »spiegeln« können, wie sich dieses Nicht-Können im zwischenmenschlichen Konnex auswirkt und - auf die Lebensgeschichte bezogen - immer schon ausgewirkt hat und so zu entsprechenden Konflikten mit der »Realität« führte. Das therapeutische Anliegen besteht also darin, den Patienten zu einer »Regression« auf eben jene Entwicklungsstufen anzuregen, in der die entsprechende Störung erstmals verursacht wurde. Da diese »Fixierung«, entsprechend der psychoanalytischen Lehrmeinung, in der Regel in sehr frühen, das heißt vorsprachlichen und präreflexiven Phasen der Ontogenese stattfindet, kann sich der Patient an die entsprechenden Entstehungsbedingungen nicht erinnern. Diese müssen, wiederum im Einvernehmen mit entsprechenden theoriekonformen Annahmen, induktiv rekonstruiert werden. Das bedeutet, daß es zu einer Vermittlung eben solcher doxischen Inhalte kommt, die sich innerhalb des geschlossenen Sinnbereichs einer psychoanalytischen Therapie als plausibel erweisen, die Entstehungsgeschichte dieses konfliktträchtigen Nicht-Könnens zu erklären.


4. »Nicht-Können« als Gegenstand der Psychopathologie

Sich des eigenen Nicht-Könnens in dieser systematisierenden Weise wieder und wieder bewußt zu werden, ruft affektive Empfindungen hervor, die insgesamt »freudlos« sein müssen. Denn wenn ich mich, aus meiner Rückbesinnung auf Vergangenes heraus, als ungeliebt erlebe, ruft dies schmerzhafte Schamgefühle hervor. Wenn ich mir »vor Augen führe«, daß ich in moralisch-ethischer Hinsicht immer schon versagt habe, übermannen mich Schuldgefühle. Wenn ich mir »bewußt mache«, daß ich meinen Bezugspersonen gegenüber die Position des machtlosen Opfers einnehmen mußte, keimt Wut und Enttäuschung auf. Und wenn ich »einsehe«, daß ich in meinem expansiven Streben immer schon gescheitert bin, entsteht eine depressive Niedergeschlagenheit.

All dies zeichnet die Selbstreflexionen psychisch kranker Menschen ohnehin aus. In dem für sie typischen »Grübelzwang« kommt, allerdings unsystematisch und zuweilen »chaotisch«, jenes Ohnmachtsgefühl zum Ausdruck, das eben auch der zentrale Gegenstand einer (tiefen)psychologischen Analyse ist. Und jedesmal geht es um die Frage einer kausalen Begründung: »Wie kommt es, daß ich so geworden bin?« Während der psychisch Kranke auf diese Frage aus sich selbst heraus kaum eine befriedigende Antwort finden kann, wird ihm das geschlossene System der Psychoanalyse grundsätzlich plausible Erklärungen bieten, die Erkenntnisse folgender Art ermöglichen: »Ich fühle mich schlecht, weil es in der Vergangenheit meiner Lebensgeschichte zu dieser spezifischen Störung kam, die mich seither zwingt, ein konflikthaftes Leben zu führen ...«

Diese kontinuierliche und systematische Rückbeziehung auf den geschlossenen Sinnbereich eines spezifischen psychopathologischen Modells ermöglicht zweifelsohne »Einsicht« in die mögliche Entstehungsgeschichte affektiver Mißbefindlichkeiten. Dabei ist freilich insofern eine korrektive Zielvorstellung maßgebend, als es um die Überwindung von »störenden Emotionen« (als Ausdruck einer »abnormen« Lebenshaltung) geht. Diese Zielvorstellung ist dem Patienten durchaus vertraut. Denn in seinem privaten Bemühen hat er gewöhnlich lange Zeit vergeblich gegen diese Emotionen angekämpft - und damit jene »innere Zerrissenheit« in sich selbst hervorgerufen, die als ein zentrales psychisches Symptom anzusehen ist. Er tat dies grundsätzlich im Einvernehmen mit einer »öffentlichen Meinung«, die das individuelle Wohlbefinden an Idealnormen bemißt, die mit »positiven Gefühlen« einhergehen müssen. Danach steht der persönliche Erfolg eines Menschen (der wiederum zu »Ansehen« im sozialen Kontext beiträgt) in einem korrelativen Zusammenhang mit euphorischen Emotionen wie Stolz, Glück, Selbstzufriedenheit usw. Diese normative Setzung kann leicht dazu führen, daß nur noch prestigeträchtige Emotionen angestrebt werden, während alle anderen abzuwehren sind. Damit wird aber eine Reduktion vollzogen, die grundsätzlich auf die Ausklammerung »abnormaler« Emotionen abzielt, das heißt solcher Gefühle, die mit den entsprechenden idealnormativen Setzungen nicht zu vereinbaren sind. Diese Art der Reduktion können wir insofern als sekundär auffassen, als sie von normativen Idealvorstellungen ausgeht, die das affektive Leben nicht in seiner originären Bedeutung erfassen, sondern dieses, ganz im Gegenteil, nachträglich bewerten und umdeuten. So steht das Ich-Subjekt »seinem« je eigenen affektiven Leben kritisch und mißtrauisch gegenüber, indem es dieses »objektiviert« und entsprechend bewertet.


5. Die transzendental-phänomenologische Reduktion

Als primäre Gegebenheit bzw. ursprüngliche Gebung erweist sich, nicht allein in (onto)genetischer Hinsicht, sondern auch radikal-phänomenologisch, die rein immanent-affektive Vollzugsstruktur des Lebens. Denn nur »als ein Lebendiger« kann ich in der Lebenswelt existieren, mich dabei auf eine Vielzahl intentionaler Gegenstände einstellen, diese noetisch-noematisch apperzipieren und im intersubjektiven Konnex normativ bewerten, um mir so meine je eigene »Lebensrealität« zu schaffen. Dabei kann ich grundsätzlich auch mich selbst, dasheißt dieses »mein Leben«, zum Gegenstand meiner intentionalen Akte machen. Doch wenn ich mir dabei eine wie auch immer geartete »Vorstellung« von diesem Leben »mache«, wenn ich etwa von triebphysiologischen Prämissen ausgehe, stelle ich es - abstraktiv-objektivierend - in die Welt der Biologie, um es sodann, entsprechend den normativen Maßgaben dieses an sich einzuklammernden Sinnbereichs, entsprechend zu beurteilen. Sinngemäß gilt dies für sämtliche Weisen reduktiver Einklammerung des Weltgeschehens. Dabei gibt es ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal, das sich auf die Inhalte solcher Einklammerungen bezieht. Sofern diese, wie im Falle von Träumen oder psychotischen Wahnvorstellungen, nur für mich allein sinnstiftende Geltung besitzen, entspricht dies einer »privaten« Weltauslegung, die der allgemeingültigen, logischen Regelhaftigkeit des sensus communis (Kant) nicht umfassend folgt. In formaler Hinsicht gibt es im Hinblick auf die Apperzeptionsvorgänge in den entsprechenden eingeklammerten Realitäts- bzw. Sinnbereichen keinen wesentlichen Unterschied: Jeweils geht es um spezifische Abstraktionen bzw. Idealisierungen von Erscheinungen innerhalb der Lebenswelt, die - nach Maßgabe bestimmter doxischer Modalitäten - entsprechend beurteilt bzw. sinnstiftend strukturiert werden.

Gerade der Psychotherapeut steht vor der unausweichlichen Frage, wie er das affektive Lebendigsein seines Patienten unmittelbar zur Geltung kommen lassen kann. Sofern er dabei nicht bei nominalistischen Objektivierungen (»das Leben«, »der Affekt«) oder mystifizierenden Konstrukten (»Lebenskraft« [Bergson] als »Widersacher des Geistes« [Klages]) verharren will, muß er seinerseits eine Reduktion vornehmen, die ebenfalls zu einer Ausklammerung führt. Diese Art der Ausklammerung (Epoché) unterscheidet sich freilich grundlegend von den weiter oben geschilderten Ausklammerungen innerhalb der Lebenswelt. (Diese werden von Blankenburg im Anschluß an Schütz als sekundär aufgefaßt.) Die hier gemeinte phänomenologische Form der Ausklammerung zielt hingegen auf eine methodische Inhibierung jeder natürlichen objektiven Stellungnahme ab, die mein naiv hingenommenes, unreflektiertes »Hineinerfahren, Hineindenken, Hineinwerten, Hineinhandeln« in die vorgegebene Lebenswelt kennzeichnet: »Alles Transzendente (mir nicht immanent Gegebene) ist mit dem Index der Nullität zu versehen, d.h. seine Existenz, seine Geltung ist nicht als solche anzusetzen, sondern höchstens als Geltungsphänomen«

Damit wird zunächst die alte Forderung der Skeptiker eingelöst, sich gegenüber den »Dingen, welche in den Bereich der Ansicht fallen« zurückzuhalten und keine Wahrheitsaussagen vorzunehmen. Darüber hinaus geht es um die von Descartes erstmals methodisch erfaßte »Zweifelsmöglichkeit«: »Ich setze voraus, daß alles, was ich sehe, falsch ist, ich glaube, daß nichts jemals existiert hat, was das trügerische Gedächtnis mir darstellt ...« . Husserl bezog diesen methodischen Zweifel auf »die gesamte ‚sinnliche Welt‘, die Lebenswelt des Erkennenden [...]« , die in ihrer Seinsgeltung damit außer Kraft gesetzt wird. Dennoch bleibt in dieser »primären« Epoché das Ich, das »Subjekt des Weltbewußtseins«, von dieser Zweifelsmöglichkeit unberührt: »Es tritt [...] mir, dem die Epoché Vollziehenden, in den Blick als unaufhebbare ‚Voraussetzung‘ - oder vielmehr Voraussetzbares, trotz der Zweifelsmöglichkeit, die mein eigenes lebensweltliches Sein als Menschen mitbetrifft« .

Dieser methodische Kunstgriff, konsequent vollzogen, führt dazu, daß ich mich auf mein transzendentales »reines Ich« reduziere und so zum »reinen Leben als Leben des ego« gelange - das in seiner reinen Immanenz »Stätte aller Sinngebung und Seinssetzung, Seinsbewährung« ist. Vermöge einer weiteren, radikalen Reduktion kann diese transzendentale Leistung des Ego auf die transzendentale Motivation an sich zurückgeführt werden, die keiner Weltgeltung und keiner Zeitigung bedarf, weil sie der »selbstaffektiven« Immanenz des Lebens entspricht, das sich - im Sinne einer zeitlosen »transzendentalen Geburt« - aus sich selbst heraus immerfort gibt und erprobt. Diese transzendental-phänomenologische »Geburt« ist »mit allem Vermögen dieses Lebens als dessen Können ausgestattet« . Sie ermöglicht die Manifestation vielfältiger affektiver »Stimmungen«, die sich in meinem »pathischen Fleich« (Henry) als Freude, Leid, Schmerz, Angst, Haß oder auch als Langeweile äußern können. Damit ist, phänomenologisch gesehen, jedes Gefühl [...] absolut und trägt somit ein »Gutsein« in sich selbst , das erst durch sekundäre Bewertungen in die Welt »geholt« und sodann in Frage gestellt bzw. pathologisiert werden kann.


6. Die »konspirative Allianz« als intropathische Gemeinschaftlichkeit

Wenn sich ein Psychotherapeut auf diese radikale Reduktion einläßt, eröffnet sich ihm, wie Husserl es formulierte, »ein neues Reich der Erfahrung« . Er muß dabei keinesfalls das Sosein der Welt überhaupt in Frage stellen, denn ihre Ausklammerung besagt lediglich die »Ausschaltung [dieser] Welt als naives Vorurteil«. Dies impliziert unter anderem, daß auch die normative Geltung diagnostischer Wertmaßstäbe ausgeklammert werden kann. Diese sind, wie alle normgebenden »idealtypischen Konstruktionen« durchaus keine »reellen psychische[n] Dat[en]« . Während ich von mir selbst »Erfahrung in primärer Originalität« habe, transzendiert das »ideale Sein [normgebender] Urteile [...] die jeweilige lebendige Evidenz, in der das Urteil als dieses Urteil aktuell zur Selbstgegebenheit kommt« . Demnach ist die Gegebenheitsweise solcher Werturteile grundsätzlich »sekundär« . »Lebendige Evidenz« als absolut-phänomenologische Realität ist demgegenüber nur dann erfahrbar, wenn ich von allen sekundären Wertungen absehe und meine originären Affekte »von vorneherein« gelten lasse. So wird die schon von Nietzsche geforderte »Gutheißung der Gefühle« möglich, weil diese in jeder Hinsicht auf die primäre Gegebenheitsweise einer lebendigen Selbstaffektion verweisen, in deren »innerstem Grund« die pathische Ermöglichung jenes fundamentalen »Ich kann« entspringt, die mit der affektiven »Kraft« des Lebens identisch ist.

Indem der Psychotherapeut diese radikal-phänomenologische Reduktion bei sich selbst vollzieht, wird es ihm möglich, sich auf eine »intropathische Gemeinschaftlichkeit« mit seinem Patienten einzulassen, die zunächst »als ein wirklich und konkret gemeinsames Sein« vollzogen wird. Dies entspricht im wesentlichen einer affektiven Identifikation , die schon Alfred Adler für die Psychotherapie genutzt hatte: »Wie man das erklärt? Das ist kurz zusagen, daß man es in sich selbst erzeugen muß, sich mit (dem) anderen in Verbindung setzen muß. Man muß mit den Augen des anderen sehen, mit den Ohren des anderen hören und mit dem Herzen des anderen fühlen.«

Unter dieser Voraussetzung wird es dem Psychotherapeuten möglich, sich auf eine »kon-spirative Allianz« mit seinem Patienten einzulassen, die allein der personalen Lebensaffektion verpflichtet ist und alle (»sekundär«) weltlichen Normvorgaben ausklammert . Indem sich der Psychotherapeut affektiv in seinen Patienten »hineinversetzt«, kann er dessen affektives Können intropathisch nachvollziehen bzw. »in sich selbst erspüren«.

Nehmen wir als Beispiel einen Menschen, der von einer Panikattacke erfaßt wird. Viele seiner Körperfunktionen sind bis auf das Äußerste aktiviert: Der Herzschlag ist erhöht, so daß die Durchblutung stark angeregt wird. Die Atmung wird beschleunigt, so daß der Gasaustausch in der Lunge vervielfacht und die Sauerstoffzufuhr entsprechend gefördert wird. All dies ist per se durchaus nicht pathologisch! Gleiches wird sich ereignen, wenn sich der betreffende Mensch einer starken körperlichen Belastung aussetzt. Was sich pathologisch auswirkt, ist die gedankliche Stellungnahme, die wertende Beurteilung solcher körperlichen Vorgänge. Dies hatte schon Epiktet vermerkt: »Nicht die Dinge selbst beunruhigen die Menschen, sondern die Vorstellungen von den Dingen [...] Wenn wir also unglücklich, unruhig oder betrübt sind, wollen wir die Ursache nicht in etwas anderem suchen, sondern in uns, das heißt in unseren Vorstellungen.« Solche »Vorstellungen« leiten sich stets von sekundären doxischen Normgebungen ab, die - wie in dem eben geschilderten Fall - die körperlichen Funktionen »maßregeln«, diese also nur insofern als »normal« (und damit »gut«) gelten lassen, als sie bestimmten Idealwerten zu entsprechen haben. Diese normgebende Meinung, die sich gerade bei zwangsneurotischen, aber auch depressiven Krankheitsverläufen pathogen auswirkt, kann natürlich auch der Psychotherapeut selbst teilen - oder aber reduktiv aufgeben, um dadurch im Zuge intropathischer Gemeinschaftlichkeit jene Ruhe und Gelassenheit »auszustrahlen«, die Marc Aurel im Sinn gehabt haben dürfte, als er folgendes schrieb: »Bedenke, daß alles nur in deiner Meinung beruht und diese in deiner Macht steht. Gib darum [...] deine Meinung von etwas auf! Dann empfängt dich, gerade wie einen Mann, der das Kap umsegelt hat, auf einmal Meeresstille: alles liegt ruhig da, und die Bucht ist wie ein Spiegel.«

Aus dieser Ruhe und Gelassenheit heraus vermag sich der Therapeut, wie schon erwähnt, auf die »Kraft« affektiven Lebens auszurichten, die unter anderem die geschilderte Panikattacke überhaupt ermöglicht hat. In dieser Kraft »erprobt« (Henry) sich das Leben in seiner ganzen Fülle. Sie anzunehmen und »gutzuheißen« ist demnach eine selbstverständliche Konsequenz, die durchaus nicht »paradox« ist, um einen von Frankl geprägten und von der modernen Psychotherapie zentral gewichteten Begriff zu nennen! Paradox (im Sinne von Widersinnigkeit) ist vielmehr der bestimmende Glaube des Patienten selbst, daß seine affektiven Vollzüge, die sich auch in seinem Symptomgeschehen äußern, nicht »in Ordnung« sind und daher »hyperreflektiv« (Frankl) kontrolliert und gemaßregelt werden müssen. Die konsequent vollzogene Reduktion auf das selbstaffektive Leben klammert dieses pathogene Denken aus, so daß der Patient zu »sich selbst zurückfinden« und sich so tatsächlich annehmen kann.

Indem der Psychotherapeut diese affektive Kraft auch im spezifischen Symptomgeschehen erspürt, kann er jenes Können intropathisch nachvollziehen, das in den psychopathologisch relevanten »Arrangements« (Adler) des Patienten als mögliche »Strategie der Lebensbewältigung«zur Wirkung gelangt. So kann der Therapeut den Patienten miterleben lassen, wie »herrlich böse« es gewesen sein muß, als dieser in seiner Kindheit diesen oder jenen Streich ausheckte, und wie »mutig« es ist, daß er heute mit seinen Symptomen einigen seiner Mitmenschen auf die Nerven geht, sich unangenehmen Situationen entzieht usw. Dabei nimmt der Therapeut »konspirativ« immer wieder Bezug auf sein eigenes affektives Personsein, indem er zum Beispiel bemerken kann, daß »ich, wenn ich Sie wäre, mit meiner Angst, mit meinen Depressionen, mit meinen Zwängen usw. noch viel mehr bewirken würde, um mich zu behaupten usw.« Immer wieder wird der Psychotherapeut dabei seine unverhohlene Bewunderung über das schöpferische affektive Können des Patienten äußern, das - »unverstanden« - in solchen Lebensstrategien zur Wirkung kommt. Im Modus dieser intropathischen Gemeinschaftlichkeit erfolgt für gewöhnlich ganz zwanglos eine »Rückbesinnung« auf die immanente Kraft schöpferischer Selbstaffektion, die einer heiteren und grundsätzlich humorvollen Selbstannahme den Weg bahnt


Literatur:

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W. Blankenburg, Phänomenologische Epoché und Psychopathologie. In: W. M. Sprondel/R. Grathoff (Hg.), Alfred Schütz und die Idee des Alltags in den Sozialwissenschaften 1979, 125 - 139.
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E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie [1913] (Husserliana III). Den Haag: Martinus Nijhoff 1950.
E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Zweites Buch: Phänomenologische Untersuchung zur Konstitution (Husserliana IV). Den Haag: Martinus Nijhoff 1952.
E. Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie [1936] (Husserliana VI). Den Haag: Martinus Nijhoff 1962.
E. Husserl, Erste Philosophie. Zweiter Teil: Theorie der phänomenologischen Reduktion [1923-24] (Husserliana VIII). Den Haag: Martinus Nijhoff 1959.
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© Dr. Michael Titze
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