1. EMDR-unterstützte Thematisierung bei psychodynamisch fundierten Fokaltherapien (gekürzte Fassung)

2. Thematisierung (siehe unten)

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Von Michael Titze
[Aus: C. T. Eschenröder: EMDR. Eine neue Methode zur Verarbeitung traumatischer Erinnerungen. DGVT-Verlag, Tübingen, 1997, S. 179-188]
Lange Zeit galt eine im Sinne der psychoanalytischen Standardmethode durchgeführte Langzeittherapie als qualitativ besonders hochstehend. Dabei ließ sich argumentieren, dass die entscheidenden Eckpfeiler des analytischen Prozesses (Erinnern, Wiederholen, Durcharbeiten) einer zeitaufwendigen Methodik (freie Assoziation, »gleichschwebende Aufmerksamkeit« und regressionsfördernde Zurückhaltung/Schweigen des Analytikers, Übertragungs- und Widerstandsdeutungen usw.) bedürfen (vgl. Thomä & Kächele, 1989). Eine unbestreitbare methodische Schwäche dieser Vorgehensweise resultiert allerdings aus dem Verzicht auf eine aktive Strukturierung durch den Analytiker. Dies kann dazu führen, dass sich manche Klienten in der realen therapeutischen Beziehung allein gelassen bzw. nicht ernst genommen fühlen. Eine nicht selten mehrjährige Behandlungsdauer kann zudem eine Unzufriedenheit hervorrufen, die dann zu realen Widerstandstendenzen auf Seiten des Klienten führen wird, wenn ein spürbarer Behandlungserfolg ausblieb (vgl. dazu Eschenröder, 1986, Kap. 11). Doch es sind nicht allein solche Einwände, die zu einer Relativierung der Bedeutung von analytischen Langzeittherapien geführt haben. Es waren auch reale ökonomische Gegebenheiten, die diese Bedeutung in den letzten Jahren zunehmend in Frage gestellt haben. Nachdem nämlich, zunächst in den Vereinigten Staaten, die Versicherungen dazu übergegangen sind, nur eine stark begrenzte Anzahl psychotherapeutischer Leistungen zu erstatten, kam es auch im Bereich der Tiefenpsychologie zu einer verstärkten Hinwendung gegenüber kurzzeittherapeutischen Verfahren (vgl. Goleman, 1981).

Ein besonderes Interesse fand dabei die Fokaltherapie (vgl. Balint et al., 1972; Malan, 1965), die sich gezielt auf bestimmte »Kernkonflikte« einstellt, die »die Basis der Deutungsarbeit« (Malan, 1976, S. 68) bilden. Auf einen solchen »Fokus« nimmt der Therapeut konsequent und selektiv Bezug, wobei auf Abwehrtendenzen wenig Rücksicht genommen wird. Der Patient soll (entgegen den Regeln der analytischen Standardmethode) gezielt - und so schnell wie möglich - mit allen Gefühlen, die mit dem fokussierten Konflikt zusammenhängen (z.B. Ärger, Angst, Wut, Traurigkeit) konfrontiert werden (Sifneos, 1973, S. 115).

Waren zunächst von manchen Analytikern schwerwiegende Einwände gegen eine angebliche »materialistische Strömung« (Greenson, 1982, S. 401) erhoben worden, die das zunehmende Interesse an Fokaltherapien begründet haben könnte, so hat sich inzwischen eine Trendwende eingestellt. Zunehmend werden auch die behandlungstechnischen Vorteile erkannt, die sich aus einer vom Analytiker strukturierten Deutungsarbeit ergeben. So schreiben Thomä & Kächele (1989, S. 359):

»Wir betrachten den interaktionell gestalteten Fokus als zentrale Drehscheibe des [analytischen, M. T.] Prozesses und konzeptualisieren von daher die psychoanalytische Therapie als eine fortgesetzte, zeitlich nicht befristete Fokaltherapie mit wechselndem Fokus.«


Der Fokus als zentrales Thema

Der zunächst ausdrücklich konfliktorientierte Ansatz der Fokaltherapie wurde später auf biographieübergreifende Zusammenhänge ausgeweitet, die eine spezifische Thematik beinhalten. Malan (1976, S. 7) verstand einen Fokus deshalb als »ein verbindendes Thema«. Thomä & Kächele (1989, S. 359) spezifizieren dies so:

»Als Indiz für eine stimmige Fokusformulierung ist es zu werten, wenn ein übergreifendes fokales Thema, z.B. unbewusste Trennungsangst, in vielfältigen Formen thematisiert wird.«

Das Konzept der Thematisierung ist für alle Formen psychodynamisch fundierter Fokaltherapien (vgl. Titze, 1995a; Titze & Salameh, 1995) von herausragender Bedeutung. Als Beispiel lässt sich die teleoanalytische Kurzzeittherapie (Titze, 1979, 1985) anführen, die aus der Individualpsychologie Alfred Adlers hervorgegangen ist. Zugrundegelegt ist dabei ein biographieübergreifendes Prozessmodell, das gezielt solche Inhalte fokussiert, die für das genuine »Apperzeptionsschema« (Titze, 1995b) eines Klienten bestimmend sind. Der Begriff Apperzeptionsschema nimmt dabei auf frühe (d. h. grundsätzlich auch präverbale) Attribuierungsprozesse Bezug, die dem Kleinkind - im Zuge einer durch und durch subjektiven »Stellungnahme« - als Grundlage für eine primäre Meinungsbildung gedient haben. Daraus entstehen »affektlogisch« (Ciompi, 1982) fundierte aktionale Prädispositionen für ein zielgerichtetes Verhalten. Diese sind in eine biographieübergreifende, »lebensstiltypische« Organisation integriert.

Innerhalb dieser Struktur lassen sich bestimmte »primäre Themen« identifizieren, die die schon erwähnten Prädispositionen in einer präreflexiven, d. h. häufig »unverstandenen« Weise zum Ausdruck bringen. Diese Themen sind biographieübergreifend. Sie lassen sich nicht nur in frühen Phasen der entsprechenden Lebensgeschichte nachweisen, sondern auch in der aktuellen Gegenwart sowie in der Unmittelbarkeit der psychotherapeutischen Interaktion. Damit stellen primäre Themen einen Verweisungszusammenhang her, der das Hier und Jetzt der therapeutischen Situation mit vergangenen Phasen der Lebensgeschichte dynamisch in Beziehung setzt. In diesem Zusammenhang bietet sich der Vergleich mit einem sinfonischen Werk an, in dem eine bestimmte Tonabfolge erkennbar bleibt, auch wenn diese vielfach variiert wird. Sie entspricht dem zentralen Thema eines »Lebensstils« (Adler, [1929] 1981), der sich durch die Lebensgeschichte hindurchzieht und in entsprechende primäre Themen verästelt. Der Therapeut wird dieses »Leitmotiv« im Auge behalten müssen. Er wird es in allen Lebensäußerungen des Klienten, seinen (non)verbalen Mitteilungen, seinen Phantasien, Träumen und Symptomen, aufzufinden haben. Das zentrale Thema ist auch mit dem Pulsschlag vergleichbar, der an verschiedenen Arterien des menschlichen Körpers Gleicher Weise fühlbar ist. Lässt er sich an einer Stelle nicht ermitteln, so kann er anderswo nachgewiesen werden. Damit folgt das zentrale Thema einem lebensstiltypischen Bewegungsgesetz, das Adler ([1933]1983, S. 33) wie folgt definiert:

»1. Jedes Individuum hat seit frühester Kindheit sein eigenes, einmaliges Bewegungsgesetz, das alle seine Funktionen und Ausdrucksbewegungen beherrscht und ihnen die Richtung gibt.

2. Das Bewegungsgesetz und seine Richtung stammen aus der schöpferischen Lebenskraft des Individuums und benutzen in freier Wahl die Ergebnisse der Körperlichkeit und der Einwirkungen von außen [ ... ]

3. Die Richtung der seelischen Bewegung zielt immer auf eine millionenfach verschiedene Überwindung von Schwierigkeiten aller Art, hat also ein Ziel der Vollkommenheit, der Sicherheit, der Vollendung, stets im Sinne der Meinung des Individuums. Sinn und Meinung sind fast nie gedanklich oder begrifflich zur Darstellung gebracht, bilden sich auch, wie bei sprachlosen Lebewesen, meist in einer Lebensphase des Kindes, in der Sprache und Begriffe fehlen oder mangelhaft sind.«

Wenn Adler von »Einwirkungen von außen« spricht, relativiert er deren kausale Bedeutung i. S. eines »weichen Determinismus« (vgl. Ansbacher & Ansbacher, 1972, S. 100ff.). Dies bezieht sich selbstverständlich nicht auf schwerste Traumatisierungen, wohl aber auf die Frage der subjektiven Beurteilung belastender Erlebnisse. So kann selbst eine »objektiv« relativ harmlose Welt von einem Kind zuweilen als grausam, vielleicht sogar lebensbedrohlich erlebt werden. Dies bezieht sich häufig auf jene »Minitraumatisierungen«, die sich aus subtilen Beschämungen (Nichtbeachtung, permanente emotionale Distanz, spöttische Herabsetzung) ergeben (vgl. Kühn et al., 1997; Titze, 1996). Umgekehrt gibt es Kinder, die angesichts von Lebensumständen, die einem Erwachsenen als unerträglich erscheinen mögen, ihren Lebensmut nicht verlieren. Entscheidend ist offensichtlich die subjektive Art der Stellungnahme zur Welt und ihren belebten und unbelebten Objekten. So kann die Geburt eines Geschwisterkindes bei einem Klienten traumatische Wirkungen nach sich gezogen haben, während die unmittelbare Konfrontation mit »wirklich« bedrohlichen Ereignissen (z. B. Naturkatastrophen, Verkehrsunfälle, Bombenangriffe) keine wesentlichen seelischen Verletzungen hervorrief.

Von primärer Bedeutung ist somit die lebensstilspezifische Beurteilung äußerer Einflüsse. Diese erfolgt ihrerseits im thematischen Verweisungszusammenhang biographieübergreifender Vernetzungen, die gerade solche Erfahrungen assoziativ miteinander verknüpfen, die affektiv als äquivalent erlebt wurden.

Francine Shapiro (1995, S. 32-54) spricht in diesem Zusammenhang von einem »Gedächtnis-Netzwerk«, das kognitive und affektive Elemente miteinander assoziativ verbindet. Sie hebt hervor, dass »vergangene Erfahrungen die Grundlage für gegenwärtige Dysfunktionen« (ebd., S. 43) bilden. Dabei bestehe eine durchgehende assoziative Verbindung mit jenem »Knoten« (node), der die ursprüngliche Erfahrung eines traumatisierenden Ereignisses beinhaltet. Diese Erfahrung bezieht die affektive und kognitive Dimension (i. S. von Selbstattribuierungen) mit ein und wird »physiologisch gespeichert« (ebd., S. 45). Als das eigentliche Ziel psychotherapeutischer Arbeit Sieht Shapiro (ebd., S. 48) die Ermöglichung von Verknüpfungen mit »gesünderen« Erfahrungszusammenhängen an.


«Korrigierende emotionale Erfahrungen«

Von konservativ analytischer Seite wird die Effizienz von Fokaltherapien vor allem deshalb angezweifelt, weil sich in einem relativ kurzen Behandlungszeitraum keine »emotionale Tiefe« erreichen ließe. Der Klient würde allenfalls wesentliche psychodynamische Zusammenhänge intellektuell verstehen lernen, ohne jedoch in eine Regression zu gelangen, die eine affektive Wiederbelebung jener (traumatischer) Mangelerfahrungen ermöglichen würde, die für das aktuelle Krankheitsgeschehen voll kausaler Bedeutung seien. Franz Alexander, ein Pionier der analytischen Kurzzeittherapie, hatte sich mit diesem Problem gezielt auseinanderangesetzt. Dem Einwand, Kurzzeittherapien würden lediglich einer oberflächlichen kognitiven Erkenntnisvermittlung dienen und die Übertragungsdynamik unberücksichtigt lassen, versuchte er durch das Konzept einer aktiven »Übertragungssteuerung« zu begegnen. Dies bedeutet, dass der Therapeut gezielt eine realitätsbezogene empathische Beziehung zum Klienten herzustellen sucht, die sich deutlich unterscheidet von der Qualität der ursprünglichen Beziehung zu den »versagenden, strafenden, indifferenten oder überpermissiven Eltern« (Alexander & French, 1946, S. 53). Dabei kann und soll sich beim Klienten eine »korrigierende emotionale Erfahrung« einstellen, die zu einer Beendigung der bestimmenden neurotischen Wiederholungszwänge führt.

Alexanders Grundidee basiert auf der gezielten Induktion einer positiven Übertragung auf Seiten des Klienten. Um dies zu erreichen, muss sich der Therapeut »anders verhalten« als jene Beziehungsobjekte, die ursprünglich zum Entstehen des bestimmenden Kernkonflikts beigetragen haben.

Dieses kurzzeittherapeutische Behandlungsmodell wurde von Habib Davanloo (1986) entscheidend präzisiert. Davanloo geht in Übereinstimmung mit dem psychoanalytischen »main stream« davon aus, dass eine bloße kognitive bzw. »intellektuelle« Einsicht in das psychodynamische Bedingungsgefüge des fokussierten Kernkonflikts nicht nur therapeutisch unerheblich ist, sondern auch Ausdruck einer Abwehr jener Gefühle ist, die in einen solchen Konflikt eingebunden sind. Grund für diese Abwehr ist zumeist eine (Scham-)Angst, solche schmerzhaften bzw. traumatisierenden Erinnerungen über die Bewusstseinsschwelle gelangen zu lassen, die ursprünglich zu massiven Erschütterungen des Selbstgefühls geführt hatten. Eben diese Affektabwehr thematisiert Davanloo aus der Unmittelbarkeit der therapeutischen Beziehung ohne Umschweife. Das bedeutet, dass der Therapeut zunächst konsequent die Frage zu stellen habe, wie sich der Klient fühlt (ebd., S. 110). Auf diese Frage antwortet der Klient häufig vage und unspezifisch (z. B. »ängstlich« oder »unwohl«), was Davanloo als eine subtile Widerstandsäußerung auffasst. Denn mit »derartigen Wörtern wird die echte Erfahrung von Gefühlen abgewehrt« (ebd.). Deshalb soll der Therapeut gezielt auf einer Spezifizierung bestehen, indem er etwa fragt: »Was spüren Sie (körperlich), wenn Sie sich jetzt ängstlich, unwohl, verärgert oder traurig fühlen?«

Nach Davanloos Überzeugung führt die konsequente Konfrontation des Klienten mit den von ihm unmittelbar erlebten Gefühlen dazu, dass relativ schnell ein thematischer Verweisungszusammenhang mit eben jenen seelischen Verletzungen hergestellt wird, die bislang »affektiv abgespalten« waren. Davanloo (ebd., S. 114) bemerkt (übrigens in Übereinstimmung mit Shapiro, ebd., S. 50), dass der Therapeut solange auf Deutungen verzichten solle, bis der »Durchbruch« durch die bestimmende affektive Abwehr gelungen ist. Und auch danach sollte dem Klienten nur »Einsicht in die Wege vermittelt werden, die dieser eingeschlagen hatte, um die zugrundeliegenden Gefühle und Ängste abzuwehren, die zu diesem Ziel (der Abwehr, M. T.) geführt haben« (Davanloo, ebd.). Ist dies einmal realisiert worden, so kann jener thematisierende Verweisungszusammenhang konsequent hergestellt werden, den Davanloo als »Konfliktdreieck« bzw. »personales Dreieck« bezeichnet: Denn so, wie der betreffende Klient in der Vergangenheit (V) seiner Lebensgeschichte traumatisierende emotionale Erfahrungen (z. B. mit seinen Eltern) abgewehrt hat, wird er dies auch in der aktuellen Gegenwart (A) (z. B. mit Ehepartnem oder Vorgesetzten) und der Unmittelbarkeit der therapeutischen Übertragung (Ü) tun. So können jene emotionalen Erfahrungen, die sich im Rahmen des thematisierenden ÜAV-Dreiecks ergeben, einen (korrigierenden) Prozess der »De-Repression« einleiten, der zur emotionalen Befreiung von Gefühlen führt, »die über viele Jahre verschüttet gewesen sind« (Davanloo, ebd.).


Abreaktionen

In meiner eigenen Arbeit mit der EMDR-Technik zeigte sich konsequent, dass alle Formen affektiv belastenden Materials (z. B. »ein Traum, eine Erinnerung, aktuelles Verhalten« [Shapiro, 1995, S. 491]) den »Einstieg« in thematische Verweisungszusammenhänge erlauben, die in Form von spezifischen Inhalten (visuelle Vorstellungen, häufig auch nur körperlich lokalisierbare Gefühle) miteinander verknüpft sind. Als besonders bemerkenswert erscheint mir die Tatsache, dass es dabei fast durchgehend zur Freisetzung von starken Affekten (insbesondere Angst, Trauer, Scham, hilflose Wut) kommt. Damit wird Davanloos Anliegen nachhaltig gefördert, an jene primären Gefühle heranzukommen, die - aufgrund einer neurotischen Abwehrformation - nicht unmittelbar erfahrbar sind. Der Effekt, den die EMDR-Technik bewirkt, ist nach wie vor nicht hinlänglich erklärbar (vgl. Eschenröder, 1995), doch es steht für mich fest, dass die Abwehr dabei »umgangen« wird. Shapiro (ebd., S. 168) bemerkt, dass das entsprechende Bewusstwerden von »gespeicherter dysfunktionaler Information« einerseits zur Wiederbelebung schmerzhafter Gefühle führt, andererseits aber auch eine heilsame »Abreaktion« ermöglicht.

Der Begriff Abreaktion stammt aus der Frühphase der Psychoanalyse, in der (vor allem unter Hypnose) der kathartische Effekt einer »emotionellen Abfuhr« bzw. Befreiung von Affekten angestrebt wurde, die mit traumatischen Erinnerungen zusammenhängen (vgl. Laplanche & Pontalis, 1973, S. 20). Hypnosebedingte Abreaktionen können jedoch, wie Shapiro (ebd., S. 169) bemerkt, zu dissoziativen »Flashbacks« führen, die den Klienten auch zeitlich stark belasten können. In der EMDR-Praxis verlaufen entsprechende Ahreaktionen demgegenüber kontrollierter und, wie Shapiro (ebd.) schätzt, jedoch »vier bis fünfmal schneller« als in einer Hypnose. Der Therapeut ist dabei aktiv involviert, so dass ein sichernder Realitätsbezug gewährleistet ist, der die angestrebte Desensibilisierung systematisch fördert.


Schlussbemerkungen

Die Einbeziehung der EMDR-Methode in psychodynamisch fundierte Kurzzeittherapien ermöglicht zunächst eine rasche und gut kontrollierbare Fokussierung auf emotional akzentuierte primäre Themen bzw. »Knoten« (Shapiro, 1995, S. 32ff.). Von diesen Knoten gehen Verweisungsbezüge aus, die vor allem weiteres affektives Material erschließen, daneben aber auch die verschiedensten Formen körperlicher Sensationen, bildhafter Vorstellungen (Erinnerungen, Traumfragmente, aktuelle Phantasien) sowie kognitiver Inhalte (Erkenntnisse, Urteilsschlüsse, Ideen) freisetzen. Dabei kommt es häufig zu Abreaktionen, die die traumatisierende Wirkung früher Erlebnisse neutralisieren bzw. desensibilisieren. Daneben können aber auch jene »negativen« Gefühle, die eine dissoziative bzw. selbstschädigende Wirkung (vor allem panische Angst, ohnmächtige Wut, verzweifelter Ärger, Scham) ausgeübt hatten, in solche transformiert werden, die für Selbstbehauptungszwecke konstruktiv genutzt werden können (insbesondere eine realitätsgerechte kämpferische Aggression). Schließlich erlaubt die assoziative Verknüpfung bestimmter visueller und affektiver Inhalte eine unmittelbare Einsichtnahme in therapeutisch relevante thematische Zusammenhänge, was dem Anliegen einer psychoanalytischen Durcharbeitung entspricht.


Literatur

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2. Thematisierung

[Aus: Brunner, R., & Titze, M. (Hrsg.):
Wörterbuch der Individualpsychologie München: Reinhardt, S. 496-497].
Michael Titze und Waleed A. Salameh

Adler (vgl. [1929c] 1981a) verstand es meisterhaft, verschiedenartige Charaktertypen durch die Aufdeckung eines zentralen Themas zu bestimmen. Mosak (1968) griff diese Technik auf, indem er feststellte, dass »jede individuelle Neurose vom Standpunkt solcher zentralen Themen, die sich ihrerseits von bestimmten Überzeugungen herleiten, betrachtet werden kann« (ebd. S.68). Zentrale Themen lassen sich aufgrund von Verhaltensbeobachung, der Analyse von Kommunikationsinhalten, von Sprache und Gestik, ferner durch Anwendung psychologischer Testverfahren (z. B. Kindheitserinnerungen) ermitteln.

Thomä und Kächele (1989, S. 358) weisen die »regelhaft wiederkehrenden Themen im psychoanalytischen Prozess« als »psychodynamischen Fokus« aus. Die Thematisierung entspricht dabei einem heuristischen Prozess, der dann zu »stimmigen Fokusformulierungen« führt, »wenn ein übergreifendes fokales Thema, z. B. unbewusste Trennungsangst, in vielfältigen Facetten thematisiert wird«. (ebd. S. 359)

Salameh (1986) spricht den sog. primären Themen entsprechend eine zentrale Bedeutung im Rahmen von tiefenpsychologisch fundierten Kurzzeittherapien (vgl. Alexander 1965; Davanloo 1978; Malan 1976) zu. Die Grundannahme ist, dass neurotische Verhaltensmuster ihren Ursprung in der Kindheit des Patienten haben, um im späteren Verlauf der Lebensgeschichte durch »Wiederholungszwang« bestärkt zu werden. In allen Lebenssituationen, so auch im Rahmen der therapeutischen Interaktion, finden eben diese Muster ihren charakteristischen Ausdruck. Es sind ganz bestimmte primäre Themen, die dabei variiert werden, ganz in Entsprechung zu einem Spielfilm, der den Lebensvollzug des Patienten umfasst. Der Therapeut muss diese Themen, entsprechend einem Kinozuschauer, erkennen, durchgehend im Auge behalten und thematisieren. Es gibt drei wichtige Bestimmungsmerkmale primärer Themen: 1) Die kontinuierliche Wiederholung bestimmter Interaktionsstrategien in unterschiedlichen Lebenssituationen; 2) Die Beständigkeit: Primäre Themen sind wie der Pulsschlag, der an verschieden Arterien gleicher Weise feststellbar ist. Lässt er sich an einer Stelle nicht ermitteln, so kann er anderswo nachgewiesen werden; 3) Primäre Themen sind Biographie übergreifend: Sie lassen sich in frühen Phasen der Lebensgeschichte eines Menschen ebenso nachweisen wie im aktuellen zeitlichen Zusammenhang oder in der Unmittelbarkeit des psychotherapeutischen Diskurses. Damit stellen die primären Themen einen Verweisungszusammenhang her, der das Hier und Jetzt der therapeutischen Situation mit den vergangenen Phasen der Lebensgeschichte verbindet.

Die Thematisierung als spezielle Technik (z.B. im Rahmen der Traumdeutung; vgl. Louis 1985, S. 101 ff .; B. Titze 1983; Titze 1979, S. 301 ff.) leitet sich von der eidetisch-typologischen Beschreibungsmethodik der Phänomenologie (vgl. Husserl 1913; 1976) her. Danach verweist ein jegliches Phänomen als »Gegenstand« des Bewusstseins (Noema), gleichgültig, ob es materiell, affektiv, ideell usw. gegeben ist, (co-)thematisch auf jene Vielzahl von Noemata, die am gleichen »Typus« teilhaben. Die Thematisierung entspricht somit einer Typisierung, einer intuitiven »Schau« i.S. der Ermittlung des (invariablen) Wesenskerns der entsprechenden Typik (vgl. Schütz 1972, S. 318, 326 ff). Auf den Bereich der Tiefenpsychologie angewendet bedeutet dies nichts anderes, als dass jedes Objekt, mag es realen Ursprungs oder phantasiert sein, das im Rahmen des therapeutischen Diskurses verbalisiert wird, als ein »Merkmalsträger« aufgefasst werden kann, der thematisch auf weitere Objekte verweist (Titze 1978). Die Thematisierung zielt somit auf eine systematische Bestimmung all jener Verweisungsbezüge ab, an denen die Vielzahl jener lebensstiltypischen Merkmalsträger teilhat, die im Rahmen des therapeutischen Diskurses aktualisiert werden. Thematisieren heißt demzufolge, unbewusste bzw. unverstandene Sinnzusammenhänge aufzudecken, d.h., dem bewusst reflektierenden Verstehen zugänglich zu machen (vgl. Titze 1979, S. 301 ff.; 1984, S. 71 f.; 1988, S. 47 f.).

Literatur:
Alexander, E: Psychoanalytic Contributions to Short-Term Psychotherapy. In: Wolberg, L.R. (Hrsg.): Short-Term Psychotherapy. New York 1965
Davanloo, H. (Hrsg.): Basic Principles and Techniques in Short-Term Dynamic Psychotherapy. New York 1978 [deutsch: Schlüssel zum Unbewußten. Die intensive psychodynamische Kurztherapie. München, 1995]
Husserl, E.: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. (Husserliana VI) Den Haag 1976
Louis, V.: Individualpsychologische Psychotherapie. München 1985
Malan, D.: The Frontier of Brief Psychotherapy. New York 1976
Mosak, H.H.: The Interrelatedness of the Neuroses through Central Themes. In: J. of Individual Psychol. 24 (1968) 57-79
Salameh, WA.: Humor as a form of Indirect Hypnotic Communications. In: Yapko, M. (Hrsg.): Hypnotic and Strategic Interventions. New York 1986, S. 133-188
Salameh, WA.: Integrative Short-Term Psychotherapy (ISTP) San Diego
Schütz, A.: Sprache, Sprachpathologie und Bewusstseinsstrukturisierung. In: Gesammelte Aufsätze, Bd.1. Den Haag 1972, S. 299-330
Thomä, H.; Kächele, H.: Lehrbuch der psychoanalytischen Therapie. Berlin - Heidelberg - New York 1989
Titze, B.: Einige Anmerkungen zurTechnik der freien Thematisierung. In: Z. f. Individualpsychol. 8 (1983) 180-186
Titze, M.: Objekte als Merkmalsträger bei Kindern, Schizophrenen und Angehörigen von Naturvölkern. In: Z. f. Individualpsychol. 3 (1978) 157-165
Titze, M.: Lebensziel und Lebensstil. München 1979
Titze, M.: Individualpsychologie. Ziel ist die Gemeinschaft. In: Petzold, H. (Hrsg.): Wege zum Menschen, Band 11. Paderborn 1984, S. 7-100
Titze, M.: Formen der Psychotherapie. Kurseinheit 8: Individualpsychologie. Fernuniversität Hagen 1988


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