Der »Pinocchio-Komplex«
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Man wird an jenem Tag erwachsen,
an dem es gelingt, über sich selbst zu lachen.
Ethel Barrymore
 
Ein wichtiges schambezogenes Phänomen ist die Gelotophobie, das heißt die Angst vor dem Ausgelachtwerden (vgl. Titze 2009). Hiervon sind häufig Menschen betroffen, die in ihrer Kindheit zu starken Loyalitätsanforderungen von Seiten ihrer Bezugspersonen ausgesetzt waren. Sie mussten starre Rollen übernehmen, die durch das normative Gebot definiert wurden, sich um die narzisstischen Bedürfnisse bestimmter Familienangehöriger, häufig der Eltern, in einer selbstlosen Weise zu kümmern. So durften diese Menschen nie wirklich Kinder in einem affektiv spontanen Sinne sein. Sie mussten sich so verhalten, als wären sie kleine Erwachsene, die das Wohlergehen anderer Menschen als ihre wichtigste Aufgabe ansehen. Daraus ergeben sich in der Regel unnatürlich enge Bindungen an die Familie, was wiederum unlösbare Konflikte mit Außenstehenden, gewöhnlich Gleichaltrigen, nach sich zieht. Die Eltern zwingen diesen Kindern eine überzogene und unnachgiebige normative Ideologie auf, die bestimmt, was richtig und falsch zu sein hat (Sellschopp-Rüppel & von Rad 1977, S. 358). Denn alleiniger Maßstab sind in diesem Zusammenhang die selbstbezogenen Realitätsauslegungen der Eltern. Diese verleugnen freilich ihre Selbstbezogenheit, indem sie sich dem Kind als gütig und selbstlos präsentieren. Wenn sich dieses aber weigern sollte, dieser Mystifizierung zu folgen, wird es häufig durch einen beschämenden Liebesentzug, indirekte Vorwürfe und Schuldzuweisungen gedemütigt. Carlo Collodi (1990) hat in der Gestalt von Pinocchios Feenmutter eine parentifizierende Bezugsperson beispielhaft beschrieben (vgl. Titze 2007, S. 40-44). Er beschreibt dabei in bewegender Weise, welch tiefe Beschämungen ein Kind ertragen muss, das den normativen Idealvorstellungen eines selbstbezogenen Elternteils nicht entspricht.

So wird das Kind seiner natürlichen Spontaneität beraubt und in seiner Lebendigkeit gehemmt. Es wird - dem Beispiel Pinocchios folgend - zu einer unlebendigen Spielzeugpuppe, die auf Außenstehende starr und manieriert wirken kann. Dies wirkt auf die Sozialpartner verständlicherweise »komisch«. Nicht selten reagieren diese mit einem Verlachen, das auf längere Sicht traumatisierend wirken kann und zur Herausbildung einer »Gelotophobie führt. Die Folge ist ein oft weitreichendes Vermeidungsverhalten, das den (ohnehin schon eingeschränkten) Umgang mit den Mitmenschen zunehmend erschwert. Eine Spätfolge davon ist der reduzierte Erwerb sozialer Kompetenzen (common sense, »gesunder Menschenverstand«), so dass die Betroffenen im sozialen Leben als Fremde unter Fremden erscheinen. Dies führt dazu, dass der Teufelskreis traumatisierender Beschämungen wieder und wieder aktiviert wird. Gerade in der Pubertät kann es dann zur Auslösung manifester Schamängste und Schamdepressionen kommen, die eine Tendenz zur Chronifizierung besitzen, so dass sich in vielen Fällen in späteren Jahren massive existenzielle Beeinträchtigungen ergeben.

Der Schlüssel zum Verständnis und zur Behandlung einer manifesten Gelotophobie ist das Lachen. Denn einerseits haben die betreffenden Menschen niemals gelernt, das Lachen in seiner affektiv positiven Bedeutung zu schätzen bzw. als Mitvoraussetzung für eine Lebenshaltung zu nutzen, die von Freude, Heiterkeit und Ausgelassenheit geprägt ist. Andererseits wurde das Lachen der Mitmenschen, selbst wenn es durchaus nicht aggressiv gestimmt war, als eine tiefgreifende Bedrohung des eigenen Selbstwertgefühls erlebt. Dies führte insgesamt dazu, dass das Lachen im Leben dieser Menschen keine positive Bedeutung besitzt. Eine wirksame Therapie sollte in diesem Fall helfen, (a) die Furcht vor dem Ausgelachtwerden zu überwinden und (b) Möglichkeiten eröffnen, (wieder) in einer natürlichen Weise zu lachen.

 
Das Humordrama
Der Humor trägt die Seele über Abgründe
hinweg und lehrt sie,
mit ihrem eigenen Leid zu spielen.
Anselm Feuerbach

Das Humordrama wurde als eine spezifische Methode zur Behandlung des »Pinocchio-Syndroms« bzw. der Gelotophobie entwickelt (vgl. Titze 2007, Kap. 13). Schon vor 30 Jahren haben die Familientherapeuten Sellschopp-Rüppell und von Rad (1977) eine therapeutische Vorgehensweise vorgeschlagen, die auf szenische Mittel zurückgreift. Das ist im Rahmen einer Gruppentherapie, die nicht allein auf verbale Methoden zurückgreift, am ehesten möglich. Die Voraussetzungen, die das Psychodrama bietet, stellen dabei eine generelle Basis bereit. Allerdings wird im Humordrama konsequent mit den Mitteln des therapeutischen Humors gearbeitet. Das heißt, alle therapeutischen Interventionen dienen der Relativierung normativer Man-muss-Vorstellungen, die sich von einem starren Dressurgewissen ableiten. Dieses Gewissen entstand in einer frühen Phase der Sozialisation, als sich der betreffende Mensch mit den normativen Idealen seiner Bezugspersonen identifizieren musste, damit er das Fundament seiner sozialen Identität entwickeln konnte. Gerade bei Menschen, die parentifizierenden Einflüssen ausgesetzt waren, sind diese Man-muss-Vorstellungen in einer unrealistischen Weise verzerrt. Sie bringen z.B. unangemessene altruistische Sollens-Forderungen zum Ausdruck, die nur scheinbar Äußerungen von Mitgefühl sind. (Beispiel: »Ich darf niemanden enttäuschen«; »Ich muss es jedem recht machen«; »Ich muss immer nachgeben!«)

Diese verabsolutierenden Man-muss-Vorstellungen können nun so weit überzogen werden, bis sich ihre entsprechende Aussage als absurd oder lächerlich erweist. (Beispiel: »Bemühen Sie sich in diesem Rollenspiel nicht nur mit Worten, sondern mit ihrer ganzen Körperhaltung uns allen zu zeigen, dass Sie jemand sind, der es wirklich geschafft hat, es jedem recht zu machen!«) Somit werden jene Charakterzüge des Protagonisten, die zu seinem »komischen« Erscheinungsbild wesentlich beigetragen haben, mit größtmöglichem Enthusiasmus gutgeheißen. Dies geht nicht allein vom Therapeuten aus, sondern wird von der gesamten Gruppe mit begeistertem Beifall belohnt. Ziel dieser Vorgehensweise ist es, lebensgeschichtlich festgefahrene Verhaltensweisen, die nicht genuin selbstbestimmt sind, konsequent so zu überziehen, bis sie sich selbst ad absurdum führen.


Der therapeutische Clown

Im Humordrama fungiert ein »therapeutischer Clown« als Co-Therapeut. Seit jeher war der Clown bzw. »Schelm« Symbolfigur für eine Lebenseinstellung, die sich an den affektiven Impulsen ursprünglichen Kindseins orientiert (vgl. Titze 2007, Kap. 14). Im Sinne der Psychoanalyse lebt der Clown bedenkenlos das »Lustprinzip« aus. Dabei steht er in einer ständigen trotzigen Opposition gegenüber den normativen Sollensforderungen des Erwachsenenlebens bzw. des »Realitätsprinzips«. Alles, was der Clown versinnbildlicht, gehört auch zur Erlebniswelt eines kleinen Kindes: Es sind dies eine motorische Unbeholfenheit und Tolpatschigkeit, eine Unvernunft (die aus der Erwachsenenperspektive dümmlich erscheinen mag), das lustvolle Ausleben sadistischer und obszöner Impulse sowie eine verbale Unvollkommenheit, die sich in einem komischen Stammeln und Radebrechen kundtut.

Es gibt verschiedene Clown-Figuren. Manche - wie etwa der Weißclown (Harlekin, Pierrot, Grazioso) - verfügen über jene Kompetenz, die für das kleine Kind untypisch ist. Doch der »Minimalclown«, der in der Figur des Hanswurst oder Dummen August versinnbildlicht ist, ist gerade für Kinder eine anziehende Identifikationsfigur. Dieser Clown agiert auf der Stufe eines Kleinkindes, das noch nicht richtig sprechen kann und das seine Körperfunktionen noch nicht richtig beherrscht. Damit wirkt er komisch, ohne sich dessen freilich zu schämen. Ganz im Gegenteil zieht er aus seiner Unvollkommenheit ein großes Maß Befriedigung. Dies ist die vielzitierte »Lust am Scheitern« (vgl. v. Barloewen 1981; Fried & Keller 1991, 1996).

Der Minimalclown gefällt sich in der Rolle des unbelehrbaren, trotzigen »Gegenteilers«: »Er benimmt sich töricht, lässt sich nicht belehren und, was vielleicht das wichtigste ist, er steht immer wieder auf mit einem selbstüberzeugten Lachen auf dem Gesicht, steigt über seine Trümmerhaufen hinweg und versucht's aufs Neue.« (Fried & Keller 1991, S. 162)

Das ist der Grund, weshalb sich der Minimalclown als Identifikationsobjekt »un-verschämten« Kindseins geradezu anbietet. Denn das beschämende Gebot einer perfektionistischen Erziehung »Du sollst besser sein als du bist!« erweist sich für ihn als belanglos. Er nimmt sich, so wie er ist, bedenkenlos an und scheint daraus ein gehöriges Maß an lustvollem Selbstvertrauen zu schöpfen.

Die rote, auffällig deformierte Nase ist das wohl wichtigste Ausdrucksmittel des Minimalclowns. Er trägt diese Nase, um zu zeigen, dass für ihn die Kategorien von Macht und Ohnmacht hinfällig sind. Auf dieses Ausdrucksmittel greift auch das Humordrama zurück. Die Clownsnase gilt hier als das Mittel für die Ausklammerung eines idealnormativen Erwachsenseins, das vom perfektionistischen Anspruch bestimmt wird, »alles besonders gut machen zu müssen«. Sobald sich ein Klient aber die rote Clownsnase aufgesetzt hat, nimmt er die Identität des Minimalclowns an, dessen Bestimmungszweck allein darin liegt, »alles weniger gut« zu machen. Damit wird die Rolle eines kleinen Kindes angenommen, dessen Können sich in einer anderen Sphäre entfaltet. Es ist die Identität einer »un-verschämten« Haltung, die vom therapeutischen Clown, der als ein Minimalclown agiert, unentwegt vorgelebt wird. Damit erweist sich dieser als das Ebenbild eines unverletzten bzw. »un-verschämten« Kindes. Er spielt dem betreffenden Protagonisten dabei vor, was es heißt, sich bedenkenlos über starre Man-muss-Ideale hinwegzusetzen bzw. im Sinne normativen Erwachsenseins lustvoll zu scheitern. So kann er dem Protagonisten zum Beispiel Botschaften zuflüstern, die so respektlos und widersinnig sind, dass sie in aller Regel belustigend wirken bzw. eine Humorreaktion auslösen.

Im Humordrama geht es zunächst um die Schilderung schamauslösender Situationen, die dabei in einen lebensgeschichtlichen Zusammenhang gestellt werden. Dies entspricht der allgemeinen Methodik einer aufdeckenden Psychotherapie. So werden verschiedene Stationen der Schamentstehung erkennbar. Sie sind Glieder einer Kette, die sich aus der aktuellen Gegenwart, im Hier und Jetzt der Gruppensituation, über die Jahre hinweg bis in die Beziehungsstruktur der Herkunftsfamilie hinein verfolgen lassen. Fokussiert wird dabei die Angst, sich »danebenzubenehmen«, etwas Falsches zu sagen, dadurch unangenehm aufzufallen usw. Daraus resultierte für die Betroffenen gewöhnlich das kompensatorische Bestreben, die eigenen Mängel zu überspielen, sich »besser«, d. h. souveräner, unauffälliger oder eben »normaler« zu verhalten. Doch sobald die Clownsnase aufgesetzt wird, ist das Gegenteil angesagt: Die verschiedenen Stationen der Schamentstehung werden nun mit den Mitteln des Minimalclowns in Szene gesetzt.

Der therapeutische Clown steht dem jeweiligen Protagonisten dabei hilfreich zur Seite. Er sorgt vor allem dafür, dass das selbstkontrollierende rationale (Erwachsenen-) Denken ausgeklammert bleibt. Dies erreicht der Clown dadurch, dass er den Protagonisten mit den verschiedensten Mitteln ablenkt: So kann er ihn unter den Arm greifen und mit ihm kreuz und quer durch den Raum laufen, mit ihm hüpfen oder ihn tanzen lassen. Er kann den Protagonisten auch veranlassen, »chinesisch« oder »kisuaheli« zu sprechen: All dies wirkt ablenkend und belustigend zugleich!

Immer wieder macht der therapeutische Clown dem Protagonisten vor, wie sich ein Minimalclown zu verhalten hat: Er verlangsamt z.B. die Gestik so stark, dass die Bewegungen des Kopfes und der Extremitäten wie im Zeitlupentempo erfolgen. Er macht kleine, unbeholfene Schritte (was anfangs auch dadurch gefördert werden kann, dass die Füße durch eine Schnur aneinander gebunden werden). Dem Beispiel des Hampelmanns Pinocchio entsprechend kann der therapeutische Clown dem Protagonisten auch vormachen, mit durchgedrückten Armen und Knien hin und her zu gehen, so dass die Körperbewegungen ebenso komisch wirken wie die einer hölzernen Marionette oder wie die unbeholfenen Gehversuche eines kleines Kindes! Wenn der Protagonist spricht, wird der therapeutische Clown dafür sorgen, dass der Redefluss verändert wird. Um das zu erreichen, hat er dem Protagonisten vielleicht zuvor einen kleinen Schluck Wasser zu trinken gegeben, der aber mit der Zunge im Oberkieferbereich gehalten werden muss. Oder er weist ihn an, die Zungenspitze zwischen die Zähne zu stecken. Das führt dazu, dass die Aussprache im wahrsten Sinne des Wort verwaschen klingt! Eine andere Möglichkeit ist, in übertriebener Weise zu nuscheln, zu näseln oder den Redefluss bewusst zu verändern, so dass die Worte gestammelt werden oder die Sprechgeschwindigkeit bewusst so verlangsamt oder beschleunigt wird, als würde eine Schallplatte mit der jeweils nicht angemessenen Laufgeschwindigkeit abgespielt werden. Auch hier wird ein Bezug zu den ersten Sprechversuchen eines Kleinkindes hergestellt.

Unsere bisherige Erfahrung hat gezeigt, dass diese Vorgehensweise recht schnell an die Wurzeln jener expansiven Affekte heranführt, die durch Schamangst abgewehrt bzw. überdeckt wurden. Das besondere Setting des Humordramas fördert diese Freisetzung von Impulsen kämpferischer Selbstbehauptung. Wenn, um nur ein Beispiel zu nennen, der Protagonist im Rahmen eines Rollenspiels mit schamprovozierenden Bezugspersonen konfrontiert wird, wird dieser vom therapeutischen Clown so konsequent zu einer gegenprovokativen Haltung angeregt, dass die lebensgeschichtlich gewachsenen Hemmungen (die auf einer rationalisierenden Selbstkritik aufbauen) gar nicht zum Tragen kommen können. Denn eine wesentliche Voraussetzung dafür ist das bewusste Reflektieren dessen, was die normativen Vorhaltungen, moralisierenden Vorwürfe oder auch die nonverbalen Äußerungen von Ablehnung bedeuten könnten. Diese selbstkritische Reflektion verunmöglicht der therapeutische Clown, wenn er dem Protagonisten z.B. unaufhörlich respektlose Bemerkungen über persönliche Schwächen der betreffenden Gegenspieler ins Ohr flüstert, unverschämte »Faxen« macht oder stereotyp einen bestimmten »Kraftausdruck« von sich gibt. Dadurch wird das rationalisierende Erwachsenendenken gleichsam blockiert, so dass sich ein eingefahrener schambezogener Teufelskreis nicht mehr aufbauen kann. Dies soll an einem Beispiel veranschaulicht werden:
    Herbert S. (Jahrgang 1963) leidet unter einer multiplen Versagensproblematik. In formalen Gesprächssituationen beginnt er zu schwitzen, er spürt, wie sein Herz zu rasen beginnt und er Atemnot bekommt. Der bloße Gedanke, jetzt sprechen zu müssen, ruft Panik hervor. Ähnliche Ohnmachtsempfindungen treten auf, wenn Herbert vor den Augen eines kritischen Bankangestellten oder Hotelportiers ein Formular unterschreiben soll, oder wenn er bei einem Bankett den Suppenlöffel oder Kaffeetasse zum Mund führen will (die Hand könnte ihm zittern!), um nur einige der Hauptprobleme zu nennen.
    Herbert war als nichteheliches Kind bei seinen Großeltern aufgewachsen. Von diesen wurde er »notgedrungen« versorgt, wie er sich selbst äußerte, da sie seine Geburt offensichtlich als Schande erlebt hatten. Das Gefühl, »nicht daseinsberechtigt« zu sein, wurde ihm vor allem nonverbal vermittelt. Bei jeder noch so kleinen Verfehlung seinerseits habe ihn der vernichtende Blick der Großmutter getroffen. Dieser Blick sei ihm »durch Mark und Bein gegangen«.
    Herbert fielen noch weitere Menschen ein, vor deren Angesicht er sich ähnlich wertlos und ungeliebt fühlte, wie dies bei der Großmutter der Fall war: Eine frühere Lehrerin und sein jetziger Vorgesetzter. Nachdem drei Gruppenteilnehmer diese Rollen übernommen hatten, wurde eine Situation in Szene gesetzt, die in Herberts Kindheit über lange Zeit besonders konfliktträchtig gewesen war: Beim gemeinsamen Mittagessen mit den Großeltern wurde ihm regelmäßig vorgeworfen, beim Kauen schmatzende Geräusche zu machen. So sehr er sich auch bemüht hatte, dies zu vermeiden, so war es ihm offensichtlich niemals gelungen, wirklich geräuschlos zu essen.
    Mit dieser »Verfehlung« wurde er von seinen drei Gegenspielern humordramatisch konfrontiert. Diese hatten die Aufgabe, ihm stereotyp zuzurufen: »Iss endlich leise! Merkst du denn nicht, dass du ekelhaft bist!«
    Zunächst schien Herbert wie erstarrt. Mit weit aufgerissenen Augen hörte er sich diesen Vorwurf an. Doch allmählich begann er den unverschämten Einflüsterungen des therapeutischen Clowns Gehör zu schenken. Seine Gesichtszüge hellten sich auf. Er begann vernehmlich zu schmatzen. Allmählich ging er dazu über, feixend Geräusche von sich zu geben, so als müsste er sich übergeben. Dies führte dazu, dass einige der nicht beteiligten Gruppenmitglieder zu lachen begannen. Nun begann Herbert zu rülpsen und, kurze Zeit später, Darmgeräusche zu imitieren. Dazu drehte er sich (zusammen mit dem Clown) mit gebeugtem Oberkörper um die eigene Achse, so dass ihre beiden Gesäße in Richtung der »Gegenspieler« zeigten. Die Stimmung wurde immer ausgelassener. Schließlich entfernte sich der therapeutische Clown. Zuvor hatte dieser Herbert einen deftigen Tipp gegeben: Stereotyp und lautvernehmlich »Leckt mich am ...« zu rufen! Als Herbert dies in die Tat umsetzte, spürte jeder der Anwesenden, wie seine Lebensgeister beflügelt wurden. Die Körperhaltung straffte sich, die Stimme wurde immer lauter und fester und der zuvor angespannte Gesichtsausdruck lockerte sich immer mehr auf. Schließlich ging Herbert lachend auf seine Widersacher zu, um sie nacheinander fest an sich zu drücken.

Nach etwa zehn Monaten schrieb Herbert in sein Therapietagebuch:

    »Sprechen war für mich mit großen Ängsten und Scham verbunden. Ich fühlte mich gegenüber Kollegen und Bekannten in einer für mich unerträglichen Weise unterlegen. Sobald ich mich dabei ertappt habe, zu lispeln oder zu stottern, überkam mich eine tiefe Verzweiflung, die meine Gehemmtheit noch weiter steigerte. In den vielen Clownsübungen, die ich inzwischen durchgeführt habe, konnte ich jedes Mal die gleiche befreiende Erfahrung machen: Ich konnte erleben, dass ich mit Lust und Ulk das absichtlich produzieren darf, was mir bislang wie ein fremder Zwang erschien. Das Gelächter, das ich dabei hervorrufe, geht nicht mehr gegen mich. Es ist Anerkennung für meinen Erfolg als Komiker.«

Dieses Beispiel zeigt, dass die ungehemmte Freisetzung einer lustvoll erlebten Aggressivität eine wesentliche Voraussetzung für das Zustandekommen der Humorreaktion ist. Der folgende Eigenbericht einer 42-jährigen Klientin belegt, wie sich dieser Effekt bis ins Alltagsleben hinein auswirkt:

    »Schon in einer der ersten Gruppensitzungen brachte ich mein großes Problem ein: Die Eröffnung eines Elternabends! Dabei habe ich seit etwa zwei Jahren die folgenden Probleme: Sprachstörungen, Herzrasen, Mundtrockenheit, Atemnot und vor allem die Angst durchzudrehen. In einem Rollenspiel sollte ich einen Elternabend eröffnen. Die übrigen Anwesenden spielten aufmüpfige, kritisierende, schimpfende Eltern. In meiner eigenen Rolle als Lehrerin musste ich alle meine Symptome auf möglichst komische Weise verstärken. Während ich versuchte, diese Hinweise auf meine Schamangst überdeutlich werden zu lassen, während die vor mir sitzenden 'Eltern' ebenfalls ihre Rolle hervorragend spielten, stieg eine unglaubliche Wut in mir hoch. Sie wurde noch verstärkt durch den therapeutischen Clown. Dieser machte die absonderlichsten Grimassen und stachelte mich mit allen Mitteln seiner Kunst auf. Ich war gar nicht mehr in der Lage, auf seine Worte, die im Stakkato auf mich niederprasselten, zu hören. Ich spürte nur noch meinen Kampfgeist.
    Wochen später befand ich mich tatsächlich in dieser Situation. Es war ein Elternabend. Ich stand vor den Menschen - und hatte wieder das Rollenspiel vor Augen. Ich spürte wieder meinen Kampfgeist, sah mich in der Rolle des frechen Clowns und hörte mich selbst sagen: 'Liebe Eltern, ich stehe hier vor Ihnen voller hoffnungsloser Schamangst...' Und ich sagte dies mit einer klaren, festen, energischen Stimme! Wie ich sie dann ungläubig lachen sah, wusste ich, dass ich gewonnen hatte. Denn sie lachten nicht über mich selbst, sondern über einen Witz, der wohl wirklich gelungen war. Den weiteren Verlauf des Abends konnte ich selbstbewusst und ungehemmt gestalten.«

Nachäffen

In der therapeutischen Arbeit mit schamgebundenen Klienten geht es vor allem um die Auflösung einer Gehemmtheit, die lebensgeschichtlich gewachsen ist. Diese Gehemmtheit äußert sich insbesondere in einer Neigung, normativ unangemessene Verhaltensweisen skrupulös zu reflektieren - also »zu viel zu denken«! Dadurch kann sich eben jene Spontaneität, die ein humorvolles Handeln kennzeichnet, nicht zwanglos entfalten. Sie wird durch ein selbstkontrollierende Denken gehemmt, das häufig auch zu einer körperlichen Verkrampfung führen kann, die dann ihrerseits zum Gegenstand beschämender Selbstbeobachtung wird (»Pinocchio-Komplex«). Eine wesentlicher Grund dürfte die einseitige Ausrichtung an Idealnormen sein, die im Rahmen der Sozialisation vermittelt wurden. Gehemmte Menschen wurden gewöhnlich besonders »gut« erzogen! Sie messen dem »Ernst des (Erwachsenen-)Lebens« daher eine besondere Bedeutung zu. Dabei haben sie es nachgerade verlernt, sich (zumindest gelegentlich) so zu verhalten wie ein ungezogenes Kind: affektiv spontan und normativ unangepasst. Aber gerade dies ist die Voraussetzung für humorvolle Wirkungen!

So ist die (ganz konkrete) Wiederbelebung von Verhaltensweisen, die zum »ungezogenen Kindsein« gehören, ein zentrales Anliegen in der Arbeit mit therapeutischem Humor. Ein Beispiel dafür ist das freche »Nachäffen« von Rollenspielpartnern, die im Humordrama Autoritätspersonen (Eltern, Vorgesetzte, Amtspersonen usw.) darstellen. Eine 38-jährige Humordrama-Teilnehmerin beschrieb diese (von ihr selbst spontan entdeckte) Methode im Hinblick auf ihre Erfahrungen mit therapeutischer Clownsarbeit:

    »Der Clown hat es gut. Was immer er sagt, tut, er muss nie das Lachen der anderen fürchten. Denn sein erklärtes Ziel ist, das Lachen der anderen auf sich zu lenken. Oh, wäre ich doch ein Clown! Dann könnte ich mich ganz ungehemmt geben, so oft ich wollte. Weshalb der Clown in mir die Assoziation 'Affe' auslöst, weiß ich zur Stunde noch nicht. Vielleicht nur deshalb, weil der Affe beim Publikum dasselbe auslöst wie der Clown: Gelächter. - Heureka!
    Aber, ach, der Clown genießt am Hofe der Könige auch nur eine Narrenfreiheit, die auf der Tatsache beruht, dass er - wie das freche Kind auch! - den 'richtigen Erwachsenen' halt doch nicht ebenbürtig ist. Also ist die Entscheidung, zum affenähnlichen Clown zu werden mit dem Preis verbunden, nicht ebenbürtig zu sein. Da ich aber auch als angepasste, überbemühte »Normale« ohnehin nie ebenbürtig war, ist diese Entscheidung nur konsequent. - Der Affe, der die scheinbar Überlegenen nachäfft (und dadurch Gelächter hervorruft), wird so selbst zum Überlegenen. Dies empfand ich kürzlich, als ich mit einer bedrohlichen Autoritätsperson konfrontiert war. In meiner Not griff ich auf das Mittel des Nachäffens zurück - und wurde so zu jenem Kind, das ich in Wirklichkeit nie sein durfte. Das mimische Nachäffen führen uns selbstbewusste Kinder und Jugendliche bei allen Gelegenheiten vor; verbales Nachäffen vernahm ich aus Schülermund, als ich Zeugin war, wie Lehrer lächerlich gemacht wurden.
    Wenn es nun auch mir, als Erwachsener, gelänge, das zu tun, was selbstbewussten Kindern und Clowns gelingt, nämlich Autoritätspersonen, die mich ängstigen, nachzuäffen und auszulachen, von ihrem Podest herunterzuholen und so für mich nicht mehr bedrohlich erscheinen zu lassen: dann könnte ich vielleicht - irgendwann - doch ebenbürtig werden!
    Doch leider passt dieses selbstbewusste Verhalten nicht in die Rolle meines normalen Erwachsenseins. Also müsste ich mich entscheiden, von meiner Umwelt als nicht normale Erwachsene angesehen zu werden, sondern als »verrückt« und »kindisch«. Doch habe ich eine andere Wahl? Kann ich meine Integrität anders bewahren, als im Nachäffen den Bumerang der Beschämung an den Beschämenden zurückzuwerfen?«

In diesem Erfahrungsbericht zeigt sich, wie schwierig es ist, eine humorvolle Haltung zu erwerben. Klienten mit einer spezifischen Schamproblematik fürchten seit jeher die Konfrontation mit Autoritätspersonen, die - so wie es einst die eigenen Erzieher taten! - Anstoß nehmen könnten, an einem normativ unangemessenen Verhalten. So werden die eingefahrenen gehemmten Verhaltensweisen häufig beibehalten, obwohl dem betreffenden Klienten (z.B. aufgrund eines entsprechenden Erkenntnisgewinns im Rahmen einer aufdeckenden Psychotherapie) bewusst ist, dass dies Ursache der gegebenen beschämenden Gehemmtheit ist. Wem es freilich gelingt, sich in bestimmten Problemsituationen konsequent so zu verhalten wie ein ungezogenes Kind dies tun würde, der kann in einer ungezwungen spielerischen Weise erleben, dass dies sehr häufig zur Auslösung einer Humorreaktion führt. Dabei können kreative Energien freigesetzt werden, die jene humorvolle Konfliktfähigkeit ermöglichen, die das eigene Selbstwertgefühl ganz spontan fördert. Im Rahmen eines Humordramas lässt sich dieser Übungseffekt besonders gezielt realisieren.


Literatur:
Barloewen, Christian von (1981) Clown. Zur Phänomenologie des Stolperns. Königstein, Athenäum
Collodi, C. (1990) Pinocchios Abenteuer - Le Avventure di Pinocchio. Frankfurt, Frankfurter Verlagsanstalt
Fried, A. & Keller, J. (1991) Humor und Identität. Frankfurt, Haag + Herchen
Fried, A. & Keller, J. (1996) Faszination Clown. Düsseldorf, Patmos
Sellschopp-Rüppell, A. & v. Rad, M. (1977) Pinocchio - a psychosomatic syndrome. Psychotherapy and Psychosomatics, 11, 355-358
Titze, M. ([1995] 2007) Die heilende Kraft des Lachens. Frühe Beschämungen mit Therapeutischem Humor heilen. München, Kösel
Titze (2009) Gelotophobia: The fear of being laughed at. Humor: International Journal of Humor Research, 22 (1-2), 27-48

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