Michael Titze: »Verrückt gewordene Vernunft. Die Welt des therapeutischen Humors«

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Aus: Kerbe. Forum soziale Psychiatrie. 2022/3, S. 22–24

 
 

Hat ein humoriger Nonsens in der Psychiatrie seinen Platz? Lange Zeit war das kaum denkbar, da sich die traditionelle Seelenheilkunde am Ideal des rationalen Erwachsenen orientiert, der sich die objektive Wirklichkeit zu erschließen weiß. Darin unterscheidet er sich von kleinen Kindern, aber auch jenen Erwachsenen, die Wahrheit und Fiktion nicht unterscheiden können.
Das Konzept einer einzig wahren Wirklichkeit hat der Konstruktivismus(1) inzwischen revidiert. Als »wirklich« erscheint dem normalen Erwachsenen demnach nur das, was von der Mehrzahl der Mitmenschen als glaubhaft eingeschätzt wird. Weil kleine Kinder noch nicht über den entsprechenden Gemeinsinn verfügen, folgen sie weitgehend ihrem individuellen Eigensinn. Damit können sie die Gegebenheiten ihrer Lebenswelt nach Lust und Laune auslegen. Eine ähnlich lockere Auslegung der Realität finden wir bei humorigen Menschen, surrealistischen Künstlern, spirituellen Sehern und nicht wenigen Psychiatrie-Erfahrenen. Sie alle zeichnen sich durch einen exzentrischen Lebensstil aus, der von Rollenzuweisungen der Gesellschaft abgekoppelt ist. 1906 hat der berühmte Karikaturist Alfred Arnold dies im Satiremagazin »Simplicissimus« veranschaulicht: Danach bedarf der weder eines besonderen komischen Talents noch einer fulminanten Witzigkeit. Was ihn aber in jedem Fall auszeichnet, ist seine eigensinnige Haltung!

Die komische Lebenswelt des Kindes
Die Welt des Kindes ist viel kleiner und bescheidener als die Welt der Erwachsenen, in die es allmählich hineinwachsen muss. Kinder brauchen sich schon deshalb nicht viele Gedanken über das Leben zu machen, weil sie weder über ein umfangreiches Wissen noch über besondere Fähigkeiten des Verstands verfügen. So können sie auch nicht zu jenen Schlussfolgerungen gelangen, die den »Ernst des Lebens« definieren.
Die Lebenswirklichkeit des Kindes unterscheidet sich vor allem in emotionaler Hinsicht von derjenigen eines Erwachsenen. In der Regel empfinden psychisch gesunde Kinder weit mehr Spaß, Spielfreude und Heiterkeit. Eine statistische Erhebung hat ermittelt, dass Vorschulkinder bis zu 400 Mal am Tag lachen – mindestens zehn Mal mehr als Erwachsene! Die Erklärung ist eigentlich naheliegend: Das Leben des Kindes entspricht einer affektive Kür, die von den rationalen Pflichten des Erwachsenenlebens wenig beeinflusst wird. Denn Kind sein heißt, einfach im Hier und Jetzt zu leben.
Mittlerweile interessiert sich auch die Psychologie für die Lebensführung des (inneren) Kindes. Ein Grund könnte die Grenzöffnung der Postmoderne(2) zur Lebenswelt eines (im selbstbestimmten Sinne) unangepassten Kindes sein. (Astrid Lindgren hat ihm mit ihrer »Pippi Langstrumpf« ein Denkmal gesetzt!) Dieses unmanierliche Kind hat sich einen Zugang in die normale Alltagswelt verschafft, in der inzwischen viele jener gesellschaftlichen Vorschriften relativiert werden, die einst allgemein verbindlich waren. Dies bezieht sich ebenso auf den Sprachgebrauch wie die Bekleidung. Das was früheren Generationen noch als unmöglich erschienen wäre, gilt heutzutage als zeitgerecht. So werden vulgäre Slangbegriffe(3), gepaart mit grammatisch fehlerhaftem Deutsch, ebenso akzeptiert wie ein schlampiges Outfit. Diese gezielte Abweichung von traditionellen Normen wird von unangepassten Jugendlichen vorangetrieben, die sich zum Beispiel tätowieren und piercen lassen, sich ihr Haar auffällig färben und die kunterbunte Socken, Sonnenbrillen sowie zerrissene oder anderweitig veränderte Kleidung tragen.
Dieser normwidrige Trend müsste eigentlich befremden bzw. komisch wirken. Da die Abweichung von der überkommenen Ordnung aber gewollt ist und aus einer sozialen Gruppe heraus geschieht, kann das eigentlich »Unmögliche« nicht als peinliche bzw. lächerliche Entgleisung bewertet werden. Sobald aber erkennbar ist, dass diese allgemeine Akzeptanz fehlt, erweist sich ein von der Norm abweichendes Verhalten sofort als eine (unfreiwillig) komische Fehlleistung. Das ist z. B. der Fall, wenn ein…

  • Opernsänger nach Luft ringt
  • Prediger einen Schluckauf bekommt
  • Fernsehmoderator von Gesichtszuckungen überwältigt wird
  • Festredner stottert

Vor dem gleichen Problem stehen Menschen, denen es nicht gelingt, ihre Vitalfunktionen in einer sozial angemessenen Weise zu beherrschen. Beispiele sind:

  • Zittern der Hände, Zuckungen im Gesicht
  • Erröten des Gesichts, übermäßiges Schwitzen oder stockender Atemfluss
  • Stottern, Stammeln, Poltern

Kleinen Kindern werden derartige Verhaltensweisen erst dann zum Problem, wenn Erwachsene dies zu korrigieren versuchen oder ältere Kinder sie diesbezüglich verspotten. In solchen Augenblicken wird den betreffenden Kindern schmerzhaft bewusst, dass sie sich als unfreiwillige Komiker präsentieren! Wenn sie dann versuchen, die peinlichen Verhaltensweisen willentlich zu korrigieren, gelangen diese erst recht in den Fokus der Aufmerksamkeit und werden – paradoxer Weise – schließlich als eine »symptomatische Störung« wahrgenommen. Dabei wird ein Teufelskreis von Hyperreflexion(4) und misslingender Selbstkontrolle in Gang gesetzt, der häufig die Quelle von entmutigenden Schamgefühlen ist. Den Betroffenen vergeht dabei sprichwörtlich das Lachen!

Wie therapeutisch ist Humor?
Inzwischen hat sich gezeigt, dass der Humor eines ungenierten Kindes und eines närrischen Clowns(5) den Zugang zu einer kreativen, emotional bunten und in vielfacher Hinsicht leichtlebigen Welt eröffnet: Genau dies ist auch die Voraussetzung für die Wirksamkeit therapeutischen Humors. Pionierarbeit haben diesbezüglich Klinik-Clowns geleistet, die im Gesundheitswesen ihr Betätigungsfeld gefunden haben. Sie konzentrieren sich – ebenso wie Psychotherapeuten – auf die emotionalen Unwägbarkeiten des Lebens. Während letztere die Patienten dazu anregen, sich ihrer emotionalen Konflikte bewusst zu werden, leben Clowns diese von vornherein aus – nach dem Prinzip des »Wenn schon, denn schon ...«:

  • »Wenn es schon kracht, dann aber richtig!«
  • »Wenn ich schon hinfalle, dann aber mit allem Drum und Dran!«
  • »Wenn ich schon als blöd hingestellt werde, dann will ich mich als wirklicher Vollidiot zeigen!«

Diese »Lust am Scheitern« ist spielfreudig. Sie kann nur gelingen, wenn das selbstkontrollierende Denken (vorübergehend) außer Kraft gesetzt wird. Indem Clowns ungehemmt und lustvoll eben das tun, was ein wohlerzogenes Kind und ein vernünftiger Erwachsener niemals tun würden (weil sie sich sonst schämen müssten!), treten sie von einem Fettnäpfchen ins andere. Damit verhalten sie sich nicht anders als typische Psychotherapiepatienten. Allerdings mit einem großen Unterschied: Während letztere darunter leiden und zerknirscht nach Wegen suchen, ihr Fehlverhalten zu überwinden, tun Clowns dies bewusst und mit einem lachenden Gesicht!
So folgt der Clown konsequent der Strategie des Humors, die all das bejaht, was in der logisch geregelten Welt der Erwachsenen »nicht möglich« ist.(6) Dadurch werden originelle Denkweisen und ausgefallene Ideen beflügelt, die dem »gesunden Menschenverstand« des Erwachsenen widersprechen. Daher definierte der Komiker Groucho Marx Humor als »verrückt gewordene Vernunft«.

Ein strategischer Kontrollverlust
Viele Probleme des täglichen Lebens entstehen erst, wenn wir meinen, die Kontrolle verloren zu haben. Nehmen wir als Beispiel einen, der seine Vitalfunktionen nicht zu beherrschen glaubt. Dieser Mensch wird sich in der Regel angestrengt bemühen, nicht zu erröten, zu stottern, kurzatmig oder verkrampft zu sein. Wenn er dabei scheitert, sind dem völligen Kontrollverlust – paradoxer Weise! – Tür und Tor geöffnet. Nun kann der düstere »Ernst des Lebens« seine volle Wirkung entfalten: Selbstzweifel, Ängste und Depressionen können sich ausbreiten, so dass das Leben schließlich zu einer qualvolle Mühsal wird.
In dieser Not kann der Humor Wege auftun, die aus der Mühsal unumstößlicher Vorschriften hinausführen. Das starre Reglement konventioneller Normen (Man muss unbedingt! Man darf keinesfalls!) wird dabei »bedenkenlos« aufgeweicht, so dass aus der starren »Pflicht« eine spielerische »Kür« wird (Ich muss keineswegs! Ich darf durchaus!). So werden die vielen normativen Kunstgebilde, aus denen sich der »Ernst des Lebens« zusammensetzt, ungeniert beiseite geräumt.

Die paradoxe Intention
Der berühmte Psychiater Viktor Frankl(7) erklärte, es sei am allervernünftigsten, nicht allzu vernünftig sein zu wollen. Weshalb sollte es da nicht möglich sein, normwidrige Spontanäußerungen des Körpers (z.B. Erröten, Stottern oder Kurzatmigkeit) nicht nur gutzuheißen, sondern zusätzlich kreativ auszugestalten? Wie das geht? Frankl schlug schon vor Jahrzehnten vor, all das hemmungslos zu übertreiben, was bislang schamhaft kontrolliert bzw. unterdrückt wurde. Deshalb forderte er seine Patienten auf, dem »schrecklichen Symptom« einfach ins Gesicht zu lachen! So sollen diejenigen, die Angst vor Ansteckung durch Bakterien haben, sich immer wieder vorsagen: »Heute habe ich schon fünf Millionen von diesen niedlichen Tierchen geschluckt. Mal sehen, ob ich noch ein paar weitere Millionen zu fassen kriege!« Jemand, der Angst hat, in der Öffentlichkeit zu zittern, soll bewusst versuchen zu zittern und sich dabei sagen: »Jetzt will ich den Leuten mal so richtig zeigen, was für ein Weltmeister im Zittern ich bin!« Und ein anderer, der vor Angst fast vergeht, auf offener Straße zu stürzen (welch eine Blamage!), soll sich fest vornehmen, »den Leuten mal ein richtiges Spektakel zu bieten und für einen Auflauf zu sorgen, wie ihn die Stadt noch nicht erlebt hat!« Die paradoxe Botschaft lautet: Behalte und verstärke dein scheinbar unkontrollierbares Symptom willentlich!
Therapeuten müssen dabei das Terrain der Normalität verlassen. Indem sie sich humorvoll in die unbewussten Bedürfnisse, unreflektierten Absichten und Zielvorstellungen der Patienten einleben, können sie die entsprechenden Verhaltensstrategien bald augenzwinkernd spiegeln. Viktor Frankl erklärte, dass Patienten dabei lernen, ihrer scheinbaren Minderwertigkeit ins Gesicht zu lachen. Hierzu bedarf es eines »Mutes zur Lächerlichkeit«, den Therapeuten unbedingt vorleben sollen. Unter dieser Voraussetzung lassen sich alle Symptome als Ausdruck einer effizienten Lebensstrategie bewerten. Zum Beispiel können Therapeuten erklären:

  • »Ich an Ihrer Stelle würde die Leute in dem Glauben lassen, dass es mir sehr schlecht geht. Damit könnte ich sie einwandfrei zwingen, sich mehr um mich zu kümmern!«
  • »Wenn ich mich meiner Partnerin unterlegen fühlen würde, würde ich mich über meine Impotenz freuen – weil sie mein Machtmittel ist, mit dem ich ihr beweise, dass sie mich keineswegs ‚schwach machen‘ kann!«
  • Ich würde an Ihrer Stelle ständig weinen. Damit könnte ich allen zeigen, dass ich fähig bin, schmerzhafte Gefühle authentisch auszudrücken.
  • Ich wäre bewusst widerspenstig, weil dies die beste Möglichkeit ist, meinen eigenen Weg im Leben zu suchen.

Aus diesem paradoxen Sichtwinkel heraus offenbaren sich viele Symptome als Ausdruck eines heimlichen Könnens. Dabei rufen derartige Deutungen gewöhnlich einen »Erkennungsreflex« hervor, der sich in einem befreiten Lachen äußert.
Unter dieser Voraussetzung kann der therapeutische Prozess ein kreativer Prozess werden. Denn alles, was Patienten tun (oder nicht tun), kann so als die authentische Inszenierung eines geheimen »Drehbuchs« aufgefasst werden, das einen tieferen Sinn besitzt. Dieses »gekonnte Spiel« mag aus der Perspektive der sozialen Welt als eine Ansammlung von Defiziten und Fehlleistungen erscheinen, doch wie der Clown ein (freiwilliger) Experte im Scheitern ist, so erweist sich auch der Patient als eine (unfreiwilliger) Koryphäe in eben dieser widersinnigen Kunst.

Fußnoten:
(1) Diese philosophische Theorie geht davon aus, dass sich jeder Mensch eine subjektive Wirklichkeit erschafft. Das ist bei kleinen Kindern und bestimmten Psychotikern offensichtlich. Doch auch der normale Alltagsmensch ist in einer (inter)subjektiven Wirklichkeit verfangen, die nicht »objektiv« ist, sondern lediglich durch soziale Übereinkunft definiert wird.
(2) In der Philosophie der »Postmoderne« gelten tradierte Ansichten, Ideologien und Werte als gescheitert. Ihre Vertreter können sich somit frei äußern und sich als Person beliebig definieren.
(3) Zum Beispiel waren »geil« und »porno« früher rein zotige Begriffe, in der heutigen Jugendsprache haben sie aber die Bedeutung von »hochinteressant«. Wer eine Sprache benutzt, die von den üblichen Konventionen deutlich abweicht, gilt insgesamt als »cool«, weil er/sie »krass« daherkommt!
(4) Übermäßige Selbstbeobachtung.
(5) Im Germanischen Nationalmuseum zu Nürnberg befindet sich ein aus dem frühen 17. Jahrhundert stammender Kupferstich, der die »Ständetreppe« darstellt. Zuoberst thront der Papst, zu seiner Rechten und Linken Kaiser und König, darunter folgen Kardinal, Herzog, Kurfürst und Graf usw. Ganz unten befinden sich Kind und Narr. Die Inschrift unter dem Bildnis des Narren (dem Vorläufer des Clowns) lautet: »Den Kindern klein gleich ich allein.«
(6) Grock, der als »König der Clowns« galt, hatte dieses Markenzeichen: ein unendlich staunendes »Nit möööööglich!«
(7) Frankl gilt als »Vater des therapeutischen Humors«.


© Dr. Michael Titze
 
 
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