Bücher
 
Hrsg.: Rolf Kühn, Michael Raub, Michael Titze
 
Scham - Ein menschliches Gefühl
 
Kulturelle, psychologische und philosophische Perspektiven
 
1997, 223 Seiten
Kt | kartoniert
Westdeutscher Verlag, Opladen
ISBN 3-531-12951-1
 
 
Rezension
 
ZDF sonntags - tv fürs Leben, 15.10.2006

Scham - Ein menschliches Gefühl. Kulturelle, psychologische und philosophische Perspektiven
von Rolf Kühn, Michael Raub, Michael Titze (Hg.)

Dieser Sammelband vereint verschiedene Aufsätze und gibt dadurch einen ersten guten Einblick in das Thema »Scham«. Die Autoren beleuchten das Thema aus historisch-anthropologischen und phänomenologisch-psychoanalytischen Blickwinkeln. In der Einleitung gibt Leon Wurmser eine psychoanalytische Interpretation von Kafkas Roman »Der Prozeß«. Der Band ist vor allem durch seine grundsätzliche Herangehensweise, mit der z.B. auf die Unterscheidung von Scham und Schuld oder aber auch auf Scham in der Kulturgeschichte und Anthropologie eingegangen wird, interessant.
 
 
Buchbesprechung
Philosophischer Literaturanzeiger 51 (1998) S. 328-331
von Thomas Zinsmaier, Tübingen

Scham - ein menschliches Gefühl. Kulturelle, psychologische und philosophische Perspektiven.
von Rolf Kühn, Michael Raub, Michael Titze (Hg.)

Der Titel ließe sich präzisieren: »Scham - ein spezifisch menschliches Gefühl«. Dass die Scham ein proprium des Menschen ist, wird durch das der Koberger-Bibel (1483) entnommene Titelbild sinnfällig. Es zeigt in szenischer Folge den Sündenfall der ersten Menschen - Adam und Eva beim Genuss der Frucht vom Baum der Erkenntnis (die Schlange am Baum trägt, mittelalterlicher Auffassung entsprechend, ein weibliches Haupt) - und ihre Vertreibung aus dem Paradies (Gen 3,7). In der Sprache Rousseaus hieße dies: den mit Scham - symbolisiert durch das vorgehaltene Feigenblatt - verbundenen Verlust der Unschuld beim Austritt des Menschen aus dem Naturzustand bzw. - in ontogenetischer Hinsicht - aus der Kindheit. (Vgl. Rousseau: Emile ou de l'éducation; dt. Emil oder über die Erziehung; Paderborn, 1983, 217). Deutlich tritt in dieser archetypischen Schamsituation auch die sondernde, individualisierende Funktion der leiblichen Scham hervor: Der Mensch bedeckt und verbirgt gerade das, was ihm als zoologischer Spezies elementar, worin er am wenigsten Individuum ist: seine Kreatürlichkeit.

Nach Auskunft des Umschlagtextes ist die Entstehung des Bandes durch zwei gegenläufige Entwicklungen in unserer Gesellschaft motiviert. Einerseits scheinen traditionell schambesetzte sittliche Normen und Tabus nicht mehr nur provokativ gebrochen, sondern einfach vergessen zu werden; hierbei kommt den Massenmedien, in deren Reportagen, Interviews und Talkshows der Voyeurismus der Zuschauer und der Exhibitionismus der Selbstoffenbarer sich wechselseitig steigern, eine Leitrolle zu: Diesem Phänomen sind die Beiträge von Michael Raub (27-43) und Micha Hilgers (87-96) gewidmet. Andererseits beobachtet man in der psychotherapeutischen Praxis »vermehrt narzisstische Persönlichkeitsstörungen, die im wesentlichen Ausdruck von spezifischen Schamproblemen sind«.

Hervorgegangen ist der Band aus einem Buchprojekt des Forschungskreises für Philosophie und Psychotherapie in Tuttlingen in Verbindung mit dem Institut für Existenzanalyse zu Berlin. Die vierzehn Beiträge von sechzehn Autoren sind thematisch gegliedert unter den beiden Überschriften »Historisch-kulturanthropologische Aspekte« (25-124) und »Phänomenologisch-psychoanalytische Aspekte« (125-201). Ein reichhaltiges Literaturverzeichnis (203-213), ein Personen- (215-218) und ein Sachregister (219-223) erschließen das Werk bibliographisch und terminologisch. Die weitherzig-interdisziplinäre, allgemein-humanwissenschaftliche Ausrichtung des Buches - versammelt sind hier neben philosophischen Studien Aufsätze aus Tiefenpsychologie und Psychopathologie, Soziologie, Jurisprudenz, Mythologie und Literaturwissenschaft - kann in diesem Rahmen nicht angemessen gewürdigt werden. Es sollen hier nur die im engeren Sinn philosophischen Beiträge vorgestellt werden.

Wolfgang Blankenburg (27-43) konstatiert im Übergang von der Moderne zur Postmoderne auch einen Wandel in der Auffassung und Bewertung von Scham und Schuld. Schuldgefühle galten in der westlichen Kultur lange Zeit als rational vermittelte Affekte einer erwachsenen, moralisch gereiften und verantwortlichen Persönlichkeit, Schamgefühle demgegenüber als unreflektierte, spontane, primitive Regungen von vergleichsweise geringem gesellschaftsstützendem Wert. Heute erfährt die Scham bzw. die Schamangst (Léon Wurmser), d.h. die auf das Vermeiden beschämender Situationen zielende Disposition (Scheu) gerade wegen ihres elementaren, existenziellen Charakters und ihrer verdeckten, aber um so leichter zu unterschätzenden sozialen Funktion vermehrtes Interesse. Eine schematische Kontrastierung der Merkmale von Scham und Schuld (54, z.B. Scham: auf das Erscheinen, den Gesichtssinn, die Gegenwart bezogen vs. Schuld: auf Werte, den Gehörssinn, die Vergangenheit bezogen) verdeutlicht, simplifiziert aber auch ein wenig das Verhältnis der beiden Affekte. Die von Ruth Benedict 1947 aufgestellte, dank ihrer Griffigkeit geläufig gewordene Antithese zwischen »Schamkulturen« (z.B. die antike und die japanische) und »Schuldkulturen« (z.B. die jüdisch-christlich geprägte abendländische, insbesondere die protestantische), mit der Blankenburg operiert, ist in letzter Zeit mit Recht erheblich relativiert worden. Zum einen sind die Begriffe von Schuld(gefühl) und Scham selbst, zumindest in ihrem vorterminologischen Gebrauch, nicht so distinkt, dass z.B. das Gefühl bei der Verletzung einer moralischen oder rechtlichen Norm immer entweder als das eine oder als das andere angesprochen werden könnte. Zum anderen ist die Internalisierung ethischer Werte im Gewissen oder Über-Ich, die als das Hauptkennzeichen von Schuldkulturen gilt, in allen bekannten Gesellschaften in mehr oder minder reflektiertem Maße anzutreffen (vgl. D.L. Cairns: »Aidos. The Psychology and Ethics of Honour and Shame in Ancient Greek Literature«, Oxford, 1993, 14-47), so auch in der homerischen, die gewöhnlich als das Muster einer Schamkultur betrachtet wird. - Philipp Steger verfolgt den Wandel des allgemeinen und des philosophisch explizierten Schamverständnisses in der Antike vor allem anhand der griechischen aidós (Scham, Scheu, Ehrfurcht). Hierbei hätte die kurz gestreifte (68) kynische Revolte gegen die durch Scham sanktionierte Konvention im Namen der nackten Natur eine eingehendere Behandlung verdient. Ihr schlichter, »großer Grundsatz« (Chr. M. Wieland), dass einem ehrlichen Menschen all das, was er im Verborgenen tun darf, ebenso auch in der Öffentlichkeit erlaubt ist, hat nicht nur die Zeitgenossen beunruhigt, sondern bis in die Gegenwart polarisierend fortgewirkt: Die Wörter »schamlos« und »zynisch« treten noch heute häufig als nahezu synonymes Paar auf (vgl. etwa H. Niehues-Pröbsting: »Der Kynismus des Diogenes und der Begriff des Zynismus«, München, 1979; 158,160-167).

Dass auch die analytische Philosophie, die von Hause aus keine enge Affinität zur Theorie der Affekte besitzt, für das Verständnis der Scham fruchtbare Ansätze bietet, zeigen die Überlegungen von Carlo Schultheiss zu »Scham und Normen« (97-109). Ausgehend von Bernard Williams' Schambegriff (Die Scham bezieht sich auf das Versagen der ganzen Person vor einem sozial vorgegebenen oder selbstgesetzten Ideal, wogegen das Schuldgefühl sich auf eine normverletzende Handlung bezieht) und der ökonomischen Rational-Choice-Theorie legt er plausibel dar, dass viele soziale Phänomene nicht allein mit dem rationalen Egoismus des homo oeconomicus, sondern nur unter zusätzlichem Rekurs auf soziale Werte bzw. Ideale und die sie stützende Emotion der Scham befriedigend erklärt werden können. Hierbei spielt die Scham aber nicht die Rolle eines unveränderlichen irrationalen anthropologischen »Restes«, sondern die eines regulierenden Gefühls, das durchaus in der Lage ist, einem durch rationale Prüfung von Normen in Gang gesetzten Wertewandel zu folgen.

Die übrigen philosophischen Beiträge nähern sich aus phänomenologischer Perspektive der Scham als einem subjektiven Erlebnis. In kritischer Auseinandersetzung mit den Schamtheorien Freuds, Schelers und Sartres bestimmt Rudolf Bernet die geschlechtliche Scham als »Gefühl für [ ... ] die Verletzlichkeit der Norm« (151). Ihre positive Funktion sei es, ohne Umweg über die Reflexion die Person vor dem distanzlosen Verfallen in den Triebexzess zu schützen. Hier stellt sich freilich die Frage nach dem anthropologischen Status der Scham und nach der Beweglichkeit der Grenzen, die sie schützt. - Im letzten - für phänomenologisch weniger gründlich geschulte Leser nicht eben leicht zugänglichen - Beitrag des Bandes isolieren Rolf Kühn und Michael Titze die Scham als reinen Affekt, d.h. sie dringen durch schichtenweises Abtragen aller wissenschaftlichen und vorwissenschaftlichen Deutungen, Wertungen und Konstruktionen, die die Scham überlagern und verstellen, zum unmittelbaren urkindlichen Schamerlebnis hinab. Diese Reduktion soll es in der psychotherapeutischen Praxis ermöglichen, die Scham wie jedes reine Gefühl als etwas Absolutes und damit per se Gutes zu erkennen und dadurch »seiner eigenen Affektivität ohne jede Angst zu begegnen« (201).

Das Buch soll dem Leser, so die Herausgeber im Vorwort, »eine einführende Orientierung bieten und verschiedene Dimensionen der aktuellen Schamdiskussion vorstellen« (7). Letzteres ist ihm ohne Zweifel gelungen.