Bücher
Herausgegeben von Reinhard Brunner, Rudolf Kausen und Michael Titze
Wörterbuch der Individualpsychologie (1)
1985
544 Seiten
1. Auflage
Ernst Reinhardt
München, Basel
ISBN 3-497-01100-2
Rezension
 
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Freitag, 6. Juni 1986, Nr. 128, S. 10
Eine fröhliche Wissenschaft: »Wörterbuch der Individualpsychologie«
Von Willy Köhler
In der Ahnengalerie der Tiefenpsychologie und Psychotherapie nimmt Alfred Adler (1870-1937) einen prominenten Platz ein. Der Wiener Nervenarzt stieß 1902 zu Sigmund Freuds berühmter »Mittwochsgesellschaft«, der späteren Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, und avancierte 1910 zum Vorsitzenden dieser Vereinigung und gleichzeitig zu einem der Schriftleiter des »Zentralblattes für Psychoanalyse«.
Adler war zunächst, wie C. G. Jung, der dritte aus dem psychoanalytischen Dreigestirn, des »Meisters« geschätzter Schüler, denn Freud erhoffte sich von dem originellen Kopf, der als erster pädagogische Probleme unter die analytische Lupe nahm, eine Aufdeckung der »Verbindungen von der Psychoanalyse zur Psychologie und den biologischen Grundlagen der Triebvorgänge«. Doch 1911 bereits kam es, nach schwelenden Kontroversen über Grundkonzepte der Psychoanalyse zum offenen Bruch: Freud forderte Adler auf, sein Schriftleiter-Amt niederzulegen, und Adler reagierte prompt, indem er nicht nur der Aufforderung folgte, sondern gleich auch aus der Vereinigung austrat. Adler gründete einen eigenen Verein (zunächst für »freie, psychoanalytische Forschung«, später für »Individualpsychologie«) und eine eigene Zeitschrift.
Die Entstehungsgeschichte der Individualpsychologie Alfred Adlers ist genauer und differenzierter nachzulesen in einem Buch mit dem Titel »Wörterbuch der Individualpsychologie«. Der übersichtlich angelegte Band enthält 225 meist ausführlich bearbeitete Stichworte oder besser Konzepte der Individualpsychologie, angefangen mit der »Aggression«, dem ersten zwischen Freud und Adler strittigen Thema, bis zur »Zwangsneurose«, hinter der Adler »himmelhohen Ehrgeiz«, vermutete. 30 Fachleute der Individualpsychologie, darunter bekannte wie Heinz L. Ansbacher, Robert F. Antoch, Erwin Ringel und Ronald Wiegand behandeln ihre Stichworte nicht nur unter definitorischen und historischen Gesichtspunkten, sondern berücksichtigen auch andere tiefenpsychologische Richtungen und selbst Nachbardisziplinen.
Auf den ersten Blick ist die Bezeichnung »Individualpsychologie« missverständlich; sie scheint weit besser zu Freuds Psychoanalyse mit ihrer Vorstellung eines geradezu hermetisch abgeschlossenen individuellen Seelenlebens zu passen. Das »Wörterbuch« erklärt zu diesem definitorischen Dilemma: »Vom Ganzheitsgedanken durchdrungen … zielt der Name Individualpsychologie gegen die naturwissenschaftliche, dem kausal-mechanischen Denken verbundene Neigung Freuds, die einheitlich handelnde Person in verschiedene Trieb-Repräsentanten und seelische Instanzen zu zerlegen.« Tatsächlich ist der Mensch für Adler vor allem ein soziales Wesen, ausgestattet mit einer sozialen Anlage, die er als »Gemeinschaftsgefühl« oder, gegen Ende seines Lebens, als »soziales Interesse« bezeichnete. Das »Gemeinschaftsgefühl« ist ein Schlüsselbegriff der Adlerschen Psychologie.
Ihre Blütezeit hatte die Individualpsychologie zwischen den beiden Weltkriegen. Damals war sie in 13 Ländern der Erde mit Arbeitsgemeinschaften präsent. Sie bildete Ableger, wie etwa die »Existenzanalyse« von Viktor E. Frankl. Marxistisch eingestellte Individualpsychologen wie Manes Sperber trugen Adlersche Ideen in die Philosophie und die Sozialwissenschaften. Doch Faschismus und Nationalsozialismus bereiteten dieser Entwicklung ein jähes Ende. Fortan stand die Individualpsychologie, zumal nach Adlers Tod, Im Schatten der Psychoanalyse, zuerst in den Vereinigten Staaten, dem Zufluchtsland Hunderter europäischer Analytiker, und dann im Nachkriegseuropa, als die Psychoanalyse hier wieder Fuß fasste. Sicher nicht zufällig liegen Freuds Schriften seit langem in repräsentativen Hardcover-Ausgaben vor, während Adlers Werke nur als Taschenbücher greifbar sind.
Seit einigen Jahren scheint sich in der Bundesrepublik, aber nicht nur hier, eine »Renaissance« der Individualpsychologie anzubahnen. Offensichtlich ist gegenwärtig ein guter Nährboden für ein psychologisches Erklärungssystem, in dem Begriffe wie Lebensplan und Lebensstil, in dem Wert- und Sinnfragen zentrale Rollen spielen und dessen Begründer von der menschlichen »Evolution zum Höheren« überzeugt war. Noch kurz vor seinem Tode erklärt Adler, er glaube trotz aller Katastrophen und Krisen an die »Höherentwicklung des Einzelnen und der Masse unter dem unausgesetzten Druck des wachsenden Gemeinschaftsgefühls«.
Das als Gemeinschaftsarbeit konzipierte »Wörterbuch« bietet denn auch allenthalben Belege für Adlers Diktum von der Individualpsychologie als einer »fröhlichen, optimistischen Wissenschaft«.