Bücher
 
Michael Titze
 
Die Organisation des Bewusstseins
 
Strategien der Typisierung in »normaler« und schizophrener Weltauffassung
 
 
Mit einem Vorwort von Rolf Kühn.

Inhaltsverzeichnis, Einleitung und
1. Kapitel.pdf





Bestellung: www.amazon.de >>>
Verlag Karl Alber
Seele, Existenz und Leben,
Band 19

256 Seiten
13,9 x 21,4 cm. Kartoniert
€ 29,00
€ [A] 29,90
SFr. 39,90
ISBN 978-3-495-48507-1
 
Klappentext
 
Ausgehend von den Darlegungen Husserls und Schütz' zur Typik der Lebenswelt, wird der Prozess der Apperzeption analysiert. Dieser vollzieht sich vor einem Horizont, der die Sedimentierungen früherer Erfahrungen umfasst. Ein solches Wissen, das zu einem großen Teil sozial vermittelt wird, macht es möglich, das singulär Unbekannte mit dem allgemein Bekannten zu verbinden. Indem der intentionale Gegenstand gewisse typische Merkmale, Eigenschaften oder Attribute aufzeigt, die typisierende Relationsgefühle anregen, wird eine sinnhafte Strukturierung der Lebenswelt ermöglicht. In einem zweiten Schritt werden Strategien der Typisierung analysiert, die außerhalb des geschlossenen Sinnbereichs der »normalen« Alltagswelt erfolgen. Dabei wird auf abnorme Typisierungsvorgänge Bezug genommen, die für Menschen mit einer schizophrenen Denkstörung kennzeichnend sind. Hier lassen sich Strategien der Typisierung feststellen, die sich tendenziell nicht an intersubjektiv validen Relevanzkriterien orientieren. Dies aber gilt nicht für sogenannte prälogische bzw. paläologische Typisierungen, wie sie für Angehörige von Naturvölkern bestimmend sind.
 
 
Renzensionen
 
Aus: PSYCH. PFLEGE HEUTE 2/12, S. 93
Von Christoph Müller

Michael Titze: Die Organisation des Bewusstseins - Strategien der Typisierung in normaler und schizophrener Weltauffassung, Alber-Verlag, Freiburg 2011,
Broschiert, 256 Seiten, 29 EUR, ISBN 978-3-495-48507-1

Das Verhältnis der psychiatrischen Pflege zur Philosophie ist sicher nicht einfach. Zu selten wird die Gelegenheit genutzt, das eigene pflegerisch-psychiatrische Handeln geisteswissenschaftlich zu reflektieren. Für die Psychotherapie hat dies der Psychotherapeut Michael Titze versucht. Der Autor schaut auf jahrelange klinische und ambulante Erfahrung als Psychotherapeut zurück. Seine Studie orientiert sich an der sogenannten Phänomenologie. Diese Erkenntnistheorie versteht ein Objekt der Betrachtung nicht als reales Objekt, sondern sieht es immer nur im Bezug zur jeweiligen Lebenswelt.
Der schizophrene Mensch hat in Titzes Augen die »natürliche Selbstverständlichkeit« verloren und besitzt keinen Zugang zur »Sozialität« mehr. Im Kern beschreibt Titze die Schizophrenie als eine soziale Störung, als eine »Störung der sozialen Kommunikation«, obwohl der Betroffene genauso viel Wissen von seiner Umwelt besitzt wie ein Gesunder.
Genau dieses Defizit macht es für schizophrene Menschen schwer, Spielregeln einzuhalten; sie sind nicht in der Lage, »in effektiver Weise situativ anfallende, beständig variierende Anforderungen und Aufgaben zu lösen.« Gesund-sein ist somit »die Fähigkeit, jenen Instanzen, welche ein gesellschaftliches Ganzes strukturieren, in effektiver Weise folgen zu können.« Der Autor arbeitet sich gründlich an der Parallelisierung schizophrenen und normalen Lebens ab und nennt Beispiele.
Einerseits erschöpft das Lesen - vor allem für philosophisch wenig Geübte. Doch das Gefühl, hinter die Fassaden und Masken einer psychischen Erkrankung geschaut zu haben, belohnt den Leser.
In der praktischen Arbeit mit schizophrenen Menschen bleibt der Fokus allzu häufig auf den Defiziten der betroffenen Menschen hängen. Titze hält Therapeuten an, Wahrnehmungen von schizophrenen Menschen tiefgründiger zu reflektieren, denn therapeutische Arbeit bedarf der philosophischen Reflexion, um Betroffene besser verstehen zu können.



Psychiatrische Praxis 2012 [39], 146-147
Sich auf das Unselbstverständliche verständigen - Schizophrenie als Kommunikationsproblem
Von Samuel Thoma, Berlin

»Die Organisation des Bewusstseins? Strategien der Typisierung &Mac226;normaler‘ und schizophrener Weltauffassung« scheint ein abstrakter Titel für ein sehr konkretes und gewichtiges Thema psychiatrischer Praxis. Denn der Autor Michael Titze, der bislang besonders durch Studien über die Rolle des Humors in der Psychotherapie in Erscheinung trat [1], beschäftigt sich in diesem Buch mit der Frage, wie die scheinbar unverständliche subjektive Erfahrungsweise von Menschen mit Schizophrenie in einem phänomenologisch-deskriptiven Sinne konzeptualisiert werden könnte. Michael Titzes Arbeit verdient schon deshalb Gehör, weil sie Wolfgang Blankenburgs immer noch originelle Hypothese vom »Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit« [2] als strukturellem Kern der subjektiven und ggf. auch unterschiedlichen Erfahrung von Schizophrenie zu neuer Geltung bringt. Normalität wird hiernach nicht als inhaltlich festgelegte (kulturelle oder biologische) Norm oder Funktionsweise begriffen, sondern vielmehr als die in einer jeder solchen Norm immer schon vorausgesetzte, intersubjektive Übereinkunft, die Dinge auf eine bestimmte Weise wahrzunehmen oder eben zu »typisieren«. Auf diese Übereinkunft, die die Grundlage unserer Kommunikation darstellt, versteht sich jedoch ein Mensch mit Schizophrenie ganz grundlegend nicht mehr. So wird die Schizophrenie (als Allgemeinbegriff) in dieser phänomenologischen Betrachtungsweise aus dem Bereich des kategorisch Unverständlichen und nur biologisch Erklärbaren (wie es Jaspers noch bezüglich des Wahns deklarierte [3]) enthoben und zum Verständigungsproblem bzw. therapeutisch zur Verständigungsaufgabe. Diesen Gedanken erläutert Michael Titze ausführlich anhand einer Vielzahl von Theorien und empirischen Untersuchungen über sogenannte schizophrene Denkstörungen und Erlebnisweisen. Der Einstieg in diese komplexen Analysen wird durch die einleitenden autobiografische Betrachtungen erleichtert. Der Autor widerspricht in seinen Ausführungen nicht nur der im psychoanalytischen Denken teilweise noch virulenten Auffassung, Schizophrenie sei eine (wie auch immer gefasste) Form der Regression[4]? er zeigt auch, dass ein phänomenologischer Ansatz für Fragen der transkulturellen Psychiatrie wie der Sozialpsychiatrie überaus fruchtbar sein kann. Denn »natürliche Selbstverständlichkeit« erweist sich als übergreifende Kennzeichnung einer jeden Form von - ggf. auch kulturell differentem - Sozialen. Dass hiernach der Sinn sozialpsychiatrischer wie psychotherapeutischer Praxis eben darin zu bestehen hat, dieses allgemeine Soziale und die jeweils individuelle Schizophrenie in einen verständigenden Austausch zu bringen, kann am Ende sicherlich als Desiderat dieser vielseitigen und inspirierenden Studie begriffen werden. Einziger Kritikpunkt des Buchs scheint dabei die teilweise recht verallgemeinernde Verwendung des Schizophreniebegriffs (Wolfgang Blankenburgs Studie bezog sich zunächst nur auf die hebephrenen Schizophrenien) sowie die Rede vom »schizophrenen Menschen«, die angesichts der heutigen Antistigma-Bewegung sicherlich einer gewissen Relativierung bedürfte.

Literatur
1 www.michael-titze.de
2 Blankenburg W (1971). Der Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit. Heidelberg: Enke; 1998
3 Jaspers K. Allgemeine Psychopathologie. Heidelberg: Springer: 1946
4 Segal H (1955). Bemerkungen zur Symbol-bildung. In: Bott-Spillius, Hrsg. Melanie Klein heute. Entwicklungen in Theorie und Praxis. Bd. 1. Stuttgart: Klett-Cotta; 2002



buchinformationen.de. 26.06.2012
Die Welt des Schizophrenen
Von Stefan Diebitz

Was ist schizophren? Praktisch jeder Mensch unserer Tage weiß, dass es sich dabei um eine sehr schwere psychische Krankheit handelt, aber die meisten von uns haben keinerlei realistische Vorstellung davon, wie es einem Schizophrenen tatsächlich geht, worin also die Symptome seiner Krankheit bestehen, wie er sich fühlt und worunter er leidet. Der Psychotherapeut und Philosoph Michael Titze hat sich nun die Aufgabe gestellt, die Schizophrenie auf den Punkt zu bringen.
In »Die Organisation des Bewusstseins« beschreibt er die Strukturen des schizophrenen Bewusstseins, indem er den Unterschieden zu normalen Denkstrukturen nachgeht, ohne auf die möglichen Ursachen der Krankheit einzugehen.
Schizophrene denken vollkommen anders als normale und gesunde Menschen. In einer ganz elementaren Weise sind sie für sich und verfolgen Gedanken, auf die Normale überhaupt nicht kommen. Ihre Gedankenwelten sind bizarr und in jeder Hinsicht abweichend, aber unlogisch sind sie nicht, wie Titze zeigen kann. Vielmehr haben sich Schizophrene von unserer gemeinsamen Lebenswelt verabschiedet - das, was für uns selbstverständlich ist, ist es für sie noch lange nicht. Oder nicht mehr. Sie sind also nicht weniger intelligent als wir, wie es die ursprüngliche Bezeichnung als »Dementia praecox« nahelegt, sondern das, was unseren Alltag, unser Tun und unser Denken strukturiert, das, was wir niemals ernsthaft hinterfragen, weil es das Fundament für unser ganzes Leben abgibt, das besitzt für sie keinerlei Geltung.
Wenn man zeigen will, worin dieser von Titze so genannte »Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit« besteht, dann muss man natürlich zunächst die Strukturen des normalen Bewusstseins beschreiben, das von diesen Selbstverständlichkeiten bestimmt ist. Und in diesem »zunächst« liegen auch alle Schwierigkeiten des Autors, weil sich so leicht und nebenher diese Beschreibung eben nicht leisten lässt. Der Leser muss sich auf einen schwierigen Einstieg in den Gedankengang einstellen, denn Titze beschreibt das normale Bewusstsein als intimer Kenner der Phänomenologie im Rückgriff auf die Werke Edmund Husserls, Alfred Schütz’ oder Aron Gurwitschs, aber auch mit Blick auf Werke von William James und unzähliger anderer Autoren.
Im Grunde sind ungefähr einhundert Seiten dieses Buches als eine gute und lesenswerte Einführung in die klassische Phänomenologie Husserls anzusehen, aber als eine Einführung, die sich an Leser richtet, die zumindest die Grundbegriffe der Phänomenologie bereits kennen. So wird etwa der zentrale Begriff der Epoché weder erläutert noch problematisiert.
Erst von Seite 156 an widmet sich Titze dem »Verlust der natürlichen Selbstverständlichkeit als Relevanzproblem« und betritt damit den Kernbereich seines Interesses, die Schilderung der Unterschiede zwischen dem Schizophrenen und dem Normalen. Der Schizophrene wird von ihm als ein Mensch geschildert, der seine Lebenswelt nicht länger mit anderen Menschen teilt, sondern ganz für sich ist; im Grunde ist er nicht länger ein soziales Wesen, sondern geradezu asozial. Seine Vorlieben und Abneigungen wie überhaupt alles, was er in den Blick fasst, sind »privat bzw. idiosynkratisch«. Seine Wirklichkeit ist »seine ganz persönliche, private Realität«. Der Schizophrene ist, so die Grundthese Titzes, keineswegs weniger intelligent als normale Menschen, sondern seine Krankheit ist sozialer Natur und »im Bereich der Intersubjektivität bzw. Sozialibität angelegt. Alle weiteren Symptome bzw. Defizienzen sind lediglich sekundäre Folgen dieser Grundstörung.«
Diese Grundthese stellt der Autor in gedrängter und sachlicher Form dar, wobei er auf eine erstaunliche Menge von teils philosophischer, teils psychiatrischer Fachliteratur zurückgreift. Insbesondere das letzte Drittel seines Buches, das sich tatsächlich mit der Schizophrenie beschäftigt, gerät deshalb zu einer ebenso fesselnden wie lehrreichen Lektüre.
Die Beschreibung des normalen Bewusstsein, die der Beschäftigung mit der Schizophrenie vorhergeht, ist auch in ihrer Länge eine Notwendigkeit und musste unbedingt geleistet werden; schließlich kommt der Autor immer wieder darauf zurück, weil er die schizophrene Welt von der normalen abheben will. Aber ein schwacher Punkt des Buches ist das viel zu umfangreich ausgefallene erste Kapitel, das sich »Einleitung und biographische Anmerkungen« überschreibt und das unter anderem das spezielle Forschungsgebiet Titzes, den therapeutischen Humor, in extenso beschreibt, ohne dass ein Bezug zum eigentlichen Thema des Buches deutlich würde. Ganz anders verhält es sich mit den Partien des letzten Kapitels, in denen der Autor das schizophrene Bewusstsein mit dem sogenannter Primitiver vergleicht: hier ist ein Zusammenhang wieder leicht zu sehen.
Titzes Arbeit ist ein sehr empfehlenswertes und anregendes Buch, in dem der Autor seine Grundthese von der Schizophrenie als einer sozialen Grundstörung überzeugend vertritt.