AUFGANG, Jahrbuch für Denken, Dichten, Musik, 7, 2010
 
Gelotophobie: Wenn Lachen kränkt
 
AUFGANG, Jahrbuch für Denken, Dichten, Musik, 7, 2010
»Sein und Lachen», Stuttgart, Kohlhammer Verlag, 2010, S. 90-105.
Von Michael Titze
 
 

1. Das Komische

1.1 Vorbemerkungen zum Konzept der Gelotophobie

Die Diagnose einer Sozialphobie (vgl. MARKS 1969) wird seit 40 Jahren gestellt. Inzwischen wird angenommen, dass viele der Betroffenen unter einer spezifischen Scham-Angst leiden, die als Gelotophobie •1 bezeichnet wird (vgl. RUCH 2009; TITZE 2007, 2009). Diese Diagnose bezieht sich auf die pathologische Furcht vor dem Lachen. Gelotophobiker fürchten sich aber nicht allein vor einem erkennbar herabsetzenden Lachen; sie empfinden auch ein Lachen als bedrohlich, das von anderen Menschen als harmlos oder sogar als freundschaftlich eingeschätzt wird (vgl. GAIDOS 2009).

Die Anfänge dieser Fehleinschätzung gehen in der Regel auf traumatisierende Erfahrungen mit frühen Bezugspersonen zurück, die ihre grundsätzliche Antipathie gegenüber dem Kind regelmäßig durch eine spöttisch-verächtliche Mimik zum Ausdruck brachten. Dies hat in vielen Fällen zur Folge, dass von den Betroffenen jede Form von Lächeln/Lachen als aggressive Äußerung bewertet wird.

Deshalb werden Aktivitäten in der Gemeinschaft weitgehend gemieden, so dass der Erwerb sozialer Kompetenzen nur unzureichend gelingt. In letzter Konsequenz wird der Drang, sich vor dem »Grauen der Lächerlichkeit« (WURMSER 1993, 86ff) zu schützen, zum Hauptmotiv im Leben der Betroffenen. Aber genau diese Neigung zur Isolation bewirkt, dass ein Gelotophobiker auf die Anderen »komisch« wirkt. So wird er zu einem lächerlichen Objekt und wird dadurch Anlass für eine Belustigung, die von ihm selbst als beschämend erlebt wird (vgl. TITZE 1997).

Einen wichtigen Ansatz zum Verständnis dieses psycho(patho)logischen Problems bietet die Degradationstheorie, die in den Werken antiker Philosophen wurzelt (vgl. TITZE & ESCHENRÖDER 2007, 39ff).


1.2 Das Lächerliche •2 ist hässlich

In seinem Dialog Philebos setzt PLATON (2007a, 477 [48c]) das Lächerliche allgemein mit dem Schlechten und Unverständigen, das heißt dem Minderwertigen gleich (vgl. HÜGLI 1980, 2). So motiviere etwa der Neid einen Menschen, Schwächen jedweder Art bei seinen Mitmenschen ausfindig zu machen, um die Lust des Lachens anzustacheln (PLATON ebd., 479 [50a]). Die darüber Lachenden könnten sich auf Grund eines für sie günstigen Vergleichs als besser bewerten, als sie in Wirklichkeit sind.

In der Komödie •3 werden entsprechende »hässliche Körper und Gesinnungen und die Scherzgebilde solcher, welche Lachen zu erregen bemüht sind [...] in Worten, Gesang und Tanz« nachgebildet (PLATON 2007b, 389 [816d]). Denn bei der Komödie handele es sich insgesamt um Spiele, die auf die Erregung von (schadenfreudigem) Gelächter abzielen. Jean PAUL (1980, 115) erwähnt, dass bei allen Völkern das Schauspiel mit der spottenden Nachahmung der Komödie anfing. Die Lust am Verlachen des komisch Wirkenden müsse daher als eine sehr ursprüngliche Neigung des Menschen angesehen werden.

ARISTOTELES (2006, 17 [5]) greift diesen Gedankengang auf. Er stellt fest, das Komische sei Ausdruck von körperlichen, geistigen oder sprachlichen Mängeln, die insgesamt hässlich wirken:
»Die Komödie ist [...] Nachahmung von schlechteren Menschen, aber nicht im Hinblick auf jede Art von Schlechtigkeit, sondern nur insoweit, als das Lächerliche am Hässlichen teilhat. Das Lächerliche ist nämlich ein mit Hässlichkeit verbundener Fehler.«
Entsprechend behauptet CICERO (1976, 361), dass »Hässlichkeit und körperliche Mängel [...] genügend geeigneten Stoff für den Witz« bieten. Besonders »herzlich lacht man aber auch über Abbildungen, die der Darstellung einer Missgestalt oder eines körperlichen Gebrechens dienen und Ähnlichkeit mit etwas noch Hässlicheren haben.«


1.3 Die Wahrnehmung des Komischen hebt das eigene Selbstwertgefühl

Nach Thomas HOBBES (1918, 37) basiert das eigene Selbstwertgefühl auf endlosen Vergleichen mit den Stärken oder Schwächen anderer Menschen. Wenn »die schwachen Seiten anderer sichtbar« werden, entstehe ein unverhofftes Gefühl der Freude, das den eigenen Wert erhöhe, den fremden aber mindere. Das treibe häufig die eigenen Lebensgeister empor, was wiederum zu einem Lachen führe. In seinem Leviathan schreibt HOBBES (2005, 45f):
»Sudden glory is the passion which makes those grimaces called laughter; and is caused either by some sudden act of their own that pleases them or by the apprehension of some deformed thing in another by comparison whereof they suddenly applaud themselves.«
STENDHAL befasst sich in seinen Romanen und Essays immer wieder mit dieser Thematik. Dabei bezieht er sich gelegentlich auf die von HOBBES formulierte Theorie des Lachens. So schreibt er in seiner Filosofia Nova (1931, 117):
»La passion qui excite à rire n'est autre chose qu'une vaine gloire fondée sur la conception subite de quelque excellence qui se trouve en nous par opposition à l'infirmité des autres.«
Entsprechend weist Emil KRAEPELIN (1885, 352) das Lächerliche als das »Verlachenswerte« aus, das von einem »Objekt von geringerem inneren Wert« ausgeht.

Den empirischen Nachweis für diese Theorie erbrachte allerdings erst Léon FESTINGER (1954) in seiner Theorie des sozialen Vergleichs. Danach rufen »Abwärtsvergleiche« (bei denen das eigene Selbst im Vergleich zu anderen Menschen besser bewertet wird) Gefühle hervor, die den eigenen Selbstwert stärken. Auf den Effekt hämischer Schadenfreude zielte die antike Komödie ebenso ab wie die Narrenspiele und Possen des Mittelalters (vgl. 3.5).


1.4 Das Wesen des Komischen

Karl GROOS (1892, 392) führt das Urphänomen des Komischen auf die Ungleichheit bzw. den Kontrast zwischen dem Objekt des Komischen und dem Betrachter als. Diese Ungleichheit erhöhe das Selbstgefühl des Betrachters und trage zu dessen Erheiterung bei. Dabei entstehe das »behagliche Pharisäergefühl«, nicht so zu sein »wie dieser Verkehrten Einer«. Im einzelnen seien es die Ungeschicklichkeit und Zerstreutheit sowie die Nervosität, die Verlegenheit, die Vergesslichkeit und jene »dauernde geistige Verkehrtheit, die sich in 'närrischen' Handlungen äußert, welche uns hier das erheiternde Gefühl unserer Überlegenheit verschafft« (ebd., 381f.). Dabei dürften beim Betrachter weder Furcht noch Mitleid in den Vordergrund treten, »weil sonst die erheiternde Wirkung notwendig ausbleiben muss« (ebd.).

GROOS führt in diesem Zusammenhang drei Stadien der Entwicklung des Komischen an: Der erste Eindruck des Komischen bestehe darin, dass die Verkehrtheit verblüffend wirkt. Das zweite Stadium zeichne sich dann ab, wenn aus der Verblüffung die bewusste Erkenntnis der Verkehrtheit entsteht. Doch erst im dritten Stadium könne sich das »völlig angenehme Gefühl« entfalten, sich selbst im Angesicht der Verkehrtheit als Überlegenen zu empfinden.

GROOS (ebd., 402) kommt zu der Schlussfolgerung, dass »das Lachen beim Komischen zunächst ein Verlachen ist«.


1.5 Das Komische ist disharmonisch

PLATON lässt SOKRATES (2007a, 481 [51c]) in seinem Dialog Philebos erklären, die ästhetische Voraussetzung von Schönheit gehe auf eine gerades und abgerundetes Ebenmaß zurück: Dies sei »immer an und für sich [...] schön«.

Entsprechend konnte der Earl von SHAFTESBURY (1999; zit. n. BILLIG 2005, 75) behaupten, dass nur das Disharmonische komisch wirke. Geschmeidige Kurven und klare Linien garantierten hingegen ästhetische Stimmigkeit.

In dieser Denktradition steht auch Henri BERGSON (1921, 23), der feststellt, dass jede Form von Starrheit, Unlebendigkeit, Plumpheit oder Disharmonie zum Lachen anrege. Auf seine Mitmenschen wirke ein Mensch, dem die natürliche Harmonie bzw. anmutige Geschmeidigkeit (ebd., 36) nicht zu eigen sei, unweigerlich komisch. Schon allein seine disharmonischen Bewegungen würden die Anderen provozieren, ihn aufmerksam zu betrachten und so zum Objekt einer kritischen Bewertung zu machen. Diese Objektivierung (vgl. 2.3) ruft beim Betrachter gewöhnlich eine Belustigung hervor, die sich in entsprechenden mimischen Ausdrucksmitteln (Grinsen oder Lachen) kundtut.


2. Das Lachen über das Komische

2.1 Lachen als Ausdruck von Aggression


BERGSONs Analysen über die Auswirkungen des Lachens haben implizit den verobjektivierten Leib eines komischen Menschen zum Gegenstand. Grundsätzlich ist das Lachen eine offensive Kraft, die die vitalsten Affekte entbindet: »Der Lachende überlässt seinen Körper sich selbst; er verzichtet auf Kontrolle« (KAMPER & WULF 1986, 7). Dadurch erscheint der Lachende gerade jenen, die ihren Körper übermäßig kontrollieren, als potenziell bedrohlich, ja sogar brutal, wie Joachim RITTER (1940, 5) feststellt:
»Urtyp alles Lachens ist jenes Gelächter, das der Wilde ausstoßen soll, wenn er dem besiegten Feind den Fuß in den Nacken stellt. Das Lachen erscheint als Ausdruck der Brutalität, die sich über den Menschen und die gute Welt erheben will.«
Nach Ansicht von Ethologen (vgl. EIBL-EIBESFELDT 1967; LORENZ 1963) ist Lachen Ausdruck einer aggressiven Überlegenheit gegenüber jenem, der - als Objekt dieses Lachens - der Lächerlichkeit preisgegeben ist: »Der Sieger quittiert seine Übermacht über den Gestürzten mit einem schallenden, schadenfrohen Gelächter« (BIEN 1986, 253). Der Lachforscher J. C. GREGORY (1924, 13) erklärt:
»Das Gelächter, das mit dem Menschen aus dem Nebel der Antike auftaucht, scheint einen Dolch in der Hand zu halten. Es gibt in den Berichten der Antike über das Lachen so viele Hinweise auf brutalen Triumph, Verachtung und sadistische Handlungen, dass wir annehmen dürfen, dass das ursprüngliche Lachen eine einzige Feindseligkeit war.« (Übers. d. Verf.)

Unterstützt wird diese Sichtweise durch verhaltensbiologische bzw. ethologische Befunde. So sehen Albert RAPP (1947, 1949) und Charles R. GRUNER (1979) im Lachen ein aggressives Instinktresiduum. Irenäus EIBL-EEIBESFELDT (1967, 140) beschreibt die Doppelfunktion des Lachens, die auf Gruppenfremde bedrohlich bzw. ausschließend (exklusiv) wirke, während sie Gruppenzugehörige (kohäsiv) miteinander verbinde:
»Die rhythmische Lautäußerung [im Lachen] erinnert an ähnliche Lautäußerungen, mit denen viele Primaten einer Gruppe gemeinsam gegen einen Feind drohen ('hassen'). Ein solches gemeinsames Drohen verbindet die Mitglieder einer Gruppe, und es fällt bei einer Untersuchung des Lachens auf, daß hier in ganz ähnlicher Weise zwischen Gruppenmitgliedern ein starkes Band geschaffen wird. Außerhalb der Gruppe Stehende berührt ein solches Lachen eher unangenehm, ja wenn es den Charakter des Auslachens trägt, wirkt es ausgesprochen aggressiv, herausfordernd. Lachen scheint in seiner ursprünglichen Funktion gegen Dritte zu verbinden.«

Für RAPP (1949) stellt Aggressivität eine grundlegende Triebkraft im Leben des Menschen dar. Lachen sei eine der möglichen Formen aggressiver Äußerung beim Menschen. RAPP vermutet in diesem Zusammenhang, dass Lachen ursprünglich der Signalisierung eines Triumphes gedient habe. Dabei hätten sich die erlegte Beute bzw. der besiegte Gegner jeweils als ein »lächerliches Objekt« präsentiert. J.C. GREGORY (1924, 79) weist darauf hin, dass Lachen aber erst dann zu einem Triumphgeschrei wird, wenn es aus der Gruppe heraus entstehe: »So entwickelte sich ein ursprünglich' befreites Lachen« im kollektiven Triumph eines siegreichen Stammes zu einem frohlockenden sozialen Lachen, wodurch es Kraft, Reichweite und Intensität gewann.«

Damit erfüllt der Lachreflex in diesem Zusammenhang eine verhängnisvolle kommunikative Wirkung: Als Belächelter oder Verlachter wird der komische Mensch aus der sozialen Gemeinschaft der über ihn Lachenden ausgeschlossen und gleichzeitig vor den Augen der Welt in seiner beschämenden Ohnmacht decouvriert (vgl. ZIV 1984, Kap. 3). Hier setzt häufig der circulus vitiosus einer Schamangst ein, die wir als »Gelotophobie« bezeichnen.


2.3 Lachen als Erziehungsmittel

Nach BERGSON (1921) erfüllt Lachen grundsätzlich eine disziplinarische - und damit sozial regulative Funktion. Folglich sah BERGSON (ebd., 131) im (Aus-)Lachen ein »Erziehungsmittel«, das diejenigen beschämt, die sich als komische Außenseiter nicht in das Regelsystem der Gesellschaft fügen:
»Das Lachen ist nun einmal ein Erziehungsmittel. Ist Demütigung sein Zweck, so muss es der Person, der es gilt, eine peinliche Empfindung verursachen. Dadurch rächt sich die Gesellschaft für die Freiheiten, die man sich gegen sie herausgenommnen hat. Und das Lachen würde sein Ziel nicht erreichen, wenn Sympathie und Güte seine herrschenden Züge wären.«
BERGSON glaubt, dass die peinliche »soziale Feuertaufe« des Verlachens einen komischem Außenseiter zunächst motivieren könnte, seine soziale Devianz zu korrigieren und sich an die normativen Erwartungen der Gesellschaft anzupassen. Je konservativer und in sich geschlossener eine soziale Gruppe sei, meint Arthur KOESTLER (1966, 70), »desto strikter sind ihre Normen und desto eher ist sie bereit, jede Abweichung von der Norm ins Lächerliche zu ziehen«. In der impliziten Beschämung sieht auch Thomas SCHEFF (2000) die entscheidende emotionale Voraussetzung für die Festigung sozialer Bande. Denn die implizite Botschaft lautet: »Wenn du dich nicht an die sozialen Regeln hältst, wirst du ausgelacht!« Diese Annahme wird von BILLIG (2005, 117ff.) bestätigt, der ausführlich darlegt, wie Erwachsene Kindern beibringen, sich an erwünschte soziale Regeln anzupassen, indem sie diese verlachen. Diese Beschämung sei ein höchst wirksames Erziehungsmittel. So könnten sowohl soziale Regeln als auch Praktiken des Verlachens über Generationen hinweg reproduziert werden.


2.3 Lachen über die Verobjektivierung des Lebendigen

Für BERGSON (1921) manifestiert sich Normalität zunächst im körperlichen Bereich. Je unverkrampfter, je flüssiger und geschmeidiger sich ein Mensch in seinem Lebensvollzug geben könne, desto weniger komisch wirke er. Die Hemmung dieses natürlichen Bewegungsablaufs bezeichnet BERGSON als »Trägheit«. Sie sei »das Komische, und das Lachen ist ihre Strafe« (ebd., 18). Wenn sich die Trägheit im mimischen Bereich auswirke, bekomme ein Gesichtsausdruck »etwas Starres, sozusagen Geronnenes« (ebd., 20). Auch dies wirke komisch, da es sich um »eine einzige eindeutige Grimasse« handle (ebd.). Insgesamt sieht BERGSON die »mechanische Verkrustung des Lebendigen« als die eigentliche Ursache des Komischen an:
»Stellungen, Gebärden und Bewegungen des menschlichen Körpers sind in dem Maße komisch, als uns dieser Körper dabei an einen bloßen Mechanismus erinnert« (ebd., 23).
Menschen, die verkrampft versuchen, ihren Körper bewusst zu kontrollieren, tragen zu dieser Mechanisierung bzw. Erstarrung bei: Sie werden zu unlebendigen »Holzpuppen« (ebd., 43), die ihre Lebendigkeit verlieren. Léon WURMSER (1993, 149) beschreibt, wie die Betroffenen diese Erstarrung selbst erleben: »Das subjektive Gefühl ist das eines gespannten, verkrampften, eisigen Gesichts. Die Physiognomie ist rigide und überkontrolliert. Außerdem kann die Gangart marionettenhaft sein.«
So werden die Betroffenen zu einer Sache bzw. einem Objekt. Diese Objektivierung ist für den Betroffenen grundsätzlich beschämend, wie Jean-Paul SARTRE (1993, 406) im Rahmen einer Phänomenologie der Bewusstseinstranszendenz feststellt:
»Ich schäme mich meiner, wie ich dem Anderen erscheine. Und eben durch das Erscheinen Anderer werde ich in die Lage versetzt, über mich selbst ein Urteil wie über ein Objekt zu fällen, denn als Objekt erscheine ich dem Anderen.«
Der Grund für diese Beschämung liegt immer auch darin, dass die entsprechende Objektivierung für den Betrachter belustigend ist: »Wir lachen jedes Mal, wenn eine Person uns wie eine Sache erscheint« (BERGSON ebd., 42).


3. Die Scham

3.1 Das skeptische Auge


Scham ist ein »archaischer« Affekt. Seine Funktion besteht darin, das betreffende Individuum vor einer Bloßstellung im sozialen Kontext zu schützen.
Für Léon WURMSER (1993, 74) ist Scham eine »spezifische Form der Angst, die durch die drohende Gefahr der Bloßstellung, Demütigung und Zurückweisung hervorgerufen wird«. Intentional betrachtet ist Scham eine Sicherungstendenz, die das Selbstwertgefühl vor (weiteren) unerträglichen Erschütterungen bewahren soll. Ihr Ursprung findet sich in einer affektiven Urhemmung, die WURMSER (ebd., 157ff.) auf das schmerzliche Erleben eines »absoluten Liebesunwertes« zurückführt.

Das Medium der Scham ist das internalisierte skeptische Auge, das ursprünglich auf den »bösen Blick« der elterlichen Bezugspersonen zurückgeht. Dieses skeptische Auge wird auf die aktuellen Sozialpartner projiziert, das heißt, es wird externalisiert. Friedrich NIETZSCHE (1980, Bd. III, 1204) schreibt in diesem Zusammenhang:
»Jenes Gefühl: 'Ich bin der Mittelpunkt der Welt!' tritt sehr stark auf, wenn man plötzlich von der Schande überfallen wird; man steht dann da wie betäubt inmitten einer Brandung und fühlt sich geblendet wie von einem großen Auge, das von allen Seiten auf uns und durch uns blickt.«
Die Angst vor dem skeptischen Auge hat in der Regel eine übersteigerte Selbstbeobachtung und Selbstkontrolle zur Folge. Diese schamspezifische Sicherungstendenz folgt dem Motiv, das eigene Ich vor einer (weiteren) beschämenden Objektivierung zu bewahren. Dabei sind die Betroffenen in einer hoch sensitiven Weise auf jegliche Hinweise einer möglichen sozialen Zurückweisung ausgerichtet: Weil das menschliche Antlitz ein primäres Kommunikationsorgan ist (vgl. EKMAN 1988), gilt diese übermäßige Aufmerksamkeit gerade jenen mimischen Hinweise, die Ablehnung und Verachtung bekunden (vgl. LEWIS 1992). Diese Hyperreflexion (FRANKL 1984, 44ff) führt in letzter Konsequenz zu einer muskulären Anspannung, die dem Betroffenen den schon erwähnten Habitus einer unlebendige Holzpuppe verleiht: Man spricht deshalb auch von einem Pinocchio-Komplex (vgl. TITZE 2007, Kap.9; 2009, 31ff).


3.2 Die Maske der Scham

Scham hat - in einem ganz konkreten Sinn - mit dem »angesehen Werden« und der daraus resultierenden Bewertung durch Andere zu tun. Im übertragenen Sinne leitet sich hieraus dann das gesellschaftliches »Ansehen« ab: Denn so, wie ich dem Anderen erscheine, wird sich dieser sein Bild von mir machen. Diese Bewertung, die sich wiederum im Gesicht des Anderen spiegelt, bestimmt sodann das eigene »Image«: entweder als positive Einschätzung eigenen Ansehens (was sich gewöhnlich in einem bestätigenden, freudigen Lächeln zeigt) oder als Entwertung des eigenen Selbstwerts (was sich in einem mimischen Ausdruck zeigt, der Anzeichen von Desinteresse, Antipathie und Verachtung beinhaltet). Ein unverkennbarer Hinweis auf Verachtung liegt dann vor, wenn die Gesichtszüge des Anderen die Form eines »dreckigen Grinsens« annehmen oder wenn dieser in ein höhnisches Lachen verfällt (vgl. TITZE 1998).

Diese beschämende Erfahrung führt gerade bei Menschen, die unter einer Gelotophobie leiden, zu einer weit reichenden Erstarrung. Dabei wird die »vollkommene Schmiegsamkeit« lebendiger Beweglichkeit, wie BERGSON (1921, 22) es formuliert, auf einen bloßen »Mechanismus« reduziert (vgl. 2.3). Die Flexibilität der Gesichtszüge gerinnt gleichsam zu einer Maske. So entsteht ein mimischer Ausdruck, der eine »einzige eindeutige Grimasse [ist]. Man möchte sagen, das ganze seelische Leben des Menschen sei in diesen Linien versteinert« (BERGSON ebd. 20). Diese »Maske der Scham« (WURMSER) ist für BERGSON ein unverkennbarer Ausdruck des Komischen.


3.3 Der Weg ins soziale Abseits

Wenn verobjektivierte Kinder dem Auslachen von Gleichaltrigen (»peers«) nicht anders zu begegnen wissen, als in eine passive Erstarrung zu verfallen, ist dies ein wichtiger Hinweis auf eine ernste soziale Störung. Die Ursache dieser Störung liegt häufig in einer spezifischen Familienstruktur, die Almuth SELSCHOPP-RÜPELL und Michael von RAD (1977, 356) wie folgt beschreiben:

(1) Es besteht eine überzogene Forderung an das Kind, sich allein den Eltern gegenüber loyal zu verhalten. Dies führt zu einer zu großen Bindung an die Familie, was wiederum unlösbare Konflikte mit außenstehenden Liebesobjekten nach sich ziehen kann.
(2) Oft lassen sich ein pseudostarker Vater und eine instabile, unzuverlässige Mutter finden.
(3) Bestimmend ist eine überzogene und unnachgiebige normative Ideologie (bezüglich dessen, was im Rahmen der Familie richtig und falsch zu sein hat), sowie der unerschütterliche Glaube an die eigene Güte und Selbstlosigkeit lassen auf Seiten der Eltern kaum eine rationale Selbstkritik entstehen.

Wenn sich das Kind den normativen Forderungen der Eltern nicht fügt, können diese mit beschämenden Bestrafungen reagieren. Dazu gehört zunächst eine spezifische Mimik, die NIETZSCHE (1980, Bd. II, 72) trefflich beschreibt: »Ein kalter Blick, ein verzogener Mund von Seiten derer, unter denen und für die man erzogen ist, wird auch von Stärksten noch gefürchtet.« Außerdem gehören, neben einer konsequenten Nichtbeachtung, vor allem auch ironische/sarkastische Bemerkungen zu diesen Bestrafungen. Leslie M. JANES und James M. OLSON (2000, 476) bemerken, dass gerade das lächerlich Machen ein Kind dazu bringt, sich den elterlichen Erwartungen zu fügen.

So wird die idiosynkratische Struktur der Familie einerseits stabilisiert, gleichzeitig verlieren solche Kinder aber den Bezug zu außerfamiliären Sozialisationsagenturen. Dies hat zur Folge, dass der Erwerb sozialer Kompetenzen stark beeinträchtigt wird und diese Kinder auf die Anderen komisch wirken können (TITZE 2007, 139ff.; 2009, 32ff). Infolge der Identifikation mit der privaten Wertewelt ihrer Eltern, mangelt es ihnen zunehmend an jenem sensus communis, den Immanuel KANT (1968, 219) als Voraussetzung für die normale Teilhabe am Gemeinschaftsleben ansieht. Wer darüber nur unzureichend verfügt, fällt unweigerlich »aus den 'Spielregeln' mitmenschlichen Verhaltens heraus«, wie Wolfgang BLANKENBURG (1969a, 149) es formuliert.

BERGSON (1921, 98) geht ebenfalls davon aus, dass das Komische als Folge der Nichtbeachtung sozialer Übereinkünfte entstehe: Komisch wird der sozial Isolierte •4, weil dieser durch sein Abweichen von der Durchschnittsnorm auffällt. Dabei handelt es sich nicht um moralische Normverstöße, sondern um eine Verletzung der impliziten Spielregeln sozialen Zusammenlebens. Diese kann nur der gesellige Mensch wirklich beherrschen. Kinder und Jugendliche, die - allein aufgrund mangelnder Übung - nicht (oder nur unzureichend) über die Fähigkeit verfügen, die normativen Erwartungen Gleichaltriger zu antizipieren bzw. zu verstehen, werden sich zwangsläufig unangemessen bzw. »komisch« verhalten. Sie gelangen in aller Regel in die beschämende Position des lächerlichen Außenseiters (vgl. TITZE 2009, 32ff.).


3.4 Die Pubertät

Es gibt keine weitere Entwicklungsphase, in der das Bedürfnis nach Gruppenzugehörigkeit so stark ist wie in der Pubertät. Dies ist durch die Notwendigkeit motiviert, dass der Jugendliche zu einer neuen Identität findet. In diesem Zusammenhang tritt die Bezugsgruppe (»Clique«) gleichaltriger Freunde (»peers«) normaler Weise an die Stelle des Elternhauses. Mit den Werten, Idealen und Idolen dieser Bezugsgruppe beginnt sich der Jugendliche mehr und mehr zu identifizieren. Er übernimmt die dort gängigen Ausdrücke und Gesten. Er gleicht sich geschmacklich den herrschenden Vorlieben im Hinblick auf Kleidung, Musik und Freizeitaktivitäten an (vgl. TITZE 2007, 169ff.). Im Rahmen der Bezugsgruppe lassen sich konkrete, realitätsnahe Beziehungen herstellen. Hier lässt sich eine emotionale Nähe erleben, die manche Defizite aus der früheren Beziehung zu den Eltern zu korrigieren vermag. Diese intime Nähe zu gleichaltrigen Freundinnen und Freunden ist für die Entwicklung des Jugendlichen von größter Bedeutung. Sie kann aber auch Ursache für neue Beschämungen sein. Wenn es einem Jugendlichen in dieser Zeit nämlich nicht gelingt, sich mit den Idealen einer außerfamiliären sozialen Bezugsgruppe zu identifizieren, kann dies häufig zu einer beschämenden Identitätsdiffusion führen. Erik ERIKSON (1971, 115) schreibt:
»Wenn ein junger Mensch eine solche intime Beziehung zu anderen in der Jugendzeit oder frühen Erwachsenenzeit nicht fertig bringt, wird er sich entweder isolieren oder bestenfalls nur sehr stereotype und formale zwischenmenschliche Beziehungen aufnehmen können.«
Doch es ist nicht nur die schwärmerische Liebe, die sich in dieser Zeitspanne zu entwickeln beginnt. Es sind auch »heiße Affekte« die ausgelebt werden wollen. Dabei verschmilzt die erwachende Sexualität mit einer impulsiven Aggressivität zu einem Geltungsstreben und Imponiergehabe, das immer auch mit intensivem Lachen einher geht. ERIKSON (1992, 257) bemerkt, dass die »klanhaften Empfindungen junger Leute zu grausamen Handlungen gegenüber Außenseitern führen können.« Eine Erklärung dafür findet sich wiederum bei BERGSON (1921, 7), der das Lachen über das Komische auf eine »Anästhesierung des Herzens« zurückführt. Dieses Lachen werde gewöhnlich durch einen Außenseiter hervorgerufen, der als komisches Objekt behandelt wird: »Das Komische entsteht, scheint es, wenn eine Anzahl als Gruppe zusammengehöriger Menschen ihre Aufmerksamkeit alle auf einen lenken und ihr Gefühl beiseite schieben [...]« (ebd., 9).


3.5 Der Narr als Sündenbock

Ein aggressiv getöntes Lachen kann erheblich zur Stärkung des eigenen Selbstwertgefühls beitragen. Daneben schweißt ein solches Lachen die Mitglieder der Bezugsgruppe gerade dann zusammen, wenn die Zielscheibe dieses Lachens ein komischer Außenseiter ist, der die Rolle eines Sündenbocks einnimmt (vgl. 2.1).

Orin KLAPP (1950) bezeichnet den komischen Außenseiter als »Narren«. Für die Gesellschaft »repräsentiert der Narr Merkmale, die von der sozialen Gruppe abgelehnt werden: Inkompetenz, Versagen und Fiasko« (MARTINEAU, 1972, 106). So fällt ihm die Aufgabe zu, als ein negatives Beispiel für diejenigen zu dienen, die um eine Integration in ihre Bezugsgruppe bemüht sind. In der Funktion des Sündenbocks fungiert der Narr als Projektionsobjekt für die abgewehrten Schwächen und Mängel derjenigen, die zur Gruppe gehören (wollen).

Auf diesen Effekt zielte die antike Komödie ebenso ab wie die Narrenspiele und Possen des Mittelalters, in denen der Narr (der Vorläufer des modernen Clowns) die sozial wichtige Rolle des inkompetenten Tölpels spielt: Dabei bietet er sich - wie das unwissende Kind - geradezu ideal für einen Abwärtsvergleich (vgl. 1.3) an. Die moderne Comedy-Szene (mit einer Mischung aus Show, Talk, Action und spöttischem Zynismus) offeriert ebenfalls zahllose Gelegenheiten zu lustvoll-belustigenden Abwärtsvergleichen mit Menschen, die unfreiwillig in die Position des lächerlichen Narren gebracht wurden. Dabei spielen die Comedy-Stars hemmungslos auf der Klaviatur hämischer Schadenfreude (vgl. RÖCKE & VELTEN 2005).


4. Empirische Studien zur Gelotophobie

4.1 Facetten der Gelotophobie

Das Phänomen der Gelotophobie wurde erstmals 1995 (TITZE 2007) beschrieben und mit Hilfe von 8 Facetten operationalisiert. Die entsprechenden Aussagen wurden in den GELOPH 46e •5 integriert:

(1) Traumatisierende Erfahrungen mit herabsetzendem Lachen (= Auslachen) in frühen Phasen der Lebensgeschichte:
»Während meiner Pubertät habe ich den Kontakt zu Gleichaltrigen gemieden, um von diesen nicht verspottet zu werden.« - »In der Schule wurde ich häufig gehänselt.« - »Einige meiner Lehrer machten sich im Unterricht über mich lustig, wenn ich schlechte Leistungen brachte.« - »Meine Mutter bzw. mein Vater straften mich regelmäßig durch ironische/sarkastische Bemerkungen.«

(2) Angst vor dem Humor der Anderen:
»Wenn ich von jemandem ausgelacht wurde, kann ich mit diesem Menschen nie wieder unbefangen umgehen.« - »Wenn scherzhafte Bemerkungen über mich gemacht werden, fühle ich mich wie gelähmt.« - »Es dauert sehr lange, bis ich mich davon erhole, von anderen ausgelacht worden zu sein. - »Wenn ich von jemandem ausgelacht wurde, kann ich mit diesem Menschen nie wieder unbefangen umgehen.« - »Es dauert sehr lange, bis ich mich davon erhole, von anderen ausgelacht worden zu sein.« - »Anderen Menschen bereitet es Vergnügen, mich in eine peinliche Situation zu bringen.« - »Schlagfertigen und humorvollen Menschen gegenüber empfinde ich Minderwertigkeitsgefühle.«

(3) Paranoide Empfindsamkeit gegenüber Verspottungen:
»Wenn in meiner Gegenwart gelacht wird, werde ich misstrauisch.« - »Wenn Fremde in meiner Gegenwart lachen, beziehe ich dies häufig auf mich.« - »Blickkontakt zu halten fällt mir schwer, weil ich mich davor fürchte, abschätzig beurteilt zu werden.« - »Wenn andere Menschen spüren, dass ich mich unwohl fühle, fangen sie an, mich zu verachten.« - »Wenn mir jemand zulächelt, könnte eine böse Absicht dahinter stecken.«

(4) Kritische Selbstbeurteilung des eigenen Körpers:
»Wenn ich mich vor anderen blamiert habe, erstarre ich völlig und bin unfähig, mich angemessen zu verhalten.« - »Beim Tanzen fühle ich mich unwohl, weil ich überzeugt bin, dass ich auf diejenigen, die mich dabei beobachten, lächerlich wirke.« - »Ich kontrolliere mich stark, um nicht unangenehm aufzufallen und mich dadurch lächerlich zu machen.« - »Wenn ich von anderen verspottet werde, verliere ich meine Fassung und bin nicht mehr fähig, meine Bewegungsabläufe angemessen zu steuern.« - »Meine Körperhaltung und meine Bewegungsabläufe sind irgendwie komisch.«

(5) Kritische Selbstbeurteilung eigener verbaler und non-verbaler kommunikativer Kompetenzen:
»Wenn ich nicht Angst hätte, mich lächerlich zu machen, würde ich in der Öffentlichkeit viel mehr sprachen.« - »Ich glaube, dass ich auf andere komisch wirke.« - »Vorstellungsrunden bereiten mir große Angst, weil ich stottern, erröten oder sonst wie unangemessen reagieren könnte.« - Wenn ich einen Witz erzähle, kann ich plötzlich Herzklopfen oder eine belegte Stimme bekommen. - »Wenn ich mich an Diskussionen beteilige, empfinde ich meine Argumente als lächerlich.« - »Wenn ich mich am Telefon verhaspele, stelle ich mir sofort das verächtlich grinsende Gesicht meines Gesprächspartners vor. Ich gerate dann in Panik.«

(6) Sozialer Rückzug:
»Obwohl ich mich häufig einsam fühle, neige ich dazu, sozialen Aktivitäten aus dem Wege zu gehen, um mich vor Verspottungen zu schützen.« - »Wenn ich irgendwo einmal peinlich aufgefallen bin, meide ich diesen Ort konsequent.« - »Im Karneval vermeide ich es, mich am närrischen Treiben zu beteiligen, weil ich mich innerlich verkrampfe.«

(7) Interaktion mit den Anderen:
»Gerade dann, wenn ich mich relativ unbeschwert fühle, ist die Gefahr besonders groß, dass ich unangenehm auffalle und auf andere komisch wirke.« - »Ich bin für andere nur dann akzeptabel, wenn ich in keiner Wiese unangenehm auffalle.« - »Es ist mir nicht möglich, mit Menschen, die mich erotisch ansprechen, unbefangen zu flirten.« - »Manche Menschen, die mich als lächerlich wahrnehmen, empfinden Mitleid mit mir.« - »Wenn ich in Gegenwart anderer gelobt werde, schäme ich mich und verhalte mich komisch.«

(8) Minderwertigkeitsgefühle und Neid, die aus dem Vergleich mit den Humorkompetenzen der Anderen entstehen:
»In Gesellschaft fröhlicher Menschen fühle ich mich häufig unwohl, weil ich fürchte, nicht mithalten zu können.« - »Wenn ich im Fernsehen fröhlich lachende Menschen sehe, die unbeschwert miteinander feiern, werde ich neidisch.«


4.2 Validierung des Gelotophobie-Konzepts

In Rahmen eines Forschungsprojekts unter Leitung des Züricher Psychologen Willibald RUCH (vgl. RUCH 2009) wurde die allgemeine Verbreitung von Gelotophobie untersucht. Dabei wurde ermittelt, dass Gelotophobiker nicht zwischen einem freundschaftlichen und feindseligen Lachen unterscheiden können und dass sie auf jedes Lachen mit negativen Gefühlen wie Scham, Furcht und Ärger reagieren (PLATT 2008; RUCH, ALTFREDER&PROYER 2009). Die Fähigkeit, Freude zu empfinden und sozial kohäsive Formen von Humor zu entwickeln ist eingeschränkt (RUCH, BEERMAN&PROYER 2009). Die meisten Gelotophobiker erinnern sich an peinliche Kindheitssituationen, in denen sie von ihren Bezugspersonen verspottet und ausgelacht wurden (PROYER, HEMPELMANN&RUCH 2009).


4.3 Internationale Gelotophobie-Studie

Psychologen aus 73 Ländern beteiligten sich an einer Studie, an der rund 23000 Probanden teilnahmen (mindestens 100 Männer und 100 Frauen pro Land). Die beteiligten Probanden sollten die Aussagen des GELOPH 15 (der in 42 Sprachen übersetzt wurde) individuell einschätzen. Ziel dieser Studie (PROYER et al. 2009; GAIDOS 2009) war es zunächst abzuklären, wie stark Gelotophobie in den verschiedenen Regionen der Welt verbreitet ist.

Es zeigte sich, dass Gelotophobie tatsächlich in allen Ländern, die in die Studie eingebunden waren, vorzufinden ist. Sie ist in solchen Ländern stärker vertreten, wo das Wohlergehen des Kollektivs höhere Priorität einnimmt und die Interessen des Individuums denen der Gruppe untergeordnet werden. In Asien (z.B. Thailand, Turkmenistan, Indonesien, Japan) ist die Verbreitung von Gelotophobie am höchsten: Dies könnte auf das kulturell bedingte Imperativ zurückgeführt werden, das eigene »Gesicht wahren« zu müssen.

Im einzelnen zeigte sich eine hohe Prävalenz von Gelotophobie (über 10%) zum Beispiel in Turkmenistan, Malaysia, Gabun, Japan, Großbritannien und den USA. Eine niedere Verbreitung (unter 10%) zeigte sich zum Beispiel in Argentinien, Spanien, Chile, Dänemark und Norwegen.


Fussnoten

•1 Nach einer Untersuchung von de BOOIS (2009, 2) handelt es sich bei einer Sozialphobie um die generalisierte Angst vor sozialer Zurückweisung, während eine Gelotophobie als eine »spezifische Angst vor sozialer Zurückweisung [zu verstehen ist], die auf Lachen als Stimulus zurückgeht: Alle Gelotophobiker sind auch Sozialphobiker, aber nicht alle Sozialphobiker sind Gelotophobiker.«


•2 Wolfgang PREISENDANZ (1974, 890) bemerkt, dass die Begriffe des Lächerlichen und des Komischen eigentlich austauschbar seien: »Dies zeigt sich vor allem in der etwa seit 1700 dichten Folge der Theorien des Lachens, die zumeist eine Theorie des K[omischen] implizieren oder explizieren, ohne doch allemal die Unterscheidung von 'ridiculous' bzw. 'risible' und 'comic' zu 'ludicrous' zu beachten und zu reflektieren.«


•3 Für die alten Griechen war die Komödie der Rahmen, in dem sich das Komische entfalten konnte. Das Wort als solches leitet sich von komos ab, jener Prozession, in der zu Ehren von Dionysos ein überdimensionaler Phallus getragen und obszöne Lieder gesungen wurden (vgl. GIANGRANDE 1963). PALMER (1994, 32) erwähnt, dass die - in der Regel stark betrunkenen - Teilnehmer dieser Prozession einen oft obszönen Humor an den Tag legten. GREGORY (1924, 109) schreibt, dass der Betrunkene, die Grenzlinie menschlicher Würde überquert: »Wir erwarten zunächst, dass er sich der Betrunkene wie ein Mensch verhält, um dann festzustellen, dass er nur ein Säufer ist.« Diese Ambivalenz findet sich auch in der Figur des Dionysos: Einerseits war er der verehrte Patron der Fruchtbarkeit und des Vergnügens, andererseits galt er auch als gefürchteter Verursacher von Schrecken. Es ist anzunehmen, dass die befremdlichen Bewegungen der betrunkenen Dionysos-Anhänger auf die Zuschauer solcher Prozessionen »komisch« gewirkt haben. Ihre zunächst wohl spontane Nachahmung, führte zur allmählichen Entwicklung des komischen Schauspiels.


•4 J. C. GREGORY (1924, 73) vermutet, dass Isolation per se einen lächerlichen Effekt bewirke: »Wenn wir ein beliebiges Objekt - als partikulären Körper eines Menschen, eines Pferdes, einer Kohlrübe, eines Blumentopfs oder eines Schirmes - aus dem Beziehungsgefüge der Welt herauslösen und über dieses abgesonderte Objekt an sich zu meditieren beginnen, wird es sofort eine komische Qualität annehmen [...]«


•5 Dieser ursprüngliche Fragebogen umfasst 46 Aussagen, die von den Probanden mit Hilfe von 4 Antwortmöglichkeiten (trifft gar nicht zu - trifft eher nicht zu - trifft etwas zu - trifft sehr zu) eingeschätzt werden sollen (vgl. RUCH&PROYER 2008a; RUCH&TITZE 1998; TITZE 2009 ). Daraus wurde die Kurzform eines Gelotophobie-Fragebogens abgeleitet, der nur noch 15 Aussagen enthält (GELOPH 15; vgl. RUCH&PROYER 2008b): Die Aussagen des GELOPH 15 sind in obigem Text kursiv gesetzt.


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