Landauf, landab werden in diesen Tagen Menschen auf Karnevalssitzungen durch den Kakao gezogen. Westfalen lachen über Sachsen, Männer über Frauen und alle zusammen über Christian Wulff. Für Spott brauchte dieser schon seit Wochen nicht mehr zu sorgen und inspirierte nun die Jecken. Jetzt wurde es ihm offenbar zu bunt. Dabei hatte er vor seinem Rücktritt erstaunlich lange kühl auf die Sticheleien reagiert.
Viele Leute haben ein weniger dickes Fell. Manche packt regelmäßig panische Angst, verspottet zu werden. Als Gelotophobiker bezeichnet man Menschen, die krankhaft befürchten, ausgelacht zu werden. Für sie ist Lachen kein Spaß und auch nichts, was das Gemeinschaftsgefühl fördert. Beim Thema Lachen denken sie nicht an wohltuende Heiterkeit und auch nicht an eine mögliche Stärkung des Immunsystems. Lachen ist für sie etwas Bedrohliches. Stets haben sie Angst, dass ausgerechnet sie selbst die Ursache dafür sind, dass andere den Kopf in den Nacken werfen, die Gesichtsmuskeln anspannen, den Mund aufreißen und kurze bellende Laute ausstoßen. Feuchtfröhlichen Faschingssitzungen gehen Gelotophobiker von vornherein aus dem Weg.
»Ein Betroffener verglich menschliches Lachen einmal mit dem Gegacker von Hühnern, es war ihm unangenehm. In den Ohren eines anderen klingt es wie ein Maschinengewehr«, sagt Willibald Ruch. Der Psychologe an der Universität Zürich untersucht mit seinem Team den Humor und die Reaktionen, die er hervorruft. Dazu gehören die Lust, andere zum Lachen zu bringen, aber ebenfalls der Drang, andere zu verlachen. Oder eben die Angst, zur Zielscheibe allgemeinen Gespötts zu werden.
Die Zürcher Psychologen haben zwanzig verschiedene Arten des Lachens aufgenommen und einer Versuchsgruppe vorgespielt. Dabei konnten sie beobachten, dass Gelotophobiker kaum zwischen wohlmeinendem und hämischem Lachen unterscheiden können. Sie schätzen selbst ein herzliches Lachen als neutral ein, wenn nicht sogar als negativ. »Für die Betroffenen ist das Lachen immer eine Waffe«, berichtet Ruch. Wenn Gelotophobiker, ohnehin meist introvertierte Charaktere, dem Gelächter nicht ausweichen können, erröten sie, bekommen Herzrasen und Harndrang ? körperliche Reaktionen, die Forschern von anderen Angstkrankheiten bekannt sind.
In diesem Zusammenhang wurde die Gelotophobie überhaupt erst entdeckt. Der Tuttlinger Psychologe Michael Titze hat in der stationären Psychiatrie und später in seiner Praxis Angstpatienten aller Art behandelt. Irgendwann fiel ihm auf, dass die Angst, lächerlich zu wirken, bei vielen Patienten dazukam: »Jeder Dritte meiner Patienten sprach unentwegt von seiner Wirkung nach außen und von seinem Image.« Titze prägte daraufhin den Begriff Gelotophobie, abgeleitet vom griechischen gelos, Lachen, und phobia, Angst. Das war 1995.
Titze stellt fest, dass der Angst seiner Patienten stets Erlebnisse vorausgingen, die sie als traumatisch empfanden. Er arbeitet mit Methoden der Tiefenpsychologie, erkundet in Therapiegesprächen die weit zurückreichende Vergangenheit seiner Patienten. Deren Traumata stammten häufig aus Kindheit und Jugend, sagt Titze. Gelotophobie entstehe aus einem Schamgefühl heraus. »Es ist die subjektive und irrationale Furcht, in den Augen der anderen lächerlich zu wirken.«
Die Scham wird früh geprägt. »Sie tritt auf, wenn Kinder vermittelt bekommen, dass sie nicht in Ordnung sind, so wie sie sind«, berichtet Michael Titze. Viele Gelotophobiker stammen aus Familien, in denen die Eltern mit dem Nachwuchs nach außen hin glänzen wollten. Wenn die Kinder dem narzisstischen Anspruch ihrer Eltern nicht gerecht wurden, in der Schule schlechte Noten bekamen oder nicht Klavier spielen wollten, wurden sie mit Liebesentzug bestraft. »Dass sie hämisch belächelt oder verhöhnt wurden, kommt in den Therapiegesprächen immer wieder zur Sprache«, sagt Titze. Die Kinder hätten die Rollen kleiner Erwachsener spielen müssen, hätten zunehmend wie hölzerne Pinocchio-Figuren gewirkt und damit erst recht Spott auf sich gezogen, besonders den der Gleichaltrigen. Das setzte einen Teufelskreis in Gang, die Phobie konnte sich festigen.
So suchte beispielsweise eine 30 Jahre alte Frau Hilfe bei Michael Titze. Sie wies verschiedene psychosomatische Symptome auf, litt unter Schlafstörungen und Paranoia. Ihre alleinerziehende Mutter war aus Osteuropa eingewandert und blieb gesellschaftlich isoliert. Die Tochter wurde ihre wichtigste Bezugsperson, musste den Partner und die Heimat ersetzen. Eine Rolle, der das Kind nicht gewachsen war. Das Mädchen war überfordert, verhielt sich nach außen steif und gehemmt. In der Schule wurde die Außenseiterin von den Klassenkamera-den gehänselt: Sie rieche nach Knoblauch, riefen sie, hielten sich den Schulranzen vors Gesicht, um ihren Anblick zu vermeiden und lachten sie hemmungslos aus. Das Mädchen zog sich zunehmend zurück, wurde teilnahmslos. Irgendwann geriet es in Panik, sobald jemand überhaupt nur lächelte.
Wie in diesem Fall ist Gelotophobie oft eine späte Reaktion auf Erwartungszwänge. Die Anforderung an den Einzelnen, besonders schön oder erfolgreich zu sein, kann ihn leicht überfordern. Wenn es nicht gelingt, das Ideal zu erreichen, kann eine Schamdepression die Folge sein«, sagt Titze. Diese kann sich unterschiedlich äußern: in Form von Magersucht, Fettsucht oder eben Gelotophobie.
Erst seit fünf Jahren interessieren sich empirisch arbeitende Forscher überhaupt für das Phänomen. Doch auch sie kommen nicht ohne Selbsteinschätzungen ihrer Probanden aus. In ihren Fragebögen heißt es beispielsweise: Gehen Sie Situationen aus dem Weg, in denen Sie verspottet werden könnten? Befürchten Sie, beim Tanzen lächerlich auszusehen? Sind Sie eher steif als spontan? Das Zürcher Team um Ruch steht kurz vor dem Abschluss einer weltweit angelegten Studie, für die 23.000 Teilnehmer aus 73 Ländern Fragen dieser Art beantwortet haben. Das vorläufige Ergebnis: Gelotophobie tritt offenbar weltweit auf. Aber in ganz unterschiedlichem Ausmaß. So fürchten in den meisten westlichen Industrienationen zwischen zwei und vierzehn Prozent der Menschen, dass ständig über sie gelacht wird, während es in manchen afrikanischen und asiatischen Ländern gar doppelt so viele sind.
Auch für die kulturellen Unterschiede ist die Scham verantwortlich, wie der britische Soziologe Christie Davies erklärt. Die Menschen hätten in jenen Ländern mehr Angst davor, ausgelacht zu werden, in denen Werte , eher kollektivistisch sind und die Gesellschaft stärker hierarchisch organisiert ist. »Das Selbstwertgefühl des Einzelnen hängt dort stärker als im individualistischen Westen davon ab, was die Gruppe über ihn denkt. Das kann die Familie sein, die Schulklasse oder die Firma'', sagt Davies. Zudem nähmen sich die Menschen als Repräsentanten der Gruppe wahr, Spott an ihnen käme dann dem Gesichtsverlust des Kollektivs gleich.
Nicht jede Art von Scham und nicht jede Angst vor dem Ausgelachtwerden sind krankhaft. Pathologisch wird es erst, wenn der Mensch von der Angst überwältigt wird und sein gesamtes Handeln an ihr ausrichtet, beispielsweise Versammlungen und Mitmenschen meidet und sich vor der betrieblichen Weihnachtsfeier regelmäßig krankschreiben lässt. In seltenen Fällen kann die Angst auch zu Wut- und Gewaltausbrüchen führen, wie Michael Titze beobachtet hat. Er vermutet, dass die Gelotophobie selbst bei Amokläufen eine Rolle spielen kann: »Einer der Schulattentäter von Littleton zum Beispiel sagte in der Nacht vor dem Amoklauf, dass die Leute sich ständig über sein Gesicht lustig machten.«
Dass ein Mensch sich nicht gerne zum Gespött der Leute macht, ist in gewissem Umfang völlig normal. Zumal es nicht so abwegig ist, Humor zu fürchten. Gelacht wird schließlich oft auf Kosten anderer, und Zynismus ist eine aggressive Form des Humors. Beim Lachen zeigen sich Menschen die Zähne und unterscheiden sich so von den Primaten: Diese haben eine Art zu hecheln, die häufig als Vorstufe des Lachens betrachtet wird. Zähne werden dabei nicht sichtbar. »Unter Schimpansen ist Lachen ein Signal dafür, dass sie spielen; sie lachen jedenfalls nicht, wenn der Häuptling vom Baum fällt«, sagt Willibald Ruch. Schadenfreude ist eine Erfindung des Menschen. Nur er lacht andere aus. Und das kann dann den besten Freund oder ebenden Bundespräsidenten treffen.
Als Horst Köhler sein Amt aufgab, kam das damals für viele überraschend. Doch auch seinem Rücktritt waren spöttische Bemerkungen vorausgegangen. Als »Schlossgespenst« war er bezeichnet worden, als »Schwadroneur im Schloss Bellevue«. Köhlers Schmerzgrenze war offenbar erreicht »Das heißt nicht, dass der Grad an Gelotophobie bei Horst Köhler besonders stark ausgeprägt sein muss. Aber offenbar besitzt er in dieser Hinsicht eine höhere Empfindlichkeit als Christian Wulff. Der hat sich dem Hohn wesentlich länger und anscheinend schmerzfrei ausgesetzt«, kommentiert Michael Titze aus psychoanalytischer Sicht das jüngste Drama in Berlin.
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