connection, März/April 2/2001
Der Scham ins Gesicht lachen (gekürzt)
Von Udo Berenbrinker und Jenny Karpawitz

Soziale Phobien sind in unserer heutigen Gesellschaft ein wachsendes Problem. Wie man in den Augen an derer gesehen wird, sei wichtiger als alles andere, sagt die Stimme der Perfektion und des Vollkommenheitswahns. Zu diesen sozialen Phobien gehört auch die »Gelotophobie«, die Angst, ausgelacht zu werden. »Wir leben in einer Zeit, in der Idealnormen immer wichtiger werden«, meint der Psychologe Dr. Michael Titze hierzu. Er und die therapeutische Clownin Erika Kunz, die Begründer des »Therapeutischen Humors« in Deutschland, setzen bei der Therapie dieses Phänomens auf die Trotzmacht des Lachens«. Bei dieser Methode und dem daraus entwickelten »Humordrama« werden »Man-muss-Vorstellungen« bewusst missachtet und damit relativiert. Gehemmte und blockierte Menschen finden auf diese Weise wieder zu ihrer Lebenskraft zurück. Als ungewöhnlicher methodischer Griff wird der therapeutische Clown als Co-Therapeut in der Gruppentherapie eingesetzt - und bricht hei den Klienten sämtliche Anstandsregeln!

Beschämende Erniedrigungen (»Du bist nicht gut genug, nicht liebenswert etc.« haben bei vielen Menschen dazu geführt, dass sie versuchen, Situationen auszuweichen, in denen sie beurteilt werden könnten. Das kann sich zu einer extremen Angst, ausgelacht zu werden (Gelotophobie genannt) steigern.

Das Pinocchio-Syndrom

Ist der Rückzug nicht immer möglich - was z.B. im Berufsleben der Fall ist - und mehren sich die Situationen des Ausgelachtwerdens und damit auftretende Schamgefühle, kann dies zu einer neurotisch gesteigerten Selbstkontrolle und Selbstbeobachtung führen. Die Muskulatur verspannt sich. Körper und Mimik versteinern - der Betroffene entwickelt einen hölzernen Gang. Die Medizin bezeichnet diesen Effekt in Anlehnung an den aus der Literatur bekannten kleinen hölzernen Hampelmann Pinocchio als »Pinocchio-Syndrom«.

Etwa das pummelige Mädchen, das immer den vollgehäuften Teller leer essen musste. Es wurde von ihren sportlichen Mitschülerinnen wegen ihres Übergewichts verhöhnt. Oder der Bettnässer, dessen Vater das beschmutzte Laken heraushängt und so der Nachbarschaft vorführt, was für ein Versager sein Kind ist. »Gut zu sein genügt nicht mehr. Die Erziehung zur überwertigen Leistung mit dem Ziel der Vollkommenheit setzt in der Kindheit ein.« (Dr. Michael Titze).

Dieser Druck in unserer Überbietungsgesellschaft hat vor löst nicht nur Versagensängste aus, sondern auch den Zwang zum überkontrollierten Denken und Handeln. Die Angst, etwas falsch zu machen, zu versagen und ausgelacht zu werden, herrscht vor. »Reduktion zum Wenigen« lautet daher der therapeutische Rat.

Humor ist das umgekehrt Erhabene

Die Bedeutung des Humors wurde in den letzten Jahren im therapeutischen Bereich immer mehr erkannt. Fast alle psychotherapeutischen Richtungen integrieren Humor in der Definition von Jean Paul: »Humor ist das umgekehrt Erhabene.« Das Große wird zum Kleinen und das Kleine zum Großen. Deshalb können alle festen Bezüge aufgehoben werden, den vor der »Unend lichkeit sind wir alle gleich«. Dr. Michael Titze: »Alles wird als relativ genommen. Alles, was großartig ist oder einmalig hingestellt wird, wird durch den Humor aus den Angeln gehoben. Deswegen ist in allen totalitären Regimes der Humor so gefürchtet.«

Der wichtigste Pionier im Hinblick auf Anwendung Therapeutischen Humors war der Wiener Psychiater Victor E. Frankl (1905-1997). Er benutzte in der von ihm entwickelten Logotherapie den Humor als eigenständige Methodik. Im Lachen zeigt sich nach Frankl die »Trotzmacht des Geistes«, die den Menschen auch unter widrigsten Bedingungen über sich hinauswachsen lässt. Dieser Glaube und die Bedeutung von Humor als »Waffe im Kampf der Seele um die Selbsterhaltung« ließ Frankl die Jahre im Konzentrationslager überleben.

Die paradoxe Intention als wichtigste Methode der Logotherapie hat zum Ziel, den Kreislauf von tiefem Misstrauen gegen die eigene Person (»Ur-Misstrauen») und übertriebener Selbstbeobachtung zu durchbrechen. Sie fordert den Patienten auf, »gerade das, wovor er sich so sehr fürchtet, wenn auch nur für Bruchteile von Sekunden kunden, zu intendieren, also paradoxerweise sich zu wünschen bzw. vorzunehmen. »Dabei ist Humor und Lachen ein ideales Hilfsmittel, denn nichts lässt den Patienten von sich selbst so sehr distanzieren wie der Humor. Der Patient soll lernen, der Angst ins Gesicht zu sehen, ja, ihr ins Gesicht zu lachen.« Ziel ist ein Einstellungswechsel zur Angst.

Diesen Gedanken entwickelte dann in den 60er Jahren die Provokative Therapie von Frank Farrelly (USA) weiter. Bei ihm ist Humor endgültig zum zentralen Therapiebaustein geworden. Farrelly geht davon aus, dass alle Patienten (auch solche, die schwer gestört sind) nicht hilflose Opfer Ihrer Vergangenheit und Kindheit sind, sondern sich für die Krankheit oder eine konstruktive Veränderung entscheiden können. Eine Änderung vollzieht sich aber nur, wenn der Patient über sich selbst lachen kann. Deshalb sind in der Provokativen Therapie die Therapeuten humorvolle Herausforderer. Sie konfrontieren den Patienten (humorvoll und ersichtlich) mit ihren eigenen Neurosen. Neben verbaler Übertreibung werden z. B. die Verhaltensweisen der Patienten übertrieben und verzerrt dargestellt. Dies bewirkt beim Patienten die Fähigkeit zum produktiven Handeln. Die Gefahr, ihn zu überfordern, ist dabei nicht so groß, wie allgemein befürchtet wird, denn das Lachen hilft über die anscheinende »psychische« Zerbrechlichkeit hinweg.

Der Clown als Co-Therapeut

Der Tuttlinger Psychotherapeut Dr. Michael Titze, Schüler von Victor E. Frankl, geht noch einen Schritt weiter. Er versucht die »humorvolle Intervention« weiterzutreiben, indem er die sprachliche Ebene verlässt und die Schamerfahrungen körperlich erlebbar macht.

Seit Ende der 80er Jahre bietet er den therapeutischen Humor im Rahmen der Gruppentherapie an und entwickelte, zusammen mit der Musikpädagogin Erika Kunz, das Humordrama. Er integrierte den Clown als Co-Therapeuten in seine Gruppentherapien. Dabei unterscheidet Dr.Titze - entsprechend der klassischen Zirkusaufteilung - zwei Clownfiguren. Zum einen den »Weißclown« (Harlekin, Pierrot), der die Vernunft, das Perfekte und somit die Erwachsenwelt vertritt. Demgegenüber steht der »Minimalclown« (Dummer August, Hanswurst), der gegen die Normen derErwachsenenwelt rebelliert. Der Minimalclown steht also den Idealen von Vernunft, Klugheit und Schönheit gegenüber und repräsentiert die Welt der Kinder.

Diese Figur des »Minimalclowns« führt Dr.Titze in seine Therapie ein, um mit seinen Klienten in die Kindheit zurückzugehen. Dabei ist die rote Nase ein wichtiges Ausdrucksmittel, die Welt der Erwachsenen auszuklammern und damit den Zwang zum Bessersein oder die Angst, etwas falsch zu machen, zurück zulassen. »Sobald sich ein Klient diese Nase aufgesetzt hat, nimmt er die Identität des Minimalclowns an, dessen Bestimmungszweck darin liegt, von allem weniger zu machen. Damit wird die Identität eines kleinen Kindes angenommen, dessen Können sich in eine anderen Sphäre entfaltet als der des Erwachsenenlebens. Denn es ist die Identität des un-verschämten Kindes, die vom Clown unentwegt vorgelebt wird.« (Titze/Eschenröder)

Der therapeutische Clown als Co-Therapeut unterstützt den Klienten. Er wird zum kindlichen Doppelgänger und hilft dem Patienten, im kindlichen unbefangenen Zustand zu bleiben. Durch diese Vorgehensweise gelingt es Michael Titze und Erika Kunz, während der Gruppentherapie die Patienten in die unbefangene und unschuldige Welt der eigenen Kindheit zurückzuführen, und Die schon erwähnten Schamerfahrungen der Vergangenheit und Gegenwart zu thematisieren. Dies geschieht auf eine sehr lustvolle und kreative Weise. Das Vorspielen - im Zusammenhang mit dem therapeutischen Clown - provoziert ein Lachen in der Gruppe. Diesmal allerdings mit einem wichtigen Unterschied: Wurde das Lachen bisher als Auslachen wahrgenommen, erlebt der Patient jetzt ein anerkennendes, bestätigendes Lachen. Dies ist die Voraussetzung für einen Abbau der Angst vor dem Ausgelachtwerden, dem Versagen, der Scham, etwas Falsches zu machen.