Dem Dressurgewissen ins Gesicht lachen
Von Michael Titze
[Psychologie und Gesellschaft - INTRA 8 (31), 1997, S. 18-23]
Im Humordrama werden »Man-muss«-Vorstellungen bewusst missachtet und so relativiert. Auf diese Weise gelingt es gehemmten Menschen, wieder sich selber zu werden. Als methodischer Kniff wirkt nebst der Therapeutln ein Clown in der Gruppentherapie mit - und bricht sämtliche Anstandsregeln.

Herbert S. wuchs als uneheliches Kind bei seinen Großeltern auf. Stets kam er sich als fünftes Rad am Wagen vor, fühlte sich nicht geliebt und spürte die Schande, die er seiner Familie bereitete. Der vernichtende Blick, den ihm seine Großmutter zuzuwerfen pflegte, wenn er nicht ganz ordentlich aß oder keine sauberen Fingernägel hatte, geht ihm noch heute durch Mark und Bein. Obschon längst erwachsen, leidet Herbert noch heute unter den Folgen seiner Kindheit. Multiple Versagensproblematik, so lautet die Diagnose des Psychologen. Diese kann ihn jederzeit heimholen in den Alptraum seiner Kindheit. Vor allein bei formalen Gesprächssituationen beginnt er schnell zu schwitzen, spürt, wie sein Herz zu rasen beginnt und er Atemnot bekommt. Der bloße Gedanke, jetzt sprechen zu müssen, ruft Panik hervor. Ähnliche Ohnmachtsempfindungen treten auf, wenn Herbert vor den Augen eines kritischen Bankangestellten oder Hotelportiers ein Formular unterschreiben soll, oder wenn er bei einem Bankett den Suppenlöffel oder die Kaffeetasse zum Mund führen will. Herbert ist kein Einzelfall, doch ihm konnte in einer Gruppentherapie geholfen werden. Das entscheidende therapeutische 'Werkzeug' war das Humordrama, bei dem ein »therapeutischer Clown«, als Co-Therapeut fungierte.

DIE ROLLE DES CLOWNS

Seit jeher war der Clown, bzw. 'Schelm' eine Symbolfigur für eine Lebenseinstellung, die sich an den affektiven Impulsen ursprünglichen Kindseins orientiert. Im Sinne der Psychoanalyse lebt der Clown bedenkenlos das Lustprinzip aus. Dabei stellt er in einer ständigen, trotzigen Opposition gegenüber den normativen Sollensforderungen des Erwachsenenlebens bzw. des Realitätsprinzips. Alles, was der Clown versinnbildlicht, gehört auch zur Erlebniswelt eines kleinen Kindes: Es sind dies eine motorische Unbeholfenheit und Tolpatschigkeit, eine Unvernunft (die aus der Erwachsenenperspektive dümmlich erscheinen mag), das lustvolle Ausleben sadistischer und obszöner Impulse sowie eine verbale Unvollkommenheit, die sich in einem komischen Stammeln und Radebrechen kundtut.

Es gibt verschiedene Clown-Figuren. Manche - wie etwa der Weißclown (Harlekin, Pierrot, Grazioso) - verfügen über jene Kompetenz, die für das kleine Kind untypisch ist. Doch der »Minimalclown«, der in der Figur des Hanswurst oder Dummen August versinnbildlicht ist, stellt gerade für Kinder eine anziehende Identifikationsfigur dar. Dieser Clown agiert auf der Stufe eines Kleinkindes, das noch nicht nichtig sprechen kann und das seine Körperfunktionen noch nicht richtig beherrscht. Damit wirkt er komisch, ohne sich dessen freilich zu schämen. Ganz im Gegenteil zieht er aus seiner Unvollkommenheit ein großes Maß Befriedigung. Dies ist die vielzitierte »Lust am Scheitern«.

Der Minimalclown gefällt sich in der Rolle des unbelehrbaren, trotzigen »Gegenteilers«: Er benimmt sich töricht, lässt sich nicht belehren und, was vielleicht das wichtigste ist, er steht immer wieder auf mit einem selbstüberzeugten Lachen auf dem Gesicht, steigt über seine Trümmerhaufen hinweg und versucht's aufs Neue.

Das ist der Grund, weshalb sich der Minimalclown als Identifikationsobjekt 'unverschämten' Kindseins geradezu anbietet. Denn das beschämende Gebot einer perfektionistischen Erziehung - 'Du sollst besser sein als du bist!' - erweist sich für ihn als belanglos. Er nimmt sich, so wie er ist, bedenkenlos an und scheint daraus ein gehöriges Maß an lustvollem Selbstvertrauen zu schöpfen.

Die rote, auffällig deformierte Nase ist das wohl wichtigste Ausdrucksmittel des Minimalclowns. Er trägt diese Nase, um zu zeigen, dass für ihn die Kategorien von Macht und Ohnmacht hinfällig sind. Auf dieses Ausdrucksmittel greift auch das Humordrama zurück. Die Clownsnase gilt hier als das Mittel für die Ausklammerung eines idealnormativen Erwachsenseins, das vom Anspruch bestimmt wird, alles besonders gut machen zu müssen.

Sobald sich ein Klient aber die rote Clownsnase aufgesetzt hat, nimmt er die Identität des Minimalclowns an, dessen Bestimmungszweck allein darin liegt, alles weniger gut« zu machen. Damit wird die Rolle eines kleinen Kindes angenommen, dessen Können sich in einer anderen Sphäre entfaltet. Es ist die Identität einer 'un-verschämten' Haltung, die vom therapeutischen Clown, der als ein Minimalclown agiert, unentwegt vorgelebt wird. Damit erweist sich dieser als das Ebenbild eines unverletzten eben 'un-verschämten' Kindes. Er spielt dem betreffenden Protagonisten dabei vor, was es heißt, sich bedenkenlos über starre 'Man-muss'-Ideale hinwegzusetzen, bzw. im Sinne normativen Erwachsenseins lustvoll zu scheitern. So kann er dem Protagonisten zum Beispiel Botschaften zuflüstern, die so respektlos und widersinnig sind, dass sie in aller Regel belustigend wirken bzw. eine Humorreaktion auslösen.

DER BESCHÄMENDEN SITUATION FOLGEN

Im Humordrama geht es zunächst um die Schilderung schamauslösender Situationen, die dabei in einen lebensgeschichtlichen Zusammenhang gestellt werden. Dies entspricht der allgemeinen Methodik einer aufdeckenden Psychotherapie. So werden verschiedene Stationen der Schamentstehung erkennbar. Sie sind Glieder einer Kette, die sich aus der aktuellen Gegenwart, im Hier und jetzt der Gruppensituation, über die Jahre hinweg bis in die Beziehungsstruktur der Herkunftsfamilie hinein verfolgen lassen. Fokussiert wird dabei die Angst, sich »danebenzubenehmen«, etwas Falsches zu sagen, dadurch unangenehm aufzufallen usw. Daraus resultierte für die Betroffenen gewöhnlich das kompensatorische Bestreben, die eigenen Mängel zu überspielen, sich 'besser', d.h. souveräner, unauffälliger oder eben 'normaler' zu verhalten.

Doch sobald die Clownsnase aufgesetzt wird, ist das Gegenteil angesagt: Die verschiedenen Stationen der Schamentstehung werden nun mit den Mitteln des Minimalclowns in Szene gesetzt. Der therapeutische Clown steht dem jeweiligen Protagonisten dabei hilfreich zur Seite. Er sorgt vor allem dafür, dass das selbstkontrollierende, rationale (Erwachsenen-) Denken ausgeklammert bleibt. Dies erreicht der Clown dadurch, dass er den Protagonisten mit den verschiedensten Mitteln ablenkt: So kann er ihn unter die Arme greifen und mit ihm kreuz und quer durch den Kaum laufen, mit ihm hüpfen oder ihn tanzen lassen. Er kann den Protagonisten auch veranlassen, »chinesisch« oder »kisuaheli« zu sprechen. All dies wirkt ablenkend und belustigend zugleich!

immer wieder macht der therapeutische Clown dein Protagonisten vor, wie sich ein Minimalclown zu verhalten hat: Er verlangsamt z.B. die Gestik so stark, dass die Bewegungen des Kopfes und der Extremitäten wie im Zeitlupentempo erfolgen. Er macht kleine, unbeholfene Schritte (was anfangs auch dadurch gefördert werden kann, dass die Füße durch eine Schnur aneinander gebunden werden). Dein Beispiel des Hampelmanns Pinocchio entsprechend, kann der therapeutische Clown dem Protagonisten auch vormachen, mit durchgedrückten Armen und Knien hin und her zu gehen, so dass die Körperbewegungen ebenso komisch wirken wie die einer hölzernen Marionette oder wie die unbeholfenen Gehversuche eines kleines Kindes! Wenn der Protagonist spricht, wird der therapeutische Clown dafür sorgen, dass der Redefluss verändert wird. Um das zu erreichen, hat er dein Protagonisten vielleicht zuvor einen kleinen Schluck Wasser zu trinken gegeben, der aber mit der Zunge im Oberkieferbereich gehalten werden muss. Oder er weist ihn an, die Zungenspitze zwischen die Zähne zu stecken. Das führt dazu, dass die Aussprache im wahrsten Sinne des Wort verwaschen klingt!

Eine andere Möglichkeit ist, in übertriebener Weise zu nuscheln, zu näseln oder den Redefluss bewusst zu verändern, so dass die Worte gestammelt werden oder die Sprechgeschwindigkeit bewusst so verlangsamt oder beschleunigt wird, als würde eine Schallplatte mit der jeweils nicht angemessenen Laufgeschwindigkeit abgespielt werden. Auch hier wird ein Bezug zu den ersten Sprechversuchen eines Kleinkindes hergestellt.

ANSTACHELUNG ZUR PROVOKATION

Unsere bisherige Erfahrungen haben gezeigt, dass diese Vorgehensweise recht schnell an die Wurzeln jener expansiven Affekte heranführt, die durch Schamangst abgewehrt bzw. überdeckt wurden. Das besondere Setting des Humordramas fordert diese Freisetzung von Impulsen kämpferischer Selbstbehauptung.

Wenn, um nur ein Beispiel zu nennen, der Protagonist im Rahmen eines Rollenspiels mit schamprovozierenden Bezugspersonen konfrontiert wird, wird dieser vom therapeutischen Clown so konsequent zu einer gegenprovokativen Haltung angeregt, dass die lebensgeschichtlich gewachsenen Hemmungen (die auf einer rationalisierenden Selbstkritik aufbauen,) gar nicht zum Tragen kommen können. Denn eine wesentliche Voraussetzung dafür ist das bewusste Reflektieren dessen, was die normativen Vorhaltungen, moralisierenden Vorwürfe oder auch die nonverbalen Äußerungen von Ablehnung bedeuten können. Diese selbstkritische Reflektion verunmöglicht der therapeutische Clown, wenn er dem Protagonisten z.B. unaufhörlich respektlose Bemerkungen über persönliche Schwächen der betreffenden Gegenspieler ins Ohr flüstert, unverschämte Faxen macht oder stereotyp einen bestimmten Kraftausdruck von sich gibt. Dadurch wird das rationalisierende Erwachsenendenken gleichsam blockiert, so dass sich ein eingefahrener, schambezogener Teufelskreis nicht mehr aufbauen kann.

Im Falle von Herbert sah eine der entscheidenden Humordrama-Sitzungen wie folgt aus: Nebst der Großmutter fielen Herbert noch zwei weitere Menschen ein, bei denen er sich ähnlich wertlos und ungeliebt fühlte. Dies waren eine frühere Lehrerin und sein jetziger Vorgesetzter. Nachdem drei Gruppenteilnehmer diese Rollen übernommen hatten, wurde eine Situation gespielt, die in Herberts Kindheit über lange Zeit besonders konfliktträchtig gewesen war: Beim gemeinsamen Mittagessen mit den Großeltern wurde ihm regelmäßig vorgeworfen, beim Kauen schmatzende Geräusche zu machen. So sehr er sich auch bemüht hatte, dies zu vermeiden, so war es ihm offensichtlich niemals gelungen, wirklich geräuschlos zu essen. Mit dieser 'Verfehlung' wurde er von seinen drei Gegenspielern humordramatisch konfrontiert. Diese hatten die Aufgabe, ihm stereotyp zuzurufen: »Iss endlich leise! Merkst du denn nicht, dass du ekelhaft bist!«

Zunächst schien Herbert wie erstarrt. Mit weit aufgerissenen Augen hörte er sich diese Vorwürfe an. Doch allmählich begann er den unverschämten Einflüsterungen des therapeutischen Clowns Gehör zu schenken. Seine Gesichtszüge hellten sich auf. Er begann vernehmlich zu schmatzen. Allmählich ging er dazu über, feixend Geräusche von sich zu geben, so als müsste er sich übergeben. Dies führte dazu, dass einige der nicht beteiligten Gruppenmitglieder zu lachen begannen.

Nun begann Herbert zu rülpsen und kurze Zeit später, Darmgeräusche zu imitieren. Dazu drehte er sich (zusammen mit dem Clown) mit gebeugtem Oberkörper um die eigene Achse, so dass die Gesäße der beiden in Richtung der 'Gegenspieler' zeigten. Die Stimmung wurde immer ausgelassener. Schließlich entfernte sich der therapeutische Clown. Zuvor hatte dieser Herbert einen deftigen Tipp gegeben: Stereotyp und lautvernehmlich »Leckt mich am...« zu rufen!

Als Herbert dies in die Tat umsetzte, konnte man spüren, wie dessen Lebensgeister beflügelt wurden. Die Körperhaltung straffte sich, die Stimme wurde immer lauter und fester und der zuvor angespannte Gesichtsausdruck lockerte sich immer mehr auf. Schließlich ging Herbert lachend auf seine Widersacher zu, um sie nacheinander fest an sich zu drücken.

Nach etwa zehn Monaten schrieb Herbert in sein Therapietagebuch: »Sprechen war für mich mit großen Ängsten und Scham verbunden. Ich fühlte mich gegenüber Kollegen und Bekannten in einer für mich unerträglichen Weise unterlegen. Sobald ich mich dabei ertappt habe, zu lispeln oder zu stottern, überkam mich eine tiefe Verzweiflung, die meine Gehemmtheit noch weiter steigerte. In den vielen Clownsübungen, die ich inzwischen durchgeführt habe, konnte ich jedesmal die gleiche befreiende Erfahrung machen: Ich konnte erleben, dass ich mit Lust und Ulk das absichtlich produzieren darf, was mir bislang wie ein fremder Zwang erschien. Das Gelächter, das ich dabei hervorrufe, geht nicht mehr gegen mich. Es ist Anerkennung für meinen Erfolg als Komiker.«


© Dr. Michael Titze