Michael Titze, als Psychotherapeut versuchen Sie Menschen zu heilen, die unter der Last der Beschämung leiden. Ist es denn ein Zeichen unserer Zeit, dass Menschen ihre Mitmenschen beschämen, lächerlich machen und damit erniedrigen?
Es ist ein Zeichen unserer Kultur, soweit sie calvinistisch-pietistisch geprägt ist. Sie verlangt von uns hohe Leistungsbereitschaft; ständig vergleichen wir unsere Leistung mit derjenigen unserer Mitmenschen. Es bedeutet Bestrafung, wenn uns jemand sagt, dass wir bestimmten Erwartungen nicht genügen.
Denken Sie in erster Linie an Eltern, die ihre Kinder dauernd abqualifizieren?
Es sind nicht nur die Eltern, die mit diesem jahrhundertealten System der immer wiederkehrenden Beschämung arbeiten; es ist das ganze Umfeld, zunächst einmal sind es die Lehrer und die Mitschüler, die mit Spott und Hohn auf jede Leistungsminderung oder jedes Versagen reagieren. Die Beschämungen können so weit gehen, dass sich ein Mensch als wertlos empfindet und in ihm das Gefühl aufkommt, er habe kein Recht auf Leben.
Hat das Hohnlachen des Mitschülers den Unterton: »Zum Glück bin ich im Moment nicht dran«?
Genau, er lacht aus dem Gefühl heraus Jetzt bin ich nochmal verschont geblieben, im Augenblick gehöre ich noch zur Gruppe der Unverletzten«. Die Gruppe, von der man Teil ist, bietet ja Halt; sie bewahrt einen davor, Objekt der Beschämung zu werden. Das kollegiale Hohnlachen ist im Grunde nicht pure Bosheit, sondern eben auch ein Lachen der Erleichterung.
Aber auch diese Mischung aus Bosheit und Erleichterung ist ein ungutes, dem Schulklima nicht förderliches Lachen?
Sicher; und kein Lehrer streicht in einem Diktat von 100 Wörtern die 88 richtig geschriebenen grün an, sondern er markiert die zwölf falsch geschriebenen auffällig mit dem Rotstift. In der Schule konzentriert man sich fast ausschliesslich auf das Fehlerhafte. Diese ständige Kontrolle von Leistung und Leistungsversagen bestimmt oft das psychologische und sogar das physische Überleben eines Kindes - dann nämlich, wenn es zu Hause geschlagen wird, weil es in der Schule versagt hat. Auch Bestrafungen wie Liebesentzug, Einsperren oder das Verbot des Kontakts mit Spielkameraden sind existentielle Bedrohungen, die man als Erwachsener gar nicht mehr nachvollziehen kann.
Sie haben die These entwickelt, dass Eltern, die ihre Kinder verlachen und mit Spott oder Sarkasmus quälen, diese Kinder nicht eigentlich angenommen haben. Würden Sie diesen Gedanken noch etwas ausführen?
Eltern reagieren so, wenn sie ihr inneres Kind auch nicht angenommen haben. Diese Selbstverachtung wird von Generation zu Generation weitergegeben; für die vermeintliche Unvollkommenheit des inneren Kindseins ist kein Platz; was zählt, ist einzig das Streben nach Perfektion. Ist ein leibliches Kind da, muss es möglichst frühzeitig ebenfalls zur Perfektion gedrillt werden. Funktioniert dies nicht, sind die Eltern enttäuscht; und diese Enttäuschung hat wiederum mit dem eigenen inneren Kindsein zu tun. Wir leben in einer Kultur, die das Kindsein fürchtet. Ich behaupte sogar, dass ein Mensch, der depressiv oder selbstmordgefährdet ist, im Streit liegt mit seinem inneren Kind: Da, in mir drin, lebt jemand, der mich daran hindert, den Idealnormen dieser Gesellschaft zu entsprechen. Der Erwachsene steht neben seinem inneren Kind und auch neben dem leiblichen und befiehlt: »Jetzt reiß dich doch zusammen.« Aber ein gesundes Kind trotzt eben ... Wer in der Pubertät diese Trotzphase nicht durchlebt hat, holt dies mit 30, 40 oder gar 50 Jahren nach. Oft stellt sich dieser Vorgang als Midlife-crisis dar oder als Burnout-Syndrom, als Zustand des Ausgebranntseins.
Und sowohl die Lebenskrise als auch die Phase des Ausgebranntseins werden als Versagen empfunden?
Zu Unrecht, denn beide Erscheinungen müssten ja die Chance zu einem emotionalen Neubeginn sein. Die Dynamik der Verweigerung sollte erkannt und sogar lustvoll erlebt werden.
Der uralte Spruch »Humor ist, wenn man trotzdem lacht« bekommt vor diesem Hintergrund eine andere Bedeutung?
Er sollte umgewandelt werden in »Humor ist, wenn man's trotzdem macht«; wenn man etwas tut, obwohl es vielleicht gesellschaftlich nicht abgesegnet ist. Dem Manager, der mich konsultiert, weil er unerklärlicherweise seine Arbeit aufgegeben und zu malen begonnen hat, kann ich nur sagen: »Das war ein unbewusster Vorgang, nun feiert Ihr inneres Kind seinen leisen Triumph.«
Wie unterscheiden sich Witz und Humor?
Bei dieser Unterscheidung muss man einen Fehler vermeiden: Man darf aus dem Humor nicht schon wieder eine moralische Qualifikation machen. Etwas leichter definieren lässt sich der schwarze Humor, der in angelsächsischen Ländern verbreitet ist und dem Ironie und Sarkasmus innewohnt. In Deutschland und vermutlich auch in der Schweiz wird ein Witz nicht sofort mit einem Gegenwitz pariert, sondern er wird bewertet - ist der Witz vielleicht zu weit gegangen, hält er sich streng an die Gürtellinie oder nicht ... ? Humor ist ein Mechanismus, der eine Umkehr der Erhabenheit bewirkt, er hat somit auch kämpferischen Charakter.
Gehört das »Osterlachen« in diese Kategorie?
Ganz genau. Zu allen Zeiten waren Menschen von Furcht erfüllt von der erhabenen Macht des Todes. Die Gewissheit, dass die Auferstehung Jesu Christi den Tod überwunden hat, löste in früheren Jahrhunderten eine ungemein grosse Erleichterung aus, eine Art befreienden Machtrausch. In der gesamten Christenheit war das »Osterlachen« bekannt, am ursprünglichsten wurde es in der Orthodoxie der alten russischen Kirche ausgelebt. Am Ostermorgen versammelten sich die Menschen auf dem Friedhof. Sie begrüssten einander, sangen Osterlieder, beteten - und dann fingen plötzlich alle zu lachen an. Sie lachten brüllend, bis ihnen die Tränen kamen, sie lachten den Tod aus im Bewusstsein grenzenloser Stärke, denn »der Herr ist auferstanden, er ist wahrhaftig auferstanden«!
Der Basler Pfarrer Felix Felix sagte einmal am Ende einer Beerdigung: »Und jetzt würde der Verstorbene sagen: Gehen wir miteinander in die Beiz!,« Zunächst waren die Trauergäste befremdet, dann lächelten sie einander zu; und »in der Beiz« kam es dann zu selten guten, intensiven Gesprächen über Leben und Tod.
Da ereignete sich etwas, das der mittelalterlichen christlichen Tradition entsprach! Damals waren die Friedhöfe nicht Orte der weihevollen, beklemmenden Stille, sondern Orte, an denen man auch lachen und feiern durfte - so, wie sich dies bei einigen Naturvölkern noch erhalten hat. Im Neuen Testament kommt immer wieder zum Ausdruck, dass Jesus ein »Gegenteiler« gewesen ist; er hat die etablierte Blasiertheit der Pharisäer verurteilt und die sogenannt Niedrigen erhöht, ihnen hat er ungeteilt seine tiefe mitmenschliche Sympathie bekundet. Als bei der Hochzeit zu Kana der Wein ausging, hätte Jesus auf den Sinn der Mäßigung und der Begrenzung hinweisen können; er hat es nicht getan, sondern er wollte, dass das Fest weiterging.
Weshalb gibt es im Fernsehen selbst im Bereich Unterhaltung hauptsächlich Mord und Totschlag und kaum Programmangebote, die herzliches, befreiendes Lachen hervorrufen?
Unsere westliche Zivilisation richtet sich eben sehr stark auf Selbstdisziplinierung aus, Aggressionen und Sexualität sind kanalisiert. Diese Sublimierung hat mitgeholfen, uns auf Höchstleistungen zu trimmen, auch auf Sparsamkeit - deshalb haben die meisten von uns nach einem schönen, teuren Abendessen selbst dann ein schlechtes Gewissen, wenn wir uns die Ausgabe durchaus leisten können. Aber ganz konnte die Aggressivität doch nicht unterdrückt werden; unter dem Deckmantel der funktionierenden Justiz und der Vorstellung, dass sich Verbrechen eben doch nicht lohnt, können wir Aggressionen am Bildschirm zulassen. Wenn ich mir den Kriminalfilm angesehen habe und sage »das war ja fürchterlich«, gebe ich mich unbeteiligt, muss ich mich mit meinen eigenen Aggressionen nicht auseinandersetzen.
Humor setzt ein Beteiligtsein voraus?
Mit meinem Lachen, das sich über die Mimik, über Lautäußerungen und über den ganzen Körper mitteilt, bin ich beteiligt. Ich stehe außerhalb des strengen Kontrollsystems, das sonst meinen Alltag bestimmt; ich bin herausgehoben aus meiner Rollenstarre. An der Legende des heiligen Mauritius lässt sich diese Durchbrechung von Ordnungen durch den Humor gut darstellen. Der Heilige wird in heißes Öl geworfen; dem Fürsten, der ihn zu dieser Qual verurteilt hat und der dem Martyrium zuschaut, ruft Mauritius zu, dass das Öl doch gar nicht heiß, sondern kalt sei. Der Fürst macht eine Probe, verbrennt sich - und Mauritius lacht: Er ist aus der Opferrolle ausgestiegen, seine Revolte hat den Höhepunkt erreicht. Kein Wunder, dass in allen Diktaturen das Lachen gefürchtet wurde. Übrigens hat auch Nietzsche festgestellt, dass es am Rande des Abgrunds nur zwei Möglichkeiten gebe: Entweder stürzt man sich in den Abgrund - oder man lernt das Lachen.
In Ihrem Buch ziehen Sie auch den heiligen Augustinus bei, der gesagt hat, man müsse so handeln, als sei dieses eigene Handeln von größter Wichtigkeit - aber gleichzeitig dürfe man es nicht wichtig nehmen.
»Das Leben ist zu ernst, um ernstgenommen zu werden«, auch dies ist eine paradoxe Aussage. Das Leben ist ernst. Der Humor hebt das Spannungsverhältnis von passiver Duldsamkeit und aktiver Entscheidungsfreiheit, mit der man ein Risiko eingeht, auf. Wie etwa das Kind, das sich auf Drängen der Eltern vor Verwandten am Klavier produzieren sollte: Es spielt »Hänschen klein«, steht dann auf und verlässt den Raum. Die Menschen im Raum, die die Komik der Situation erfassen, haben die Verbindung zum Kind und zu seinen inneren Beweggründen hergestellt; die anderen halten es für einen Versager, reif für die Erziehungsberatung oder irgendeine Therapie. Das Kind soll so werden wie sie, die Erwachsenen; denn auch sie mussten ihre kindliche Lebendigkeit einst aufgeben, bis das Kind in ihnen erstarrte. Viele psychosomatische Erkrankungen sind in einer ständigen, kontrollierenden Selbstbeobachtung begründet. Lebendigsein bedeutet grundsätzlich »unverschämt« sein zu können, und zwar im positiven Sinn, als gesunde Gegenhaltung zum Verschämtsein.
Zur Person
Michael Titze, geboren 1947, arbeitete nach seiner tiefenpsychologischen Ausbildung mehrere Jahre in der stationären Psychiatrie; heute hat er in Tuttlingen (D) eine eigene psychotherapeutische Praxis. In seinem Buch »Die heilende Kraft des Lachens/Mit therapeutischem Humor frühe Beschämungen heilen« (Kösel) befasst er sich mit der Selbstwertzerstörung, die viele Menschen erstarren lässt, sie hölzern macht; er nennt dieses Leiden an sich selbst den Pinocchio-Komplex. Aus dieser Erstarrung kann sich der Mensch lösen, wenn er den Mut zur Lächerlichkeit zulässt und lernt, der verkrampften Selbstkontrolle das befreiende Lachen der Lebensfreude entgegenzusetzen. Bei Michael Titze bekommt der Humor die Dimension eines Lebensgefühls, das viel weiter und tiefer reicht als das, was man im allgemeinen als Humor bezeichnet. Dass Clowns in Kinderspitälern die kleinen Kranken zum Lachen bringen oder dass in amerikanischen Kliniken »Gelächterwagen« lustige Videobänder, Tonbandkassetten, Witzbücher oder Lachsäcke an die Betten von kranken Kindern oder auch von Erwachsenen bringen, hat mit der Erkenntnis zu tun, dass herzhaftes Lachen dem Krankenhausgeschehen und der Krankheit mit einer Gegenkraft Widerstand leistet.
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