OÖN: Täuscht der Eindruck, dass Faschingsumzüge generell immer weniger Zuseher auf die Straße locken?
Titze: Das ist richtig. Einer der Gründe liegt darin, dass der postmoderne Mensch immer weniger an geregelten Gemeinschaftsaktivitäten interessiert ist. Sozialwissenschaftler sprechen in diesem Zusammenhang von einer »Desozialisierung« bzw. »Individualisierung«.
Man entwirft sich also seine eigene Unterhaltungswelt?
Man schafft sich eine nicht selten virtuelle Welt, in der Traditionen und Normvorgaben keine besondere Rolle mehr spielen. Schon vor 30 Jahren erklärte der französische Philosoph Jean-François Lyotard die Epoche der vorgegebenen Ideologien für vergangen. Er verglich die Situation des postmodernen Menschen mit einem Schauspieler, dem man das Drehbuch weggenommen hat. Nun soll er sich im Improvisieren, im Stegreiftheater üben: also die Spielregeln mit anderen Schauspielern zusammen laufend neu abstimmen – und zwar so, dass dies den aktuellen Gegebenheiten im Hier und Jetzt entspricht. Damit verliert auch der Fasching seine althergebrachte Bedeutung. Er muss mit den vielen Freizeitangeboten konkurrieren, die nicht von langer Hand geplant, sondern spontan inszeniert sind.
Es ist die Tendenz zu beobachten, dass sich Faschingsumzüge mehr und mehr aus den größeren Städten zurückziehen. Auf dem Lande hingegen halten sie sich. Warum?
Auf dem Land sind die Menschen noch traditionsbewusster, sie halten sich – im Vergleich zu Städtern – eher an Spielregeln, die von den Altvorderen vorgegeben wurden. Der typische Stadtbewohner ist im Prozess der Individualisierung viel weiter vorangekommen. Ihn interessiert vor allem das, was einen schnellen, unverbindlichen Lustgewinn verspricht. Und das ist eher bei Comedy-Veranstaltungen, Disco-Partys oder Music-Festivals der Fall.
Haben die Menschen generell immer weniger zu lachen?
Der britische Psychologe Oliver James berichtet in seinem Bestseller »Britain on the Couch«, dass sich die Depressivitätsanfälligkeit seit den 1950er Jahren um das Zehnfache erhöht hat. Er führt dies auf die Tatsache zurück, dass sich der soziale Konkurrenzkampf seither deutlich verschärft habe. Man fügt sich nicht – wie in vergangenen Zeiten – allein deshalb in das Arbeitsleben ein, um seinen normalen Lebensunterhalt zu verdienen.
Auf der anderen Seite sind die Möglichkeiten der Selbstverwirklichung in der Arbeitswelt größer geworden. Das ist doch positiv zu werden, oder?
Ja, die autoritären Normvorgaben einer hierarchisch strukturierten industriellen Produktionsgesellschaft sind inzwischen weitgehend hinfällig. Der postmoderne Arbeitnehmer soll sich nicht als systemkonformer Befehlsempfänger verstehen, der in einen lebenslang stabilen Produktionsprozess eingebunden ist, sondern als höchst engagierter und wandlungsfähiger Macher. Kritische Eigeninitiative, kreative Flexibilität, autonome Selbstverantwortung und souveräne Soziabilität: das sind die Qualifikationsmerkmale, die den Erwartungen einer postindustriellen Dienstleistungs- und High-tech-selfproviding-Gesellschaft entsprechen. Der Einzelne muss lebenslang lernen, immer wieder umdenken und sich neu orientieren. Der amerikanische Soziologe Richard Sennett hat ermittelt, dass zum Beispiel ein Akademiker in vierzig Arbeitsjahren damit rechnen muss, mehr als zehnmal die Stelle zu wechseln und seine beruflichen Grundkenntnisse wenigstens dreimal komplett zu erneuern.
Inwieweit wirkt sich dieser Kreativitäts- und Innovationsdruck auf die Freizeit aus?
Freizeitforscher wie Horst W. Opaschewski führen die wachsende Tendenz, sich auf risikoreiche, nervenaufreibende und kostspielige Fun-Aktivitäten im außerberuflichen Bereich einzulassen, auf eben diesen Imperativ zurück. Das Vergnügen wird so zu einem mühevollen Selbstzweck. Die subjektive Lebensqualität bemisst sich am objektiv Überdurchschnittlichen: am ewig jugendlichen, makellosen Aussehen und einer fast unbegrenzten körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit. Die postmoderne Überbietungsgesellschaft erzeugt somit eine Atmosphäre permanenter Überforderung, die eine positive Selbsteinschätzung immer schwerer gelingen lässt.
Und dabei vergeht uns das Lachen ...
Das Anwachsen narzisstischer Selbstwertprobleme, die mit Scham, Schüchternheit und dem oft auch physischen Unbehagen verbunden sind, sich auf andere zuzubewegen, ihre Blicke zu ertragen, mit ihnen zu plaudern, hat sich in den letzten drei Jahrzehnten fast unmerklich ausgebreitet. Dabei kann vielen das Lachen tatsächlich vergehen. Aus einer Untersuchung, die bereits in den 1980er Jahren veröffentlicht wurde, geht hervor, dass der durchschnittliche Deutsche in den frühen 1950er Jahren drei Mal häufiger lachte als vierzig Jahre später.
Aber auch der postmoderne Mensch lacht doch gerne ...
Ja, aber im Gegensatz zu der Generation seiner Eltern und Großeltern will er sich dabei nicht in ein physisch reales Schunkelkollektiv einfügen. Lieber schließt er sich an eine virtuelle Lachgemeinschaft an, die sich bei aufkommender Langeweile jederzeit wegzappen lässt.
Warum gilt Lachen eigentlich als so gesund?
Heftiges Lachen ist richtig körperliche Arbeit. Fast sämtliche Muskeln im Körper werden beansprucht. Bei herzhaftem Lachen steigt der Puls auf 120 Schläge pro Minute. Die Atmung wird stark angeregt, so dass es zu einem beschleunigten Austausch von verbrauchter und sauerstoffangereicherter Luft kommt. Die Lungenflügel dehnen sich und nehmen drei bis vier Mal so viel Sauerstoff auf wie gewöhnlich. Insgesamt kommt es zu einer besseren Durchblutung der Muskulatur. Das entspannt die Arterien und senkt den Blutdruck, weil auch der Herzschlag zwar zunächst beschleunigt wird, sich dann aber deutlich verlangsamt. Das Zwerchfell hüpft und massiert die inneren Organe. Die Bauchmuskeln spannen sich an, um die Luft mit einer Geschwindigkeit von zirka 100 km/h hinaus zu pressen. Der durchschnittliche Lachanfall dauert übrigens etwa sechs Sekunden. Nach der starken muskulären Anspannung setzt dann eine genauso tiefe Entspannung ein. |