Tübinger Wochenblatt, 31.03.2016
 
Aprilscherze
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Interview der Woche (von Lena Abushi)
 
 
Herr Titze, womit wurden Sie bisher am meisten reingelegt?

Dr. Michael Titze: Das war an einem 1. April in den achtziger Jahren, als ich bei der morgendlichen Lektüre der Tageszeitung von einem neu entdeckten See riesigen Ausmaßes unter der Schwäbischen Alb las. Auf dem beigefügten Foto erkannte ich sofort eine Doline, die mir von Wanderungen her bekannt war. Ich war begeistert! Und fest entschlossen, am nächsten Wochenende hinzufahren. Irgendwann realisierte ich schließlich, dass ich einem tollen Aprilscherz aufgesessen war.

Haben Sie darüber gelacht?

Titze: Aber klar! Und das Lachen fiel mir umso leichter, als ich erfuhr, dass sogar Forscher der Uni Tübingen dieser getürkten Meldung Glauben geschenkt hatten: Einer hatte sich angeblich sogar schon auf den Weg gemacht!

Was macht einen guten Aprilscherz aus?

Titze: Als Adressaten braucht es gutgläubige Menschen, die sich zum Narren halten lassen. Das können unerfahrene Azubis sein, die von älteren Kollegen einen »Narrenauftrag« erhalten. Dabei sollen sie zum Beispiel »1 Bit Digitaldimmer« besorgen oder »Ambossklangfett«, »Betonmagneten«, einen »Eimer Pressluft«, vielleicht auch einen »Hammer mit verstellbarer Wucht«. All das dient nur dem einen Zweck, den Aprilnarren vorzuführen, damit auf Seiten der Wissenden Kompetenzvergnügen entsteht: Diese blicken - im Gegensatz zum Aprilnarren - nämlich durch. Und deswegen können sie sich überlegen fühlen!

Wo liegen die Grenzen, welcher Aprilscherz geht zu weit?

Titze: Das eigene Selbstwertgefühl wird durch endlose Vergleiche mit den Stärken und beziehungsweise oder Schwächen anderer Menschen bestimmt. Im schadenfrohen Lachen äußert sich das triumphierende Gefühl, dem Anderen überlegen zu sein. Dabei geraten die Verlachten unweigerlich in die Position von unfreiwilligen Komikern. Wenn die Betreffenden mit dem entsprechenden Hohnlachen umgehen können, kann dies eine durchaus akzeptable Quelle von humoristischem Lustgewinn sein: Man fühlt sich ertappt, steckt die Peinlichkeit weg und lacht einfach mit.

Und wann funktioniert das nicht?

Titze: Anders verhält es sich bei Menschen, die unter einer krankheitsbedingten Behinderung leiden. Es hat sich in unserer postmodernen Comedy-Szene leider eingebürgert, Behinderte zur Zielscheibe humoristischen Lustgewinns zu machen. So gibt es auf dem Sender Comedy Central eine »Para Comedy«, welche nach dem Prinzip der Versteckten Kamera arbeitet: Normale Passanten werden dabei von Laienschauspielern, die eine Behinderung simulieren, in eine konfrontierende Situation gebracht. Zum Beispiel fragt eine »blinde« Frau Passanten nach dem Weg zum Bahnhof, doch diese sollen nicht ihr den Weg erklären, sondern ihrem Blindenhund - da dieser sie ja führt! Dies ist im Sinne der ethischen Richtlinien von HumorCare klar als nicht konstruktiver Humor zu bewerten. Anders verhält es sich mit diesem Witz: Fritzchen stürmt in die Küche und ruft: »Mama, der Papa hat sich auf dem Dachboden erhängt!« Gleich darauf korrigiert er sich: »April, April, er hängt im Keller!« Dieser April-Witz ist zweifellos geschmacklos, doch er durchbricht die ethische Grenzlinie nicht, weil er keine tatsächlich existierenden Personen zum Gegenstand hat.

Wissen Sie, woher der Brauch, am ersten April Leute zu veralbern, kommt?

Titze: Verbürgt ist, dass bereits 1618 jemand in Bayern »in den April geschickt wurde«. Der Begriff Aprilscherz bürgerte sich jedoch erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Mitteleuropa ein. Seine Entstehung wird auf die Verlegung des Jahresanfangs vom 1. April auf den 1. Januar zurückgeführt. Dies hängt mit der Einführung des gregorianischen Kalenders zusammen. Manchen »Hinterwäldlern« war dies allerdings entgangen, weshalb sie am alten Neujahrstermin festhielten. So gerieten sie unweigerlich in die Rolle der ersten »Aprilnarren«.

Warum macht es den Menschen denn Spaß, andere zum Narren zu halten?

Titze: Schadenfreude heißt das Stichwort. Der Aprilscherz erlaubt nämlich einen lustvollen Abwärtsvergleich. Das heißt: Sobald es uns gelingt, jemandem gezielt zum Narren zu halten, schneiden wir selbst im Vergleich zu dieser Person besser ab. Wir können uns somit als kompetenter, klüger, eben überlegener fühlen, denn wir wären selbstverständlich nie auf einen derartigen Scherz hereingefallen. Daher suchen schon Kinder (nicht nur am 1. April!) ständig nach Gelegenheiten, um Abwärtsvergleiche herzustellen. Denn psychologisch gesehen geht es um nichts anderes, als um die Stärkung des eigenen Selbstwerts!