arte magazin
Herr Titze, jeden Menschen betrifft das Thema gleichermaßen, und doch sprechen wir nicht gern über Verdauung. Woher kommt diese Scham?
Michael Titze
Kleine Kinder finden die Produkte des Darms faszinierend. Eine eklige Bewertung wird ihnen erst durch ihre Bezugspersonen beigebracht, die mit Begriffen wie «bäh» Körperregionen, Ausscheidungen und Körperprozesse sozial tabuisieren. Das wird dem Über-Ich vermittelt – dem Bereich des Gewissens, der sich in frühen Entwicklungsphasen aus der Identifikation mit den elterlichen Wertvorstellungen herausbildet. Solche normativen Bewertungen lassen sich später nur schwer korrigieren.
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Gab es Körperscham schon immer?
Michael Titze
Im Mittelalter galt es als unschicklich, nach einem Gastmahl keine Geräusche von sich zu geben. Ende des 16. Jahrhunderts war dann das Gegenteil angesagt. Damals entstanden Scham-Barrieren, geprägt von den «höflichen» Gebräuchen an den Fürstenhöfen Europas. Sie bestimmten die prüde Kultur der Affektkontrolle, die das 19. und weitgehend auch 20. Jahrhundert prägte.
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War Scham auch eine Klassenfrage?
Michael Titze
Eine prüde Körperscham dominierte das Leben der besseren Kreise. Nur Angehörige der unteren Schichten wie Bauern und Matrosen konnten es sich leisten, ungeniert zu rülpsen oder zu furzen: Sie dienten besseren Kreisen zur Belustigung. So erlangte der französische Kunstfurzer Joseph Pujol vor 130 Jahren Popularität.
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Wären Humor oder Faszination nicht angebrachter als Scham?
Michael Titze
Die Lösung vieler Probleme gelingt dann, wenn wir die Welt mit den Augen von – im eigentlichen Sinne – unverschämten Kindern betrachten. Ihre Wahrnehmung ist gefühlsbetont und handlungsorientiert. Auf diese Weise können «schmutzige» Inhalte ebenso wie eine vulgäre Sprache (wieder) Spaß machen. |