DIE WELT, 19. Oktober 1998
Ein Drittel weniger Heiterkeit
Humorkongreß in Basel - Auch Kritik an TV-Sendungen

Von Siegfried Helm

Basel - Vor rund 40 Jahren waren die Menschen fröhlicher und humorvoller. Das ist nicht die Erkenntnis eines einzelnen Pessimisten, sondern eine wissenschaftliche Tatsache. Jeder Erdenbürger lachte in den fünfziger Jahren im Durchschnitt täglich 18 Minuten - und das in den vielbeschworenen »Zeiten der Angst«, als der Kalte Krieg noch heiß tobte. Heute geht es augenscheinlich sehr viel ernster auf der Welt zu. Im schweizerischen Basel rechneten rund 400 Psychologen, Teilnehmer eines internationalen Kongresses zum Thema Humor, besorgt aus, daß diese fröhlichen oder albernen Minuten im Europa und in den Vereinigten Staaten der neunziger Jahre auf nur noch klägliche sechs Minuten am Tag geschrumpft sind - ein Drittel weniger Heiterkeit pro Tag. Doch die Psychologen legten ihre Meßlatte für Humor auch sehr hoch. Gezählt wurden von ihnen nur die Sekunden und Minuten, in denen laut und schallend gelacht wurde. Dieses laute Gelächter scheint nach ihrer Zählung fast verloren zu sein. Doch jedes amüsierte Lächeln, heitere Schmunzeln oder schadenfrohe Grinsen blieb in der Statistik außen vor. Die Kritik der Wissenschaftler traf auch die Fernsehsender. TV-Komikern fiele es immer schwerer, das Publikum zum Lachen zu bringen, konstatierten die Humorforscher, denn bei Fernsehkomödien wäre die Frequenz der Lachsalven viel höher gewesen. Zur Erklärung ihrer düsteren Diagnose boten die Psychologen und Psychotherapeuten in Basel mehrere Theorien an. »Wir haben offenbar eine Gesellschaft geschaffen«, referierte der Psychotherapeut Michael Titze, »die Leistung und Erfolg so hoch bewertet, daß wir uns schämen und in Depressionen verfallen, wenn wir hinter gesteckten Zielen zurückbleiben.« Er fügte hinzu: »Die Leute glauben, keinen Grund mehr zum Lachen zu haben, nicht einmal über sich selbst, wenn etwas schiefgeht.« Der britische Psychologe Oliver James verwies in seinem Vortrag auf die verbreitete Neigung, sich selbst auch dann für einen Verlierer zu halten, wenn man Gewinner ist. Psychiater wissen, daß Depressionen heute in den Industrienationen zehnmal so verbreitet sind wie in den fünfziger Jahren. Als Grund geben sie an: »Der hochentwickelte Konsumkapitalismus führt dazu, daß wir uns instinktiv ständig mit anderen vergleichen. Dieser Leistungsdruck hat enorm zugenommen. Wir verfallen in tiefe Unzufriedenheit im Blick auf andere.« Da Lachen bekanntlich gesund sein soll, müßte die zunehmende Abstinenz der Fröhlichkeit das Symptom für eine schleichende Zeitkrankheit sein, warnten die Psychologen. Und sie stellten fest: Wir verlernen, dem Leben und uns selbst die komischen Seiten abzugewinnen, weil wir aus dem Lot gekommen sind. Wer sich den Neid auf Kollegen abgewöhnen kann, lacht dann zuletzt doch noch am besten.