Wie unlogisch ist doch die Logik!
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Von Michael Titze
Es war einmal eine Mutter, die ging mit ihrem Kind am Nil spazieren. Und eh' sie sich's versah, hatte ein Krokodil ihr Kleines gepackt und wollte es verschlingen. Oh, wie die Mutter da weinte und jammerte! Schliesslich war das Krokodil ganz gerührt und, indem es ein paar Krokodilstränen zerdrückte, sprach es: »Liebe Mutter, ich habe zwar schrecklichen Hunger und würde dein Baby gar zu gerne fressen, aber du sollst es wieder haben, wenn du erraten kannst, was ich tun werde: fressen oder zurückgeben.«

Da besann sich die Mutter lange und sagte schliesslich: »Du wirst mein Kind auffressen.« Denn sie dachte: Dann muss mir das Krokodil mein Kind zurückgeben - denn: Habe ich seine Absicht erraten, so bekomme ich es sowieso zurück, nach der Verabredung. Habe ich aber falsch geraten, so wird es mir also das Kind nicht fressen, sondern zurückgeben. Das Krokodil aber sagte: »Du magst meine Absicht erraten haben oder nicht - ich werde dein Kind auf jeden Fall fressen. Hast du falsch geraten, so fresse ich es ebenfalls, entsprechend der Vereinbarung.

Und so streiten sich die beiden noch heute...

Das war der berühmte »Krokodilsschluss«, ein antikes Dilemma, leicht abgewandelt zwar, aber eben doch ein klassisches Beispiel für die Gehirnakrobatik der Logik. Denn diese ist ein exklusives Produkt ernsthafter und selbstverständlich anstrengender »Kopfarbeit«. Die Domäne der Logik ist bekanntermassen die reine rationale Verstandestätigkeit, die ihrerseits die strengen Verfahrensregeln von Abstraktion und Analytik voraussetzt. Das bloss intuitive, gefühlsmässig-spontane, häufig auch unreflektierte Sichzurechtfinden in der Alltagswelt hat denn auch mit der formalen Logik im eigentlichen Sinne rein gar nichts zu tun.

Logisch »richtig« denken und urteilen - das können somit nur diejenigen, die dieser Alltagswelt vom Prinzip her entrückt sind, die deren Geltungsbereich »ver-rückt« habe. Und das wären z.B die Mathematiker und die Philosophen. Letztere haben das logische Denken von Aristoteles gelernt, der als erster die Gesetzeslehre vom logischen Begriff, Urteil, Schluss und Beweis systematisch abgehandelt hat. Damit hatte er der zuvor betriebenen Philosophie gleichsam die Unschuld geraubt. Denn nunmehr musste sich jeder, der ein professioneller Denker sein wollte, dauernd vergegenwärtigen, dass vieles von dem, was ihm intuitiv plausibel erscheinen mochte, aus dem Blickwinkel der aristotelischen Logik am Ende »falsch« und »unwahr« war. So wurde das Denken anstrengender, schwerfälliger; es entwickelte sich gleichsam zu einer Monomanie, die sich ganz der fixierten Gesetzlichkeit eines logischen Formalismus unterwarf.

Ein bekanntes Beispiel hierfür bietet uns Epiménides, der Kreter, der sagt: »Alle Kreter sind Lügner.« Epiménides ist aber selbst ein Kreter. Also ist es auch nicht wahr, dass alle Kreter Lügner sind. Also sagt auch Epiménides die Wahrheit, wenn er sagt, dass alle Kreter lügen. Da er aber selbst ein Kreter ist ... (usw.).

Sechs Jahrhunderte später hat der heilige Paulus un seinem Brief an Titus (I, 10-12) mit dieser Art von logischer Gedankenverwirrung abgerechnet, wobei er soz. auf seine Art einen weiteren gordischen Knoten löste. Er schrieb: »Denn es sind viele unnütze Schwätzer und Verführer, sonderlich die aus der Beschneidung. Welchen man muss das Maul stopfen, die da ganze Häuser verkehren, und lehren, dass nicht taugt, um schändlichen Gewinnes willen. Es hat einer aus ihnen gesagt, ihr eigener Prophet: 'Die Kreter sind immer Lügner, böse Tiere und faule Bäuche.'«

Damit hatte Paulus gleichsam eine Initialzündung gegeben. Denn mit dem Aufkommen des Christentums verfielen die Methoden, Regeln und Normen formallogischen Denkens weitgehend in Vergessenheit. Es wurde jetzt anders gedacht: Mystik und Zauberglauben waren im Alltagsdenken fest verwurzelt; falsches und verbotenes Handeln wurde auf Dämonen und teuflische Einflüsterungen zurückgeführt. Ein Rituale Romanum, ein »Hexenhammer« und die aus heutiger Sicht bizarre Stringenz unzähliger »Gottesurteile«, lieferten die konventionell verbindlichen Richtlinien »wahren« Denkens und Handelns.

Erst mit der Renaissance, die zu einer Wiederentdeckung der antiken Philsophie führte, wurde das einerseits blutrünstige, andererseits aber doch sehr plausible dualistische Weltbild des Mittelalters, das »Gut« und »Böse« eindeutig zu trennen wusste, allmählich revidiert. So konnten die Denker in der Zeit der Aufklärung (wieder) damit beginnen, formallogisch »richtig« vorzugehen. Alles, was den impliziten Richtlinien dabei nicht entsprach, wurde schlicht als lächerlich angesehen. Dies formulierte der englische Philosoph Beattie im Jahre 1776 so:

»Lachen ergibt sich aus der Beachtung von zwei oder mehreren (»logisch«, M.T.) inkonsistenten, unpassenden oder inkongruenten Bestandteilen oder Sachverhalten ...«

Für Schopenhauer, entspringt das »Phänomen des Lachens« aus der »plötzlichen Wahrnehmung einer Inkongruenz zwischen dem Abstrakten und dem Anschaulichen«. Und bei Schopenhauer finden wir auch erstmals den Begriff Paradoxie, der ab der Mitte des 19. Jahrhunderts für die Philosophie von wachsender Bedeutung wurde.

Illustre Namen sind in diesem Zusammenhang zu nennen: Carnap, Russel und Wittgenstein etwa: allesamt Logiker, die sich um die Auflösung jener Widersprüche bemüht haben, die dem systematischen formallogischen Denken anhaften.


Ein Beispiel mag der Veranschaulichung dienen:

Einem Barbier, der beim Militär dient, wird von seinem Hauptmann befohlen, alle Soldaten der Kompanie zu rasieren, die sich selbst nicht rasieren, aber keine anderen.

Der amerikanische Logiker Reichenbach kommt in diesem Zusammenhang zu dem logischen Schluss, »dass es den Kompaniebarbier im definierten Sinne nicht geben kann.«

Wie das? Der sog. gesunde - offensichtlich aber »unlogische« - Menschenverstand sträubt sich intuitiv gegen diese Aussage. Doch werden alle diesbezüglichen Ignoranten durch den bekannten Kommunikationstheoretiker Watzlawick indes wie folgt aufgeklärt:

»Die wesentlichen Bestandteile der geschilderten Situation sind die folgenden:

Eine bindende komplementäre Beziehung (Offizier und Untergebener).

Innerhalb dieser Beziehung wird ein Befehl gegeben, der befolgt werden muss, aber nicht befolgt werden darf, um befolgt zu werden. (Der Befehl definiert den Barbier nämlich als Selbstrasierer, wenn und nur wenn er nicht selbst rasiert, und umgekehrt.)

Der die inferiore Position in dieser Beziehung einnehmende Soldat kann den Rahmen der Beziehung nicht verlassen oder die Paradoxie dadurch auflösen, dass er die Absurdität kommentiert (dies wäre gleichbedeutend mit Insubordination).«

Für den schon bemühten »gesunden Menschenverstand«, der intuitiv bzw. gefühlsmässig vorgeht, bleiben derartige Konstruktionen freilich unverständlich, widersinnig oder eben paradox. Folgerichtig schreibt David Pears in einer Abhandlung über die Philosophie Wittgensteins: »Dadurch, dass der Logiker dem Denken die pseudowissenschaftliche Stütze entzieht, hinterlässt er gestrandete Leviathane: von riesenhaften Ausmassen, aber zweifelhafter Lebensfähigkeit.«

Ersetzen wir »Pseudowissenschaft« durch Begriffe wie intuitive Welterfahrung, Mystik, emotionale Intelligenz oder auch künstlerische Kreativität, so wird das starre Gerüst solcher Leviathane in der Tat mit Leben erfüllt. Mir scheint, dass gerade in Zeiten einer alles bestimmenden Rationalität, der Mensch ein besonderes Bedürfnis verspürt - verspüren muss - , den Einschränkungen der Logik zu entfliehen. Anders wäre es kaum zu erklären, weshalb gerade in unserer Postmoderne ein so grosses Interesse an Mystik und esoterischen Geheimwissenschaften besteht. Denn im Gegensatz zum fraglos irrationalen Mittelalter, das eine ganze Reihe von bedeutenden Mystikern hervorgebracht hat, bescherte die Aufklärung dem neuzeitlichen Menschen im Grunde die ganz grosse Ernüchterung. Die Naturwissenschaft entzauberte konsequent und schonungslos das naive Naturerleben, indem sie auf einer trockenen Analyse des objektiven So-Seins der Dinge beharrt. Das Wesen ihrer erlebbaren Beseelung wurde dabei rigoros ignoriert und entwickelte sich - nolens volens -zu einer Reservation von Künstlern.

Mittlerweile ist die grosse Wende, zumindest im Ansatz, aber vollzogen: Fritjof Capra, einer der Propheten dieser »Wendezeit« äussert hierzu:

»Immer, wenn das Wesen der Dinge vom Intellekt analysiert wird, muss es absurd und paradox erscheinen. Dies haben die Mystiker immer erkannt, für die Wissenschaft stellt sich dieses Problem jedoch erst in jüngster Zeit. Denn mit dem Eindringen in das Atom und dem Erforschen seiner Struktur hat die Wissenschaft die Grenzen unseres sinnlichen Wahrnehmungsvermögens überschritten. Von diesem Punkt an konnte sie sich nicht mehr mit absoluter Sicherheit auf Logik und Verstand verlassen. Wie die Mystiker hatten jetzt auch die Physiker es mit einer nicht-sinnlichen Erfahrung der Realität zu tun, und wie die Mystiker mussten sie sich mit den paradoxen Aspekten dieser Erfahrung auseinandersetzen.«

Demnach besteht für den postmodernen Menschen die Notwendigkeit, die Natur in einer ganz ähnlichen Weise aufzufassen wie der gestaltende Künstler es immer schon tat. Carlos Castaneda lässt dies seinen Yaqui-Medizinmann mit den folgenden Worten erklären:

»Immer, wenn du die Dinge anschaust, dann siehst du sie nicht. Du schaust sie wahrscheinlich nur an, um die zu überzeugen, dass etwas da ist. Da du nicht zu sehen versuchst, schauen die Dinge, jedesmal, wenn du sie betrachtest, ganz ähnlich aus. Wenn du andererseits sehen lernst, dann ist ein Ding, sobald du es siehst, nicht mehr dasselbe. Zum Beispiel habe ich dir erzählt, dass ein Mensch wie ein Ei aussieht. Jedesmal, wenn ich denselben Menschen sehe, dann sehe ich ein Ei, und doch ist es nicht dasselbe Ei.«

Vielleicht ging es Ihnen ähnlich wie mir, als ich diese Passage erstmals las - in der anfänglichen Überzeugung, hier sei eine bedeutsame philosophische Erkenntnis zu gewinnen ... Doch dann spricht der Medizinmann plötzlich von einem Ei, lässt er die Sphäre hehren Erkenntnisgewinns unvermittelt mit der banalen Konkretheit der Dingwelt kollidieren. Dieses Ereignis bezeichnet Arthur Koestler als »Bisoziation«. Er spricht dieser eine grundsätzlich schöpferische Bedeutung zu. Koestler schreibt: »Wenn zwei voneinander unabhängige Wahrnehmungs- und Denksysteme aufeinander treffen, ist das Resultat entweder ein Zusammenstoss, der im Lachen endet, oder eine Verschmelzung zu einer neuen geistigen Synthese (i.S. von Kreativität).« Woody Allen fasste dies einmal in seine eigenen Worte:

»Was wäre, wenn alles nur eine Illusion wäre und nichts existierte? In diesem Fall hätte ich für meinen Teppich definitiv zu viel gezahlt!«


Diese logische Regelverletzung finden wir übrigens auch im Zen:

So fragte ein Mönch den Meister in allem Ernst: »Hat ein Hund Buddha-Wesen oder nicht?
Der Meister versetzte: »Mu!« (was so viel wie »nichts« heisst).
Und als Ergänzung, keinesfalls aber Erklärung hierzu, der folgende Lobspruch:
»Hund! Buddha-Wesen!
Darstellung des ganzen, unabdingbaren Gebots!
Wer zu denken beginnt, 'hat' oder 'hat nicht',
hat Leben verloren.«

Wer logisch denkt ... der findet die Erleuchtung nicht. Diese Grundsatz entsprechend versuchen die Zen-Meister unermüdlich, ihre Schüler innerhalb der engen Schranken der Logik zu verwirren. So wird auch das Spiel mit den Worten und der sie leitenden Logik zu einem Verwirrspiel, veranschaulicht an folgendem Gedicht:

»Wenn ich denke,
dass ich nicht mehr an dich denke,
denke ich immer noch an dich.
So will ich versuchen,
nicht zu denken,
dass ich nicht mehr an dich denke.«

Diese »Aufruhr der Regeln«, wie Christian Enzensberger es einmal genannt hat, ist uns Angehörigen einer durchrationalisierten Zivilisation vielleicht suspekt, vielleicht bereitet sie uns Kopfschmerzen: faszinierend finden es viele allemal. Wie sonst wäre es zu verstehen, dass Dadaismus, Tao, Zen, Sufismus und nicht zuletzt die paradoxen Interventionen der systemischen und strategischen Psychotherapie so viel Interesse bei uns Gegenwartsmenschen finden?

Logische Verwirrspiele lassen sich übrigens auch im psychopathologischen Bereich antreffen. Nur sind sie hier, wo der betreffende Mensch in einer krankmachenden »Beziehungsfalle« gefangen ist, kein frei gewählter Weg zum Ziele der Erleuchtung, sondern ein mehr oder weniger unbewusst gewähltes Instrument, um den anderen verrückt zu machen. Die »Knoten«, die sich daraus ergeben, hat Harold Laing beschrieben. Hier ein Beispiel:

»Sie weiss, dass er es nicht weiss.
Sie glaubt, sie weiss, was er nicht weiss, aber
sie weiss nicht, dass er es nicht weiss.
Er weiss nicht, dass sie nicht weiss, dass er es nicht weiss
und glaubt, sie weiss, was er weiss, dass er es nicht weiss
Sie glaubt ihm
Nun glaubt sie zu sehen, was er zu sehen glaubt
und dass er es auch sieht.
Nun können sich beide völlig irren.«

Die Psychotherapie, vormals eine gänzlich rationale und ernsthafte Angelegenheit, hat inzwischen paradoxe Gegenmittel erprobt. Ich möchte nur die Konfusionstechnik von Milton Erickson, des Altmeisters der Konfusionstechnik anführen. Durch widersinnige Monologe bringt er seine Patienten dazu, sich von einer Logik bzw. Unlogik zu lösen, die sie krank gemacht hat. So kann er zum Beispiel erklären:

»Man denkt und denkt und die Dinge sind relativ meine Gedanken relativ zu Ihren und Ihre zu meinen was meinen Sie von meinem Sessel der für mich hier ist und Ihr Sessel ist für mich dort denn mein Hier und mein Dort ist dort und für sie ist mein Dort Ihr Hier und mein Hier ist Ihr Dort und so fort in der Zeit das Gleiche weil die gleiche Zeit die Gegenwart ist während Ihr 18. Geburtstag vor Ihrem neunzehnten kam aber an Ihrem 18. Geburtstag war der siebzehnte in der Vergangenheit und der achtzehnte war jetzt und jetzt denken Sie an die Zukunft in der die Zukunft zur Gegenwart Ihres 20. Geburtstages wurde und so geht es mit den Eigenschaften der Worte wenn Sie an die Eigenschaftsworte denken gibt es Worte die ihre eigene Eigenschaft selbst haben und Worte die die eigene Eigenschaft nicht selbst haben weil das Wort kurz selbst kurz ist aber das Wort lang nicht selbst lang sondern so kurz wie kurz ist...«

Und Frank Farrelly, Begründer der ersten rein humorbezogenen Psychotherapie (Provokative Therapie), eröffnete einen Kongressbeitrag - ganz in der Sufi -Tradition eines Nassrudin Mullah, mit folgenden Worten:

»Ich überlege mir gerade, wie ich beginnen möchte. Und ich dachte, ich könnte sagen, ich wüsste im allgemeinen, was provokative Therapie sei. Und ich denke, in gewisser Weise weiss ich immer weniger und weniger, was das ist. Nun, das liegt wohl weniger daran, dass sie so komplziert ist, sondern vielmehr daran, dass ich immer mehr und mehr zum Dummkopf werde.«

Diese Beispiele verrücktmachender und heilsamer Verwirrspiele sind bei all ihrer Faszination durchaus nicht neuartig. Ähnliches hat vor rund 130 Jahren Lewis Carrol - übrigens ein Dozent für Mathematik und Logik - schon im Auge gehabt, als er die logischen Ver-rückungen von »Alice im Wunderland« schilderte. Carrols gelungener Versuch, die festgefügte Ordnung logischer Regeln durcheinanderzubringen, ja geradezu auf den Kopf zu stellen, führt uns in die Sphäre des Humors, über den Jean Paul sagte:

»Der Humor, als das umgekehrte Erhabene, vernichtet nicht das Einzelne, sondern das Endliche durch den Kontrast mit der Idee. Es gibt für ihn keine einzelne Torheit, keine Toren, sondern nur Torheit und eine tolle Welt; er hebt [...] keine einzelne Narrheit heraus, sondern er erniedrigt das Grosse, [...] um ihm das Kleine, und erhöhet das Kleine, [...] um ihm das Grosse an die Seite zu setzen und so beide zu vernichten, weil vor der Unendlichkeit alles gleich ist und nichts.«

Dies alles subsummierte Jean Paul in die witzige Bemerkung, der Humor sei der »verkleidete Priester, der jedes Paar kopuliert« - fürwahr eine Wortspielerei, die - um es mit Freud zu sagen - ein primärprozesshaftes (also durch und durch alogisches) Denken offenbart. Damit ist das Witzemachen, ebenso wie der Dadaismus, Surrealismus, Symbolismus oder die groteske Dichtkunst eines Christian Morgenstern zum Beispiel, ein Akt befreiender Dekonstruktion. Denn das scheinbar festgefügte Regelsystem der Logik wird - ganz spielerisch - aus den Angeln gehoben (oder zumindest durch den Kakao gezogen!). Unbestreitbar am konsequentesten vermag dies der jüdische Witz.

Als Beispiel können wir jenen Rabbi nehmen, der seine Brille vermisst und sich eine ganze Reihe von scharfsinnigen Fragen nach dem gegenwaärtigen Besitzer dieser Brille stellt, die er dann ebenso scharfsinnig beantwortet: immer unter Anwendung des logischen Prinzips des ausgeschlossenen Dritten:

»Da die Brill ist nicht da, ist sie entweder weggelaufen, oder es hot sie einer genommen. Lächerlich, wie kann sie sein weggelaufen, wo sie doch hot ka Füss? Wenn sie hot einer weggenommen, hot sie entweder einer weggenommen, der hot a Brill oder es hot sie einer weggenommen, der hot ka Brill. Wenn es ist einer gewesen, der hot ka Brill, ist es entweder einer gewesen, der hot ka Brill und seht, oder es ist einer gewesen, der hot ka Brill und seht nix. Wenn er hot ka Brill und seht, was braucht er da e Brill? Es ist also gewesen einer, der hot ka Brill und seht nix. Wenn es ist gewesen einer, der hat ka Brill und seht nix, kann er doch nicht finden die Brill? Wenn sie hat keiner weggenommen, der hot a Brill und seht und es hot sie keiner weggenommen, der hot ka Brill und seht nix, und wenn sie ist nicht weggelaufen, weil sie hat ka Füss, muss doch die Brill da sein! Ich seh aber doch, sie ist nicht da! Ich seh? Also hab ich doch a Brill! Wenn ich hab a Brill, ist sie entweder mei Brill oder a fremde Brill! Wie kommt aber a fremde Brill auf meine Nas? Da ich hab ka fremde Brill, ist es mei Brill!«

© Dr. Michael Titze
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