Humor und Postmoderne
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Von Michael Titze
Vor vierzig Jahren verglich der Soziologe Erving Goffman die »soziale Welt« mit einer grossen Theateraufführung, deren dramatische Gestaltung auf sorgfältig einstudierten Rollen beruht. Jeder Darsteller auf dieser Weltbühne soll einen möglichst vorteilhaften Eindruck erwecken. Er soll auf genau festgelegte und allgemein anerkannte Spielregeln zurückgreifen, die seine Rhetorik ebenso lenken wie sein nonverbales Handeln. Eine unsichtbare Regie und die Technik der Hinterbühne sorgen dafür, dass der narrative Zusammenhang des Schauspiels peinlich genau eingehalten wird. Denn der Darsteller soll nicht »aus der Rolle zu fallen«!

Diese Metapher ist auf die sozialen Verhältnisse »postmoderner« Gegenwart nicht mehr anzuwenden. Die Gesellschaft, die Emile Durkheim einst als »das einzigartige Ganze« beschrieben hatte, »auf das alles bezogen ist«, präsentiert sich dem »postmodernen« Menschen als eine Art »Patchwork-Decke, wo jeder am eigenen Fleckchen häkelt«, wie es der Kultursoziologe Gerhard Schulze formuliert.

Jean-Francois Lyotard, ein Vordenker der Postmoderne, hatte das überkommene »Projekt der grossen Meta-Erzählungen« für gescheitert erklärt. Das Skript, das die Rollenspiele festlegt, wird nicht mehr (allzu) ernst genommen, denn was zunehmend interessiert, ist die Improvisation interaktiven Stegreiftheaters. Hier soll sich der einzelne optimal verwirklichen, indem er seinen Spass hat und einen möglichst vorteilhaften Eindruck erweckt. Gerhard Schulze beschreibt dies am Beispiel der »Szene«:

»Mal setzt sich der eine Akteur durch, mal der andere, ohne dass sich ein stabiles Gefälle von Über- und Unterordnung erkennen liesse. Die Akteure bewohnen nicht das gleiche Haus. Man sitzt im eigenen Bau von Grundorientierungen [...] und nimmt die anderen Akteure nur als Bestandteil einer Umwelt wahr, die man teilweise im Dienst der eigenen Interessen funktionalisieren kann, teilweise ignorieren darf, teilweise als lästige Bedingung einkalkulieren muss.«

Diese »radikale Diskontinuität« (Foucault) ist Ausdruck eines fundamentalen Wandlungsprozesses, der zu einer konsequenten Relativierung tradierter Normen und Werte geführt hat und der mit einer generellen Relativierung eindimensionaler Wahrheitsansprüche einhergeht. In dieser postmodernen sozialen Welt gibt es keinen »festen Orientierungspunkt« (Derrida), keine eindeutig festgelegten Spielregeln. Jeder hat die Möglichkeit, sich in eine frei gewählte Spielszene einzubringen: Jeder ist gleichzeitig Zuschauer und Darsteller. Und jeder darf und kann (wenn er denn dazu in der Lage ist!) die Perspektiven beliebig verschieben und variieren. Der Wissenssoziologe Wolfgang Engler beschreibt derartige Szenarien am Beispiel des modernen Grossstadtmenschen:

»(Er) legt Masken nach Belieben an und ab, begreift persönliche Identität nicht als Substanz, sondern als lockere Aggregationsform von Handlungsrepertoires, die, wie es die Situation erfordert, zum Einsatz kommen. Behend bewegen sich die vielen kleinen Menschenmonaden durch den sozialen Raum, prallen aufeinander, bilden eine flüchtige Konfiguration, um erneut in Bewegung zu geraten. Eben noch gefesselt durch funktionsspezifisch geordnete Handlungsketten, konstituieren sich die Individuen zu Kapitänen ihrer Lebensläufe, stellen sie der Welt der 'Verhältnisse' eine Welt der 'interpersonellen Beziehungen' gegenüber, die sie aus freien Stücken gestalten.«

Dieser Auflösung festgefügter Orientierungsmuster entspricht auch das neue Interesse an paralogischen (vernunftwidrigen) Prozessen, die ihren Ursprung gerade dort haben, wo festgefügte rationale Systeme an ihre Grenzen stossen, wo die Kontinuität eines geregelten Determinismus abbricht. So entstehen logische Widersprüchlichkeiten, »katastrophische Antagonismen« (Lyotard), »chaotische Verhältnisse der Rationalitäten« (Schulze) und paradoxe Kommunikationsstile. Das aktuelle Interesse ist zunehmend weniger auf Wissensbereiche ausgerichtet, die im streng naturwissenschaftlichen Sinne objektivierbar sind. »Alternative« Themen wie emotionale Intelligenz, ganzheitliche Medizin, fernöstliche Pilosophie, Esoterik oder fraktale Dimension (Hausdorff) faszinieren den Gegenwartsmenschen ebenso wie pseudowissenschaftliche Spekulationen: So hat eine Umfrage von Newsweek kürzlich ergeben, dass fast die Hälfte der US-Bürger an die Existenz von Ufos und Ausserirdischen glaubt! Das alles liesse sich als Beleg für die These interpretieren, der postmoderne Mensch sei an eben jenen Grenzbereichen und Konfliktzonen interessiert, »aus denen Unbekanntes und der gewohnten Vernunft Widerstreitendes (Paraloges) hervorgeht« (Welsch).

Für Lyotard gibt es ohnehin keine vollständigen, widerspruchsfreien, in sich konsistenten Systeme, weil diese immer wieder in der inkonsistenten Alltagssprache verankert werden müssen. Das Beispiel einer alltäglichen Diskussion zwischen zwei Gesprächspartnern (die dem schon erwähnten Stegreiftheater entspricht) führt uns diese Inkonsistenz leicht vor Augen: Fragen, Bitten, Behauptungen und erzählerische Elemente wechseln einander beliebig ab. Dieses Sprachspiel ist natürlich nicht regellos, dennoch ist eine weitgehende Wandelbarkeit der Aussagen und der Übergang zu neuen Sprachspielen jederzeit möglich.

Ein Forscherteam, das später als »Palo Alto-Gruppe« bekannt werden sollte, begann Anfang der fünfziger Jahre, solche Sprachspiele systematisch zu untersuchen. Dies kulminierte in der Erkenntnis, dass nicht nur die (verbale) Sprache, sondern alles Verhalten Kommunikation ist. (Watzlawick) Da es demnach unmöglich ist, nicht zu kommunizieren, hat jede Mitteilung ihren Sinn, der allerdings nur dann verstehbar ist, wenn das jeweilige Bezugssystem mit beachtet wird. Diese Rahmen können grundsätzlich in einem widersprüchlichen Verhältnis zueinander stehen, also »doppelgebunden« sein, so dass sich »inkongruente«, »inkonsistente« oder »paradoxe« Aussagen ergeben. So können wir eine verbale Botschaft vermitteln (zum Beispiel: »Ich mag dich!«) und dabei gleichzeitig körpersprachlich eine gegenteilige Botschaft zum Ausdruck bringen, indem wir vielleicht unser Gesicht angewidert verziehen. Wir können ferner eine Botschaft in einer wörtlichen (»expliziten«) und einer metaphorischen (»impliziten«) Weise kommunizieren. Dabei kann das offen Ausgesprochene durch das indirekt Thematisierte völlig in Frage gestellt werden. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn jemand beteuert das Fachwissen seines Vorgesetzten zu schätzen und sich dabei auf Einzelheiten bezieht, die dessen Ignoranz indirekt entlarven. Damit steht es dem Gesprächspartner frei zu entscheiden, was »in Wirklichkeit« gemeint ist.

Widersprüchliche Sprachspiele eröffnen den Zugang zur inkongruenten Welt der Paradoxien, die eine Domäne »chaotischer« Kreativität ist. Für William F. Fry, den »Humor-Beauftragten« der Palo Alto-Gruppe, ist das kommunikative Chaos ein Nährboden der Erheiterung. Demnach erfüllt alles, was - im Hinblick auf ein geregeltes Sprachspiel - »aus dem Rahmen fällt« die Voraussetzungen für einen humorvollen Diskurs. Dieser Rahmen wird durch alltagslogische Prinzipien definiert, die die kreative Freizügigkeit unseres Wahrnehmens, Denkens, Sprechens und Handelns deutlich einschränken bzw. reduzieren. Kleinkinder funktionalisieren die Objekte, die ihre wahrnehmbare Welt bilden, nach »Lust und Laune«, indem sie diesen eine Bedeutung zusprechen, die sich aus der »privaten« Bedürfnislage des Kindes, seinen Interessen und Phantasien herleitet (= Lustprinzip). Im kindlichen Spiel eröffnet diese privatlogische Funktionalisierung den Zugang zu einer kreativen und phantasievollen Welt, die dem Erwachsenen so nicht (mehr) zugänglich ist! Dies ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass ein wichtiges Ziel der Sozialisation darin besteht, die Funktionen von Objekten im Hinblick auf ganz bestimmte relevante Merkmale zu beschränken, die man diesen »im allgemeinen« bzw. »normalerweise« zusprechen darf (= Realitätsprinzip). Als Beispiel können wir einen Tisch nehmen, dessen relevantes Merkmal »geeignet zum Essen bzw. Schreiben« ist. Wird dieser Tisch zum Schneeräumen oder als Regenschutz verwendet, werden die Relevanzkriterien der Alltagslogik verletzt - obwohl sich gleichzeitig ein kreativer Nutzen ergibt! Auf aussenstehende Beobachter wirkt eine solche Verletzung alltagslogischer Regeln häufig »belustigend«, das heisst, es kann zur Auslösung einer Humorreaktion kommen, die sich in einem Lächeln oder Lachen äussert. Dies hatte schon Arthur Schopenhauer festgestellt: »Je grösser und unerwarteter in der Auffassung des Lachenden diese Inkongruenz ist, desto heftiger wird sein Lachen ausfallen!«

Professionelle Humoristen greifen seit jeher gezielt auf Inkongruenzen zurück, indem sie bedenkenlos Zusammenhänge herstellen, die im Hinblick auf die Relevanzkriterien unserer Alltagslogik »regelwidrig« bzw. »absurd« sind. Ein Meister auf diesem Gebiet ist Woody Allen, der zum Beispiel feststellte: »Der Nihilismus behauptet, dass es kein Leben nach dem Tode gibt. Ein deprimierender Gedanke, besonders für einen, der sich nicht rasiert hat!« Der amerikanische Komiker Groucho Marx liegt ganz auf dieser Linie, wenn er erklärt: »Wenn ich ein Pferd hätte, würde ich Ihnen die Sporen geben.« Als weiteres Beispiel kann schliesslich noch dieses Zwiegespräch zwischen einem aufgeregten Fahrgast und einem Busfahrer dienen: »Wieviel Uhr?«- »Donnerstag« - »Mein Gott, da muss ich ja aussteigen!«

Solche Inkongruenzen entsprechen im übrigen auch der »vernünftigen Unvernunft« (Roter) der dadaistische Bewegung, die auch als »Ulk mit Weltanschauung« charakterisiert wird. Dada hebt logische Widersprüche konsequent auf und greift bedenkenlos auf Groteske, Nonsens und Ironie zurück.

Mit dem Namen von Joseph Beuys ist eine neo-dadaistische Kunstrichtung verbunden, die seit den sechziger Jahren als »Fluxus«-Bewegung bekannt wurde. Sie machte nicht zuletzt mit einem enttabuisierenden Aktionismus von sich reden und imponierte auch durch hanebüchene Scherzartikel wie »Radios für Taube«, »Anti-Uhren« ohne Zifferblätter, die dafür 180 Millimeter oder 360 Grad anzeigen, Pseudo-Werkzeugköfferchen für Einbrecher (»Burglary Fluxhit«) oder Lächelapparate (»Flux Smile Machine«).

In der Tradition dieser Bewegung steht auch der »gelotophile Privatlaie« René Schweizer, der vor zwanzig Jahren Schweizer Behörden und Institutionen mit »Anfragen« fluxusgemäss zu verulken begann. Zum Beispiel schrieb er dem Fundbüro, er hätte seinen Verstand verloren und dem Staatsanwaltschaft, er hätte sich in die Hosen geschissen und wollte fragen, ob das ein Offizialdelikt sei. Auf erstaunlich viele solcher Nonsens-Schreiben gab es zunächst durchaus ernstgemeinte Antworten, die gerade deshalb ausgesprochen komisch wirken. Diese Korrespondenz, die im Rahmen auflagenstarker »Schweizer-Bücher« veröffentlicht wurde, bewirkte schliesslich einen grundlegenden Einstellungswandel bei den Adressaten: Im letzten bisher erschienen Buch sind fast alle Antworten humorig ausgefallen - so dass die Lektüre weit weniger reizvoll ist, als dies zu Beginn der Aktion der Fall war! Daher begann sich Schweizer »wesentlicheren Dingen« zuzuwenden, wie »zum Beispiel Salvador Dalis paranoisch-kritischer Methode, welche die Verwandlung der Wirklichkeit durch systematische Irreführung betreibt.«

Dada und Fluxus konzentrieren sich auf Grenzüberschreitungen, die paralogisch und paradox sind. Ihre Aktionen zielen auf die Verschmelzung von zwei verschiedenartigen Bezugssystemen ab. Alfred Adler hatte diese (in Übereinstimmung mit den psychoanalytischen Konstrukten der »Primär«- und »Sekundärprozesse«) einleuchtend beschrieben. Das (auch in ontogenetischer Hinsicht) erste, führte er auf einen »logischen Eigensinn« zurück, der für die »private Logik bzw. Weltanschauung« von Kindern, »Primitiven«, Künstlern und Geisteskranken charakteristisch ist. Hier sind die normativen Einschränkungen des zweiten, »gesellschaftlich-durchschnittlichen« Bezugssystems ungültig. Denn dieses umfasst, wie Adler feststellte, »alle Logik, alle Weltvernunft, und in seinem Sinne erwarten wir normale Bewegungen eines Individuums«. So ist zum Beispiel der komische Effekt des Witzes auf das Aufeinanderprallen dieser beiden Bezugssysteme zurückzuführen. Man könnte es auch so formulieren: Zum Lachen regt der Übergang aus der vernünftigen Erwachsenenwelt in die unvernünftige Welt des Kindes oder des Narren an. Interessanterweise hat der Philosoph Wolfgang Welsch das »postmoderne Interesse« genau auf diese »Grenzen und Konfliktzonen« bezogen, »aus denen Unbekanntes und der gewohnten Vernunft Widerstreitendes (Paraloges) hervorgeht«. Der Computer-Wissenschaftler Douglas R. Hofstadter, der sich auf die Erkenntnisse von Kurt Gödel stützt, hat dieses »Herausspringen aus dem System« zudem als »Voraussetzungen für Intelligenz« ausgewiesen. Denn im Gegensatz zum linearen »Denken« von Computern, die Hofstadter für die »unbeweglichsten, wunschlosesten, regeltreuesten Tiere« hält, ist jene kreative bzw. (wie man ergänzen könnte) »emotionale« Intelligenz, zu der gerade der nonkonformistische Mensch befähigt ist, durch folgende Kriterien charakterisiert:
  • sehr flexibel auf die jeweilige Situation reagieren;
  • günstige Umstände ausnützen;
  • aus mehrdeutigen oder kontradiktorischen Botschaften klug werden;
  • die relative Wichtigkeit verschiedener Elemente in einer Situation erkennen;
  • trotz trennender Unterschiede Ähnlichkeiten zwischen Situationen finden;
  • trotz Ähnlichkeiten, die zu verbinden scheinen, zwischen Situationen unterscheiden können;
  • neue Begriffe herstellen, indem man alte Begriffe auf neuartige Weise zusammenfügt;
  • Ideen haben, die neuartig sind.

Die Postmoderne ist in mehrfacher Hinsicht eine »Wendezeit«. Das lustlose Realitätsprinzip des modernen Kulturpessimisten Freud scheint sich ebenso überlebt zu haben wie der kategorische Imperativ Kantscher Prägung: Angesichts der schon von Nietzsche beschworenen »Umwertung aller Werte« scheint sich das determinierte soziale Subjekt aufzulösen, wie Lyotard feststellt. Es fehlt nicht an besorgten Stimmen, die vor einer »autistischen Gesellschaft« (Lempp) warnen, in der die Verantwortlichkeit für andere verloren gehe. Psychoanalytische Autoren diagnostizieren einen neuen »narzisstischen Sozialisationstypus« (Ziehe), der bereichsweise auf frühe Sozialisationsdefekte zurückzuführen sei. Und obwohl sich die althergebrachte Leistungsgesellschaft in eine spassorientierte Erlebnisgesellschaft zu transformieren beginnt, hat sich das subjektive Wohlbefinden des Gegenwartsmenschen nicht erhöht.

Oliver James berichtet in seinem Bestseller Britain on the Couch, dass sich die Depressivitätsanfälligkeit seit den fünfziger Jahren um das Zehnfache erhöht hat. Er führt dies auf die Tatsache zurück, dass sich der soziale Konkurrenzkampf seither deutlich verschärft habe. Man fügt sich nicht wie in vergangenen Zeiten allein deshalb in das Arbeitsleben ein, um seinen »normalen« Lebensunterhalt zu verdienen. Dieses relativ leicht zu realisierende Ziel wird angesichts einer sozialen Wirklichkeit, in der die materielle Existenzsicherung vom Wohlfahrtsstaat grundsätzlich gewährleistet wird, in seinem Sinngehalt deutlich entwertet. Zudem haben sich die Anreize für eine individuelle »Selbstverwirklichung« im Arbeitsleben stark erhöht: Die autoritären Normvorgaben einer hierarchisch strukturierten industriellen Produktionsgesellschaft sind inzwischen weitgehend hinfällig. Der postmoderne Arbeitnehmer soll sich nicht als systemkonformer »Befehlsempfänger« verstehen, der in einen lebenslang stabilen Produktionsprozess eingebunden ist, sondern als engagierter und wandlungsfähiger »Macher«. Kritische Eigeninitiative, kreative Flexibilität, autonome Selbstverantwortung und souveräne Soziabilität: das sind die Qualifikationsmerkmale, die den Erwartungen einer postindustriellen Dienstleistungs- und »High-tech-selfproviding«-Gesellschaft (Bergmann) entsprechen, in der der einzelne lebenslang lernen, »umdenken« und sich neu orientieren muss. (Der amerikanische Soziologe Richard Sennett hat ermittelt, dass z.B. ein Akademiker in vierzig Arbeitsjahren damit rechnen muss, mehr als zehnmal die Stelle zu wechseln und seine beruflichen Grundkenntnisse wenigstens dreimal zu erneuern!)

Dieser Kreativitäts- und Innovationsdruck bleibt durchaus nicht auf das Berufsleben beschränkt. Er erstreckt sich ebenso auf den stetig wachsenden Freizeitbereich. Nach Gerhard Schulze ist dabei der kategorische Imperativ unserer Zeit bestimmend, sein Leben optimal zu erleben. Freizeitforscher wie Horst W. Opaschewski führen die wachsende Tendenz, sich auf risikoreiche, nervenaufreibende und kostspielige »Fun«-Aktivitäten im ausserberuflichen Bereich einzulassen, auf eben diesen Imperativ zurück. Das Vergnügen wird so zu einem mühevollen Selbstzweck. Die subjektive Lebensqualität bemisst sich am objektiv Überdurchschnittlichen: am ewig jugendlichen, makellosen Aussehen (US-Psychologen sprechen von »lookism«) und einer fast unbegrenzten körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit. Die postmoderne Überbietungsgesellschaft erzeugt somit eine Atmosphäre permanenter Überforderung, die eine positive Selbsteinschätzung immer schwerer gelingen lässt. Das Anwachsen »narzisstischer« Selbstwertprobleme, die mit Scham, Schüchternheit und dem »oft auch physischen Unbehagen verbunden sind, sich auf andere zuzubewegen, ihre Blicke zu ertragen, mit ihnen zu plaudern, hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten fast unmerklich ausgebreitet«, resümierte Heiko Ernst.

Einen Ausweg offerieren neue Therapieformen, die das postmoderne »Mehr desselben-Dilemma« (Watzlawick) durch konsequente Verwendung paradoxer, provokativer oder einfach »unverschämter« Verfahrensweisen zu dekonstruieren versuchen. Damit wird die uralte Tradition des Zen-Buddhismus aufgegriffen, die für sich allein zunehmend viele Anhänger in der westlichen Welt findet. Wegweisend waren die Forschungsergebnisse der Palo Alto-Gruppe, die - ebenso wie die »paradoxe Intention« Viktor Frankls und die Konfusionstechniken Milton Ericksons - zum Entstehen der strategischen und systemischen Psychotherapie beigetragen haben. Der Grundgedanke folgt dem alten paradoxen Prinzip, Gleiches mit Gleichem zu behandeln, also dem Patienten das zu »verschreiben«, was sein Problem ist. So sollen etwa bislang schamhaft verheimlichte Schwächen bedenkenlos propagiert werden, nachdem diese vom Therapeuten positiv »umgedeutet« bzw. »umetikettiert« wurden. Damit soll der pathogene Perfektionismuszwang, der »faustische Drang zur Hundertprozentigkeit« (Frankl), invalidiert bzw. der »Lächerlichkeit preisgegeben werden«. Frankl hatte als erster den Zusammenhang mit Humor hergestellt, »denn durch Humor lernt der Patient, seine Symptome zu ironisieren.« Heute werden alle paradoxen Verfahren dem weitgefassten Gebiet des therapeutischen Humors zugerechnet.

Ein Pionier des therapeutischen Humors ist Albert Ellis, der Begründer der Rational-emotiven Therapie. Ellis hatte seine psychoanalytische Lehranalyse einstmals bei Richard Hülsenbeck absolviert, einem der Mitbegründer der Dada-Bewegung. Die von Ellis verwendeten »Schamüberwindungsübungen« sind ebenso effizient wie humorvoll. So schlägt er seinen Patienten zum Beispiel vor: »Geben Sie eine Schwäche zu, die die meisten Menschen normalerweise verachten, z.B. 'Ich kann nicht buchstabieren'.« - »Verhalten Sie sich komisch, indem Sie auf der Strasse singen oder an einem sonnigen Tag einen schwarzen Regenschirm aufspannen.« - »Versuchen Sie, eine Uhr bei einem Schuster reparieren zu lassen.« - Fragen Sie in einem Geschäft nach einem Schraubenzieher für Linkshänder«.

Ein weiterer Protagonist therapeutischen Humors ist Frank Farrelly, dessen Provokative Therapie mit den absurdesten Übertreibungen arbeitet, um dadurch starre Überzeugungen und Perfektionsansprüche aus den Angeln zu heben. Farrelly sieht seinen Ansatz unlösbar mit einem Humor verbunden, wie dieser seit jeher vom Schalksnarren bzw. Clowns vorgelebt wurde. In dieser Rolle soll der Therapeut ein Identifikationsobjekt für Menschen sein, die sich vor ihrer eigenen Unvollkommenheit fürchten. So eröffnete Farrelly einmal ein Symposium mit den folgenden Worten:

»Ich bin ganz fest auf der Seite der Engel. Und ich dachte, ich könnte sagen, ich wüsste im allgemeinen, was provokative Therapie sei. Und ich denke, in gewisser Weise weiss ich immer weniger und weniger, was das ist. Nun, das liegt wohl weniger daran, dass sie so kompliziert ist, sondern vielleicht daran, dass ich immer mehr und mehr zu einem Dummkopf werde.«

Die wachsende Akzeptanz therapeutischen Humors könnte als der Wunsch interpretiert werden, sich in einer Welt (wieder) heimisch zu fühlen, in der sich althergebrachte Strukturen radikal auflösen. Dies kann zu tiefgehenden existentiellen Erschütterungen und Sinnkrisen führen. Viktor Frankl hatte dies als erster erkannt, und er war es auch, der in diesem Zusammenhang die heilsame Bedeutung des Humors (als »Existential«) vermerkte. Wer, wie es Hermann Hesse in seinem Buch Siddharta formulierte, über »diese seltsame, törichte Welt« lachen kann, der kann sich auch auf die paradoxen Spiele der Postmoderne »bedenkenlos« einlassen! Vielleicht erklärt dies das wachsende Interesse am »heilsamen Lachen«!

Literatur:
Adler, A.: Zusammenhänge zwischen Neurose und Witz. Internationale Zeitschrift für Individualpsychologie, 5, 1927, S. 94-96
Bartholomé, M.: Das Komische und die Folgen. In: Kunstforum International, Band 120, 1992, S. 90-96
Durkheim, E.: Soziologie und Philosophie, Frankfurt, 1976
Ellis, A./Grieger, R. (ed.): Handbook of Rational-Emotive Therapy, NY, 1977
Ernst, H.: Zwischen Mauseloch u. Rampenlicht. Psychologie Heute, 23/3, 1996, S.3
Engler, W.: Selbstbilder, Berlin, 1995
Farrelly, F.: Playing the devil's advocate, Konstanz 1991
Frankl, V. E.: Theorie und Therapie der Neurosen, München, 1975
Fry, W. F.: Sweet Madness, Palo Alto, 1968
Goffman, E.: Wir alle spielen Theater, München, 1969
Hesse, H.: Siddharta, Frankfurt, 1974
Hoellen, B.: Richard Huelsenbeck und Albert Ellis, Zeitschrift für Rational-Emotive Therapie, 4/1, 1993, S. 5-37
Hofstadter, D. R.: Gödel, Escher, Bach, Stuttgart, 1979
James, O.: Britain on the couch, London, 1998
Lempp, R.: Die autistische Gesellschaft, München, 1996
Lyotard, F.: Das postmoderne Wissen, Wien, 1999
Sennett, R.: Der flexible Mensch, Berlin, 2000
Schulze, G.: Die Erlebnisgesellschaft, Frankfurt, 1997
Schweizer, R.: Das GAGAistische Manifest, Basel, 1979
Theewen, G.: Joseph Beuys und der Humor. In: Kunstforum International, Band 120, 1992, S. 114-132
Watzlawick, P/Weakland, H. H./Fisch, R.: Lösungen, Bern, 1974
Welsch, W.: Unsere moderne Postmoderne, Weinheim, 1991
Ziehe, T.: Pubertät und Narzissmus, Frankfurt, 1975


© Dr. Michael Titze
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