Von Angesicht zu Angesicht - Die Bedeutung des Lächelns in der Psychotherapie (gekürzt)
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Michael Titze in: L.O.G.O.S. INTERDISZIPLINÄR
Juni 1998, S. 102-111
Der Gesichtsausdruck

Im menschlichen Gesicht findet das Seelenleben seinen eigentlichen Ausdruck. Hier spiegeln sich nicht allein Affekte, die gelegentlich »unkontrolliert« aus dem unbewussten Triebgrund hervorbrechen, sondern auch jene subtilen Ausdrucksphänomene, die das Ergebnis einer lebensgeschichtlich gewachsenen »Selbstbeherrschung« sind. Während Kleinstkinder ihre affektive Befindlichkeit unverhohlen äussern, werden schon Schulkinder fähig sein, diese - im Sinne einer »Realitätsprüfung« (Freud 1917/1982, S. 187-191) - zu modulieren, das heisst, auf die normativen Erwartungen der Sozialpartner abzustimmen. Dies erfordert einen Hemmungsaufwand, der allerdings nicht eindeutig definiert ist, weil er von verschiedenen kulturrelativen Kriterien abhängt. So ist es in unserer Kultur Mädchen nach wie vor eher erlaubt, schmerzhaften Affekten einen tränenreichen Ausdruck zu verleihen. Knaben dürfen demgegenüber im allgemeinen eher aggressiv agieren. Gerade in schamorientierten Kulturen (vgl. Kühn et al. 1997) ist eine weitgehende Affektkontrolle verbreitet, was sich typischerweise in einem verhaltenen mimischen Ausdrucksgebaren niederschlägt.

Doch selbst im Falle einer ausgeprägten Affektkontrolle lässt sich die emotionale Gestimmtheit eines Menschen in dessen Gesichtsausdruck »ablesen«. Ob ein Mensch heiter oder traurig gestimmt ist, ob er sich seiner selbst sicher ist oder an sich zweifelt, ob er von einer Sache begeistert ist oder Gefühle von Unlust, Widerwillen oder Ekel empfindet: all das findet im Gesichtsausdruck seinen erkennbaren Niederschlag. Und gerade diese nonverbale Kommunikation ist authentisch. Wir können mit Worten lügen, Botschaften vermitteln, die vom berechnenden »kühlen Verstand« ausgehen. Doch das Gesicht ist ehrlich: Es bringt das zum Ausdruck, was wir eigentlich empfinden, was unseren »tiefsten« Überzeugungen entspricht. Wo die verbale Botschaft und der mimische Ausdruck keine kommunikative Einheit bilden, fehlt die Stimmigkeit, die Authentizität: »Im Antlitz unterstützt das Ausgedrückte den Ausdruck, drückt selbst seinen Ausdruck aus, bleibt immer Herr des Sinnes, der von ihm ausgeht« (Lévinas 1992, S. 199). Das gesprochene Wort bedarf demnach des stimmigen mimischen Ausdrucks, um affektiv »glaubwürdig« zu sein.

Charles Darwin (1872/1989, S. 91) schrieb schon vor 125 Jahren, dass Gefühle im Gehirn organisiert und im Gesicht ausgedrückt werden. Moderne Emotionsforscher weisen auf die relative Gleichförmigkeit der mimischen Ausdrucksmuster für Angst, Ekel, Ärger, Überraschung und Freude hin. So beschreibt Tomkins (1962) »Universalien im Gesichtsausdruck«, während Ekman (1988, S. 59) darauf hinweist, dass »es weltweit gleiche Formen des Gesichtsausdrucks für Gefühle gibt«.

Die Gesichtsmuskulatur ist bei Geburt voll ausgebildet und einsatzbereit. Die charakteristischen Formen des Gesichtsausdrucks, die auch für den Erwachsenen bestimmend sind, treten bereits im frühen Säuglingsalter auf (Ekman 1988, S. 122-123).

Neben neutralen und negativen Gefühlslagen (z.B. Angst, Ärger, Wut, Ekel, Trauer) bringt das Gesicht schon im frühesten Entwicklungsstadium die emotionale Befindlichkeit von Glück und Freude zum Ausdruck. Dies zeigt sich im »unspezifischen« Lächeln des Neugeborenen, das schon in der dritten bis vierten Lebenswoche zu einem selektiven sozialen Lächeln wird (Bowlby 1975, S. 259 - 266). Dieses Lächeln signalisiert der Bezugsperson die freudige Befindlichkeit des Kindes: »Ein strahlendes Gesicht drückt einen aktiven Zustand der Freude aus und ist durch ein Gefühl der Zuversicht gekennzeichnet« (Landau 1995, S. 178). Gewöhnlich löst dieses freudige Lächeln auch im Gesicht der Bezugsperson ein Lächeln aus, wodurch die zwischenmenschliche Bindung gefestigt wird. Denn »das Lächeln ist eine Geste der Freundschaft. Es wirkt wie eine Art Klebstoff, der Säugling und Eltern verbindet« (ebd., S. 188).


Freude und Scham

Verena Kast (1994, S.9) bemerkt, dass es auffällig sei, »wie wenig in der Psychologie und besonders in der Tiefenpsychologie von Freude gesprochen wird«. Offenbar hat sich die Wissenschaft in den vergangenen Jahrzehnten weit mehr für solche Emotionen interessiert, die das Antlitz des Menschen entweder unlebendig erstarren lassen oder ihm einen verzerrten Ausdruck verleihen. Dazu gehören an erster Stelle die Trauer, die Angst und der Zorn.

Dabei ist das mimische Aufstrahlen der Freude von grundlegender Bedeutung für das Verständnis einer gesunden Entwicklung des Seelenlebens. Wir müssen davon ausgehen, dass die Fähigkeit, Freude zu empfinden (und entsprechend zum Ausdruck zu bringen), auf einer ganz ursprünglichen, genetisch angelegten Disposition beruht. Gesunde Säuglinge zeigen in ihrer lächelnden Mimik, dass sie sich »wohl befinden«. Doch dieses Wohlbefinden bedarf einer stabilen »zwischenmenschlichen Brücke« (Kaufman 1985, S. 12) Diese stellt das Band zu einer Bezugsperson her, die in ihrem Gesichtsausdruck ebenfalls Freude zum Ausdruck bringt. Kohut (1973, S. 141) spricht in diesem Zusammenhang vom »Glanz im Auge der Mutter«, der dem Kind als äussere Bestätigung einer »narzisstischen Lust« dient, die seine gesamte leibliche Existenz mit einschliesst. Im freudigen Gesicht der Mutter spiegelt sich so die Einmaligkeit eigenen Daseins. In dieser von Freude geprägten »Selbst-Bestätigung« kann ein Selbstwertgefühl aufkeimen, das Grundlage von Selbstvertrauen und Selbstsicherheit ist. Doch wenn dieser »Spiegel« matt und verzerrt bleibt, wenn sich im Antlitz der Mutter andere Affekte als Freude zeigen, kann dies zu weitreichenden Selbstwertstörungen führen. Die ursprüngliche Fähigkeit des Kindes, Freude zu empfinden, wird dabei mehr oder weniger nachhaltig beeinträchtigt.

Verena Kast (o.J., S.18) erwähnt, dass die »Dämpfung der Freude« Schamgefühle hervorrufen kann. Und in der Tat ist Scham Ausdruck eines tiefempfundenen Gefühls emotionaler Wertlosigkeit (vgl. Bradshaw 1994; Kühn & Titze 1997; Lewis 1995; Titze 1996; Wurmser 1993). Dieses Gefühl hat seine Wurzeln in der kindlichen Empfindung, nicht liebenswert, ja nicht einmal beachtenswert zu sein. Scham dämpft die natürliche Lebensfreude, sie führt zu einer emotionalen Erstarrung, die ihren mimischen Ausdruck in einem versteinerten Antlitz findet, das als »agelotisch«1 erscheint. Dieses Gesicht vermag - entsprechend dem beschämenden Spiegelbild der entmutigenden Bezugsperson - nicht mehr zu lächeln oder gar zu lachen. Verena Kast (ebd.) schreibt:

»Wird uns die Freude gedämpft oder gar verunmöglicht, reagieren wir mit Scham. Statt dass unser Selbstwert besser wird, fühlen wir uns vernichtet und müssen zum Schutz für unser Selbstwertgefühl (negative) Gefühle nähren«.

Wurmser (1993, S. 260) transformierte das präverbal-affektive Schamerleben eines kleinen Kindes in die folgenden Aussagen:

»Ich möchte andere beeindrucken und faszinieren, aber ich bekomme nur einen kalten Blick, ein gefühlloses (unempathisches) Abwenden des Gesichts.«

Oder: »Ich möchte von dem verherrlichten Bild meiner Mutter fasziniert sein, statt dessen werde ich von ihrem Schreien und von den verzogenen Grimassen einer entsetzlichen Hexe angegriffen.«

Daraus folgt: »Es ist zu gefährlich für mich, solche Wünsche nach Selbstausdruck und nach Beeindrucktsein zu haben. Ich werde mich daher in ein Schneckenhaus von Nicht-Hinsehen und Nicht-Zeigen zurückziehen - in die Scham.«

Ein freudig lächelnder Gesichtsausdruck ist demgegenüber ein ermutigender »sozialer Verstärker«, der ein entsprechendes »Feedback« hervorruft (Ekman 1988, S. 130, 142). Dies belegen die folgenden Beispiele von Ekman (ebd., S. 147): Schüler lernen mehr von einem Lehrer, dessen Gesicht während des Unterrichts positive und keine negativen Gefühle ausdrückt. Versuchspersonen, die hohe Werte auf einer »Humanismusskala« erreicht hatten, lächelten im Gespräch häufiger als »nicht-humanistische« Versuchspersonen. Dies ist ein Hinweis dafür, dass Freude eine prosoziale Haltung zum Ausdruck bringt bzw. Indikator von sozialer Kompetenz ist (Titze & Eschenröder 1998, S. 34-36).

Im gelösten, fröhlichen Lächeln findet die Freude ihren unverkennbaren Ausdruck.2 Ekman (1982, 1988) hat insgesamt 18 verschiedene Arten des Lächelns beschrieben. Aber nur eine einzige davon aktiviert jenen Bereich des Gehirns, aus dem heraus die Empfindung von Glücksgefühlen gesteuert wird. Während alle anderen Affekte (z.B Traurigkeit oder Ekel) mehrere Gesichtsmuskeln in Anspruch nehmen, sind am echten Lächeln lediglich zwei Muskelstränge beteiligt: der zygomaticus maior, der vom Jochbein zu den Mundwinkeln verläuft, sowie der orbicularis oculi, der sich ringförmig um die Augen schliesst. Zajonc (1985) stellte in Übereinstimmung mit Ekman fest, dass es über die Aktivierung dieser Muskelstränge zu einer Beeinflussung jener Blutgefässe kommt, die das Gehirn mit Sauerstoff versorgen. Das Gehirn lachender und lächelnder Menschen wird nach Zajonc viel besser mit Sauerstoff versorgt, als dies bei ernsten, traurigen Menschen der Fall ist. Liz Hodgkinson (1991, S. 74-84) zog daraus die Konsequenz, die willkürliche Aktivierung dieser Muskelstränge therapeutisch zu nutzen. Sie bezeichnet dies als die »Therapie des bewussten Lächelns«. In diesem Zusammenhang empfiehlt sie, sich einem regelmässigen mimischen Training zu unterziehen: Vor einem Spiegel, am besten gleich frühmorgens, sollte man sich darin üben, einen möglichst fröhlichen und glücklichen (»gelotischen«) Gesichtsausdruck hervorzurufen.


Die therapeutische Arbeit mit dem 'agelotischen' Gesicht
»Es gibt Leute, die glauben, alles wäre vernünftig,
was man mit einem ernsthaften Gesicht tut.«
G. Chr. Lichtenberg


Viele Selbstwertprobleme lassen sich auf frühe Beschämungen zurückführen, die vor allem im Rahmen nonverbaler Interaktion erlebt wurden (vgl. Titze 1996, Kap. 2). Wir können uns dabei eine Situation von »Urscham« vor Augen führen (vgl. Kühn & Titze 1997, S. 189):

Ein Kind, vielleicht im Alter von einem Jahr, bewegt sich auf seine Mutter zu und schaut ihr erwartungsvoll ins Gesicht. Doch diese ist anderweitig beschäftigt; sie würdigt das Kind keines Blickes. Gründe dafür kann es viele geben. Vielleicht ist die Mutter sehr stark mit ihrer Hausarbeit beschäftigt, oder sie ist in Gedanken bei ihrem unzuverlässigen Partner. Vielleicht fühlt sie sich in diesem Augenblick einfach unwohl, oder es gelingt ihr aufgrund ihrer eigenen (depressiven) Persönlichkeitsstruktur nicht, die »zwischenmenschliche Brücke« zu ihrem Kind herzustellen. Dieses fühlt sich jedenfalls jählings zurückgewiesen. Es spürt, dass eine Beziehung zur Mutter nicht besteht. An ihrem indifferenten, ausdruckslosen Gesicht prallt der Blick des Kindes ab wie an einer kahlen Wand.

Auf diese Zurückweisung wird das Kind zunächst affektiv reagieren. Seine Gesichtsmuskulatur spannt sich an, Atmung und Herzschlag werden schneller, die Augen füllen sich mit Tränen: Das Kind empfindet Wut. Sofern diese affektive Äusserung ebenfalls ins Leere fällt [...], wird sich eine Resignation ausbreiten, die das kindliche Selbstwertgefühl zu ersticken droht. Davor muss sich das Kind notgedrungen schützen. Es muss »wegschauen«, muss versuchen den Anblick eines freudlosen (»agelotischen«) Gesichts zu vermeiden, das die beschämende Botschaft vermittelt: Du bist es nicht wert, beachtet zu werden ... Schliesslich wird sich das Kind mit diesem mimischen »Vorbild« zu identifizieren beginnen; in seinem eigenen Gesicht wird sich das agelotische Antlitz eben jener Bezugsperson spiegeln, zu der die Herstellung einer von Freude erfüllten Beziehung misslang. So erhält auch das eigene Gesicht einen agelotischen Ausdruck, es erstarrt zu einer unlebendigen Maske. Dabei wird das Kind - durchaus im Sinne einer Selbstschutzmassnahme - den Blickkontakt zu meiden beginnen, das heisst das eigene Gesicht gegenüber seinen Mitmenschen abwenden. So vermittelt es ungewollt die verhängnisvolle (weil unwahre) Botschaft: Ich bin gar nicht interessiert, mit dir in Verbindung zu treten ...

Wenn wir einen chronifiziert agelotischen Gesichtsausdruck als Hinweis auf das Vorliegen einer pathologischen Schamproblematik verstehen, ist es naheliegend, eben dieses Gesicht zum Gegenstand therapeutischer Interventionen zu machen. Denn die lebensgeschichtlich gewachsenen Entstehungsbedingungen und symptomatischen Auswirkungen der Scham sind hier gleichsam »eingefroren«. Hier findet vor allem der Schmerz, nicht liebens- und nicht einmal beachtenswert zu sein, seinen mimischen Ausdruck.

Experimente haben gezeigt, dass Kinder, die nach dem Lächeln keine soziale Stimulation erfahren, immer seltener lächeln (Landau 1995, S. 189; Stern 1993, S. 213-214). Das ist ein Hinweis dafür, wie wichtig die »Rückmeldung« über das lächelnde Gesicht der Bezugsperson für die gesunde emotionale Entwicklung ist: »Es scheint eine Art Schaltung im Gehirn zu geben, die das Kind auf den richtigen Kurs bringt, aber nur die Erfahrung lässt es wirklich gedeihen« (Landau 1995, S. 190).

Die Humorreaktion (Erheiterung, Lächeln, Lachen) ist ein freudiges emotionales Ereignis. Sie setzt eine Vielzahl von psychophysiologischen Prozessen in Gang, die nachweisbare therapeutische Wirkungen hervorbringen (Ruch 1995. Ihren primären Ausdruck findet die Humorreaktion im menschlichen Gesicht. Dieses Gesicht zu erheitern, emotional »aufzutauen«, ist ein Grundanliegen in der Arbeit mit therapeutischem Humor (vgl. Titze 1996, Kap. 13-15). Im folgenden werden einige Techniken beschrieben, die dabei verwendet werden können.


Blickkontakt halten

Der Blickkontakt ist das grosse Problem im Leben eines schamgebundenen Menschen. Im prüfenden Blick des anderen fühlt er sich häufig blossgestellt. Dabei wird nicht allein der skeptische Gesichtsausdruck des Gegenübers gefürchtet, sondern auch jenes besondere Lächeln, das Geringschätzung und Spott anzeigt. Dieses »dreckige Grinsen« kann gerade in der Pubertät eine traumatisierende Wirkung ausüben (vgl. Titze 1997a). Deshalb wird in therapeutischen Humorgruppen versucht, die Teilnehmer zunächst gegenüber der Angst vor dem Ausgelachtwerden (»Gelotophobie«) zu immunisieren. Dies lässt sich am leichtesten durch einfache Blödelspiele realisieren, wie »Dick und Doof im Wechselspiel«:

Die Gruppenteilnehmer stehen sich in zwei Reihen gegenüber, so dass jeweils ein Teilnehmer einem anderen ins Gesicht blicken kann. Der rechte Arm wird jeweils ausgestreckt, so dass die Hand auf der rechten Schulter des Partners aufliegen kann. Dadurch wird einerseits die Distanz bemessen, andererseits ergibt sich so auch ein Körperkontakt. Nun wird das Gesicht ausgiebig verzogen - entsprechend dem Vorbild der Slapstick-Komiker Dick und Doof. Abwechselnd werden die Backen aufgebläht (= »Dick«) und das Kinn so weit wie möglich hinabgezogen, so dass sich der Mund leicht öffnet (= »Doof«). Es gilt die paradoxe Anweisung, dabei möglichst ernst zu bleiben, was auf Dauer allerdings kaum gelingen wird!

Eine Variante dieser Übung bezieht einen Clown3 ein, der sich so postiert hat, dass er von den Teilnehmern in einer der beiden Reihen gesehen wird. Der Clown führt stereotype Grimassen - etwa im Sinne des »Face Building« (Schweizer 1980)4 - vor, die sodann von denjenigen nachgemacht werden, die zu ihm Blickkontakt haben. Die anderen Teilnehmer, die mit dem Rücken zum Clown stehen, spiegeln ihrem jeweiligen Partner, was sich in dessen Gesicht abspielt. Dies ist eine gute Vorübung für das folgende Clownspiel:

Die Gruppenteilnehmer bilden einen Kreis. Der Protagonist trägt die rote Clownsnase. Er steht in der Mitte dieses Kreises, um nacheinander alle Teilnehmer anzublicken. In beliebiger Reihenfolge greift er die einzelnen Elemente des »Face Building« auf, die von seinem jeweiligen Gegenüber entsprechend gespiegelt werden sollen. Dabei soll die Mimik in Bewegung geraten! Das Muskelspiel der gesamten Gesichtsmuskulatur soll für den Übungspartner erkennbar werden. Dies geht so lange, bis eine Humorreaktion (Lächeln, Kichern, Lachen) erfolgt ist. Danach wechselt der jeweilige Protagonist zum nächsten Gruppenmitglied, um diese Übung zu wiederholen usw.


Die clowneske Reduktion

Eine wichtige Identifikationsfigur in unserer Arbeit ist der Minimalclown (vgl. Titze 1996, S. 294 - 305). Sein Wesen beruht auf der reduktiven »Fähigkeit des Unterlassens und der Kunst der Beschränkung« (Fried & Keller 1996, S. 99) Er ist derjenige, der ständig unter Beweis stellt, dass »wenig besser ist«. Denn die Reduktion ist sein Leitprinzip. Sein Aktionsradius ist winzig, seine Schritte sind durch den geringen Abstand zueinander trippelnd und langsam. Seine Bewegungen laufen wie im Zeitlupentempo ab. Und wie beim kleinen Kind, dessen Identifikationsobjekt er ja ist, sind seine verbalen Äusserungen ganz rudimentär, auf undifferenzierte Laute beschränkt. Die Sprache des Minimalclowns ist nonverbal. Aber auch hier bleibt das Reduktionsprinzip bestimmend: »Jede vage Andeutung einer Geste, jedes Zucken eines Mundwinkels wird interessant, verspricht sich der Zuschauer doch hiervon Aufschluss über das eigentlich Gewollte« (Fried & Keller 1996, S. 100).

Gerade der mimische Bereich eröffnet eine Vielzahl von Möglichkeiten, mit den reduktiven Möglichkeiten des Minimalclowns zu arbeiten. Ein Beispiel dafür ist die folgende Übung:

Wir stehen uns zu zweit im Abstand einer Armlänge gegenüber. Wir betrachten die Clownsnase des anderen. Alles andere ist unwichtig. Wir weiten die Augen, um diese Nase besser zu sehen. Wir bewegen den Kopf ganz langsam nach links, dann nach rechts. So können wir die Clownsnase jeweils aus einer anderen Perspektive betrachten. Nun öffnen wir ganz langsam den Mund, um die Schönheit dieser Nase ausgiebig bestaunen zu können. Wir geben unserer Freude einen stimmlichen Ausdruck: »Oooh!«.

Nun nehmen wir uns vor, die Clownsnase zu küssen: Wir spitzen die Lippen so weit wie möglich. Doch wie sehr wir uns auch bemühen, es geht nicht! Das macht uns traurig. Unsere Mundwinkel sinken ganz tief hinab und wir geben unserer Traurigkeit einen stimmlichen Ausdruck. Plötzlich wird uns aber bewusst, dass wir uns eine ebenso schöne Clownsnase aufgesetzt haben! Wir schielen auf diese hinunter und öffnen den Mund zu einem freudigen »Oooh« oder »Aaah«. Und wir machen unsere Backen dick, um dadurch - vielleicht - einen taktilen Kontakt zu unserer eigenen Clownsnase.

Nachdem die clowneske Reduktion auf diese Weise geübt wurde, kann jeder einzelne Teilnehmer daran gehen, sich vor der ganzen Gruppe zu exponieren. Dies ist gerade für Menschen, die unter spezfischen Schamproblemen (Sozialphobie, »Gelotophobie« [vgl. Titze & Eschenröder 1998, S. 46-47]) leiden, grundsätzlich problematisch. Häufig scheitern sie bei den entsprechenden Versuchen einfach deshalb, weil sie sie »es zu gut machen wollen«, sich also zu viel kompetente Aktivität zumuten. Die bewusste Reduktion auf den mimischen Bereich (unter Ausklammerung aller anderen Ausdrucksmöglichkeiten) ermöglicht schon jene »Dereflexion«, die Frankl (1956/1975, S. 175-183) als die Voraussetzung beschrieb, »seine Aufmerksamkeit vom Symptom abzuwenden« (ebd., S. 177). Wenn sich der Klient dann zusätzlich nur auf eine Einzelheit in seinem Gesicht (in unserem Fall ist dies die Clownsnase!) konzentriert, führt ihn dies an die Quelle seines kreativen Könnens. In diesem Zusammenhang bietet sich die folgende Übung an.5

Eine lustige, beschwingte Zirkusmusik wird von einem Tonband abgespielt. Die Teilnehmer tanzen nacheinander zu dieser Musik. Sie halten die Augen geschlossen, um sich durch nichts ablenken zu lassen. Sobald die Musik aussetzt, verharrt der Protagonist in der zuletzt eingenommenen Stellung. Er wendet sein Gesicht den Zuschauern zu. Doch sein Blick konzentriert sich auf die eigene Clownsnase. Dies ist nicht einfach, weil geschielt werden muss! Der Protagonist versucht die Nase von der linken und dann von der rechten Seite her zu betrachten. Er hält den Mund staunend geöffnet, denn er weiss nicht, wie er die Nase berühren könnte. Zunächst versucht er es mit der Zunge, die natürlich viel zu kurz ist! Doch sie eignet sich vorzüglich, ganz langsam und genüsslich über die Lippen zu gleiten. Nun macht er die Lippen spitz. Und siehe da: es geht! Der Kontakt zur Clownsnase kann endlich hergestellt werden. Die Freude darüber zeigt der Protagonist, indem er die Mundwinkel ganz weit auseinanderzieht und »Oooh« ausruft.


Das Modellieren des agelotischen Gesichts

Schon Säuglinge versuchen das Gesicht ihrer Mutter mit den Fingern zu erhaschen. Unsere Hände sind das wichtigste Kontaktmedium, das wir besitzen. Insbesondere die Fingerkuppen sind aufgrund ihrer besonderen Innervation geradezu prädestiniert, eine feinfühlige Beziehung zur unmittelbaren Umwelt herzustellen. Dieser aktive Kontaktherstellung gelingt Menschen mit Schamproblemen auch im übertragenen Sinne nicht mehr. In ihrer Kindheit haben sie den kalten Blick derjenigen zu fürchten gelernt, deren Mimik ihnen Desinteresse und Ablehnung signalisierte. Diese entmutigende Erfahrung liess allmählich ein Vermeidungsverhalten entstehen, das darauf abzielt, diesem Blick auszuweichen, indem »weggeschaut« wird.

Diese passive Schutzmassnahme verliert ihren Zweck, sobald - ganz konkret - ein aktiver »Zugriff« in ein versteinertes Gesicht gelingt. Wenn über die Fingerkuppen jene Lebendigkeit erspürt wird, die sich hinter einer agelotischen Mimik verbirgt, kommt es in aller Regel zu einer »korrigierenden emotionalen Erfahrung« (Alexander & French 1946, S. 53). Dies gelingt am ehesten dann, wenn die Augen des Protagonisten dabei geschlossen bleiben. Häufig geht dieses Erspüren mit einer tiefgehenden emotionalen Bewegtheit einher. Erinnerungsbilder tauchen auf, die in einem thematischen Zusammenhang mit der Genese der spezifischen Schamproblematik des Protagonisten stehen. Diese Bilder können mit den Mitteln des Humordramas (Titze 1997b) in Szene gesetzt werden. Dabei werden gerade jene eingefrorenen Affekte einen aktionalen Ausdruck finden, die bislang schamhaft abgewehrt wurden. Zuweilen kann es dabei zum Ausbruch von heftigen Aggressionen kommen. Die spezifischen Bedingungen des Humordramas (heitere Atmosphäre, kontinuierliche Tendenz zur Relativierung, augenzwinkernde Akzeptanz sämtlicher Normabweichungen usw.) ermöglichen jedoch eine zwanglose »Entschärfung« solcher Affekte.

Der taktile Zugriff in die versteinerte Mimik eines agelotischen Gesichtes schafft daneben die Voraussetzungen zum Modellieren dieses Gesichts. Der Protagonist soll sich dabei vorstellen, eine Art Knetmasse vor sich zu haben, die er nach Belieben ausformen kann. Dabei bietet gerade die Mundpartie aufgrund ihrer Dehnbarkeit viele entsprechende Möglichkeiten, die in den meisten Fällen auch belustigend sein können So werden die Mundwinkel gedehnt, die Lippen rüsselförmig gestülpt oder zur Nasenspitze bzw. zum Kinn langgezogen. Dies regt eine Spielhaftigkeit an, die in die Erlebniswelt des kleinen Kindes zurückweist. Über kurz oder lang resultiert dies wiederum in einer Humorreaktion (Lächeln, Lachen), die in aller Regel andere Gruppenmitglieder mit einschliesst.

Gesichter lassen sich auch im Rahmen von Imaginationsübungen modellieren. Dabei ist es sinnvoll, mit Hilfe entsprechender Techniken (vgl. Salameh 1996, S. 345ff) einen Zustand grösstmöglicher Entspannung zu erreichen. Danach soll das Gesicht desjenigen Menschen imaginiert werden, der für den betreffenden Klienten von besonderer Bedeutung ist. Gewöhnlich sind dies elterliche Bezugspersonen oder Lebenspartner.

Diese Imaginationsübung lässt sich sowohl im Rahmen einer Einzel- wie auch Gruppentherapie durchführen. Im folgenden sind Transkripte aus psychotherapeutischen Einzelsitzungen angeführt, die den Verlauf solcher Imaginationsübungen exemplarisch belegen:


Angelika A., Jahrgang 1967:

»Ich sehe das Gesicht meiner Mutter. Ich bin wieder Kind. In mir wehrt sich alles. Ich will dem Gesicht gar nicht näher kommen. (Magendrücken)

Ich versuche das Gesicht meiner Mutter zu streicheln, aber es bleibt unbeweglich.

Ich habe den Impuls, sie zu trösten und denke mir: Ich bin quasi ihre Mutter. Ich werde ganz traurig. Ich habe das Gefühl, erwachsener zu sein als sie.

Ich merke richtig, wie meine eigenen Mundwinkel nach unten gezogen werden.

Ich zerre ganz verzweifelt an ihr herum. Ich will, dass sie lebendig wird, dass sie lacht - merke aber, dass es nicht geht! (Resignation, die allmählich zur Verzweiflung wird)

Mir kommt eine Erinnerung hoch: Meine Mutter liegt im Schlafzimmer, morgens um 10.00 Uhr! Ich stehe vor ihrem Bett und sage ihr, dass sie aufstehen soll. Sie gibt mir aber nur zur Antwort, dass sie müde ist. Ich heule, will ihr die Decke wegziehen: 'Nie bist du für mich da!' Es ist ihr aber völlig egal. (Ohnmacht)

Es nützt alles nichts! Eine Wut kommt in mir hoch, die aber nichts bringt.

Sie lässt mich im Stich, sie ist überhaupt nicht für mich da. (Klientin weint)

Dieses Gesicht ist permanent abwesend. Es reagiert nicht auf mich! Ich fühle mich ganz klein und nichtswürdig.«

Hier wird eine massive Schamproblematik deutlich. Die Klientin fühlt sich von ihrer depressiven Mutter, die vollkommen indifferent reagiert, in keiner Weise ästimiert, ja nicht einmal zur Kenntnis genommen. Dies erzeugt ein Gefühl von Ohnmacht, das mit der vagen Vorstellung einhergeht, »nichtswürdig« und »klein« zu sein. Dabei bemüht sich die Klientin aber dennoch, Leben in das Gesicht der Mutter bzw. - im übertragenen Sinn - in die Beziehung zur Mutter hineinzubringen. Sie muss dabei einen Rollentausch vollziehen, muss sich so verhalten, als sei sie die Mutter ihrer Mutter.6 In dieser Rolle muss die Klientin weitgehend von den affektiven Impulsen ihres Kindseins Abstand nehmen. Sie muss sich wie eine vernünftige Erwachsene verhalten, indem sie sich um das Wohlbefinden einer Frau kümmert, die weder fähig noch bereit ist, von sich aus auf ihr Kind einzugehen. So bleibt die gesamte Beziehung unlebendig. Denn die lebendigen Affekte (zunächst Sehnsucht nach Liebe und Zuwendung, danach Wut und Enttäuschung) müssen abgewehrt werden, da diese - wie die Klientin stets befürchtet hatte - noch mehr Distanz schaffen würden. Die Klientin darf sich im affektiven Sinne »nichts leisten«, was der Mutter schaden könnte. Denn von dieser geht jene appellative Botschaft aus, die dem »Ecce homo«-Prinzip entspricht: Sieh her, wie schlecht es mir geht! Hab' Erbarmen mit mir, kümmere dich um mich! Dieser Appell soll auf seiten der Tochter Mitleid erregen. Dies ist aber kein impulsiver Affekt, sondern eine rationale Leistung, die vom Gewissen gesteuert wird. Diese Leistung ist mit emotionaler Anstrengung und »selbstlosem« Aufwand verbunden; sie ist genuin altruistisch, in ihrer Tendenz gebend und ihrer Intention voller Sorge und bemüht.

In einer der folgenden Übungen schilderte die Klientin ihren Versuch, sich dem imaginierten agelotischen Gesicht mit den Fingern zu nähern:

»Da will ich gar nicht hin! Ich spüre Angst. (Assoziativ tauchen Bilder aus Horrorfilmen auf: Ein alter Mann mit weissen Haaren und einem schwarzen Hut: 'Er hat ein hämisches, böses Gesicht. Wenn man nicht genau hinguckt, sieht das Gesicht normal aus. Doch die Augen sind stechend, bösartig.')

Die Augen meiner Mutter sind leer. Ich spüre Mitleid. (Brustschmerz, Kopfweh) Eine Kindheitserinnerung fällt mir ein: Als ich sieben Jahre alt war, fuhr ich mit dem Schlitten gegen eine Wand. Die Folge war ein Schädelbruch. Wie ich nach Hause gekommen war, weiss ich nicht. Jedenfalls lag ich schliesslich auf dem Sofa, blutete aus der Nase. Meine Mutter kam ins Zimmer. Sie setzte sich an den Tisch und löste Kreuzworträtsel. Sie kümmerte sich nicht um mich. Doch ich hatte Mitleid! Ähnlich ging es mir, wenn ich mittags von der Schule nach Hause kam. Ich klingelte an der Tür, doch niemand öffnete. Auch als ich mit den Händen gegen Tür und Fenstern trommelte, machte die Mutter mir nicht auf, weil sie betrunken im Bett lag.

Jetzt gelingt es mir, ihr die Mundwinkel hochzuziehen. Ich fühle mich etwas wohler. (Wohliges Gefühl im Bauch) Die Augen kriegen mehr Ausdruck. Ich sehe Lachfalten.

Jetzt gucken die Augen wieder traurig. (Gefühl der Trauer. Druck in der Brust) Ich seh' es jetzt, wie sie mit total schwerem Gang die Treppe hoch kommt. (Wut in der Magengegend.)

Jetzt kneife ich in das Gesicht rein. (Angst, dass sie böse wird) Ich sehe in ihrem Gesicht Wut. (Immer stärkeres Kopfweh) Ich spüre wieder Mitleid. Es ist, als ob mir jemand im Nacken sitzt. Auch beim Schulschwimmen hatte ich oft Kopfweh, weil mich meine Mitschüler hänselten. Besonders der Junge, der in der Schule in der Reihe hinter mir sass ('im Nacken'), verspottete mich schrecklich. Er nannte mich 'Nilpferd', 'Dorfpflaume', 'Gockel'. Jetzt kommt eine wahnsinnige Wut in mir hoch! Ich gucke ihm voll ins Gesicht und stelle mir vor, dass das Knetmasse ist, Knetmasse blutet nicht. Ich brauche kein Mitleid zu haben. Jetzt schlage ich glatt zu! Das Gesicht guckt ganz dumm, weil ich mich wehre. (Gefühl von Triumph im Bauch) Szenen aus meinem Kung-Fu-Training fallen mir ein, bestimmte Übungen: Der Angriff, die Faustschläge mit einem lautgeschrieenen 'Ja!'«

Wenige Tage später gelang es der Klientin schliesslich einen aggressiven Zugriff in das imaginierte Gesicht der Mutter zu nehmen:

»Ich ziehe das Gesicht zusammen, verknautsche es. Das Kinn zeigt nach oben, die Stirn geht zurück, der Mund klappt auf und zu. Das Gesicht ist ganz verknautscht. (Klientin lacht, empfindet ein 'komisches Gefühl'«)

Ich modelliere nun eine lange Nase und grosse Elefantenohren. Jetzt mache ich ihm einen Giraffenhals. Die Mutter ist winzig klein. Ich sehe mich auf einer Leiter stehen und gucke auf sie hinunter. Ich trete auf sie ein.

Das Gesicht ist nun ganz verbittert. Ich spüre Mitleid. Nun schneide ich das Gesicht einfach weg und mache einen Spiegel hin. Ich schaue mir mein eigenes Gesicht an: Ich bin zufrieden. Ich habe einen beweglichen Mund, der sprechen kann und grosse Augen. Aus ihnen fliesst Energie, die ich abzapfen kann.

Jetzt sehe ich wieder das Gesicht meiner Mutter. Es schaut enttäuscht, hat Sorgenfalten. Ich fühle mich wieder als Versager. Ich bin aber nicht schwach. (Wut in der Bauchgegend) Ich schlage in die Knetmasse hinein. Die Nase biegt sich nach oben. Das wirkt ganz lächerlich! (Klientin lacht)

Ich greife in das Gesicht hinein, so dass mir die Knetmasse zu den Händen rausquillt. Ich bilde einen Klumpen, den ich gegen die Wand knalle. Dort bleibt er hängen, bis er schliesslich runterfällt. Das ist lustig!«

Nach einigen Wochen war es der Klientin möglich, das Gesicht ihrer Mutter nach Belieben so zu modellieren, dass es einen lustigen Ausdruck erhielt. Inzwischen traten weder Gefühle von Mitleid auf, noch kam es zu massiven aggressiven Durchbrüchen. Auch im Alltagsleben fühlte sich die Klientin deutlich selbstsicherer und freier.


Gesichter bemalen

Zu allen Zeiten ist das menschliche Gesicht bemalt worden. Landau (1995, S. 290-303) führt zahlreiche Beispiele an, so etwa die rituelle Kriegsbemalung bei Eingeborenen in der Südsee und in Amerika oder die »visuelle Grammatik« bei den Nubiern im Sudan, die Auskunft geben soll »über die Rolle jedes Menschen in der Gemeinschaft« (ebd., S. 294).

Auch die Verwendung von Kosmetika zum Zwecke der Retuschierung von Unebenheiten im Gesicht steht in dieser Tradition. Schon bei den alten Ägyptern wurde ferner die Augen- und Mundpartie farblich hervorgehoben, um - wie Casanova es bei einer späteren Gelegenheit ausdrückte - »die Augen zu erfreuen« (zit. n. Landau, ebd., S. 301).

Auch im Rahmen antiker Komödien wurde das Gesicht des Mimen bemalt (vgl. Seitler 1982). Der sog. mimus albus fungierte dabei als Possenreisser. Nach seinem Vorbild bestäubten sich die Darsteller mittelalterlicher Mysterienspiele ihre Gesicht mit Mehl. (In manchen Szenen fielen sie in ihrer Ungeschicklichkeit auch in zerplatzte Mehlsäcke!). In dieser Tradition steht der moderne Clown, dessen Gesichtszüge (vor allem die Mundpartie) durch das Auftragen greller Schminke überzeichnet werden. Die weisse Maske ist dabei vor allem ein Mittel, um die schwarz umränderten Augen, die versetzten Augenbrauen und den roten Mund besonders hervorzuheben (Kramer 1982, S. 85). Dadurch wird der Ausdruck so verändert, dass das Gesicht des Clowns aus dem (normativen) Rahmen fällt. Niemand kann dieses Gesicht ernst nehmen - und niemand braucht seine mimische Botschaft zu fürchten! Denn was sich in diesem überzeichneten Antlitz spiegelt, ist ein gänzlich spielfreudiger Unernst, der gewöhnlich Heiterkeit auslöst.

Die Arbeit mit Schminkfarben7 ermöglicht den unmittelbaren Zugriff in das agelotische Gesicht. Sie empfiehlt sich allerdings erst, nachdem die Entstehungsbedingungen der entsprechenden Schamproblematik tiefenpsychologisch bearbeitet wurden8

Zunächst werden die Rollen verteilt: Die Protagonisten wählen entsprechende Gruppenteilnehmer aus, die sich sodann, mit einem möglichst unbewegten Gesichtsausdruck, auf einen Stuhl setzen. Zunächst sollen die Protagonisten etwa fünf Minuten lang in dieses Gesicht blicken. Meditativ soll die »Reise in die Vergangenheit« angetreten werden, so dass szenische Erinnerungsbilder auftauchen können: Situationen schmerzlicher Zurückweisung angesichts von abweisenden Bezugspersonen, in deren versteinerten Antlitz ein beschämendes Desinteresse an eben jenem Kind zum Ausdruck kam, das der Protagonist selbst einst war. In diesem Übertragungsgeschehen werden häufig starke Affekte wachgerufen: ohnmächtige Wut, Trauer und Verzweiflung. Nun muss der Protagonist durch den (Ko-) Therapeuten9 motiviert werden, das starre Gesicht seines Partners zum Leben zu erwecken!

Er kann dabei wie ein Künstler vorgehen, der eine leere Leinwand in farbige Formen verwandelt, wie sie aus seiner Intuition heraus entstehen. Entscheidend ist die schöpferische Kraft, die sich nicht reflektiv, sondern affektiv entfaltet. Ein Teilnehmer beschrieb dies so:

»Ich war wie gelähmt. Utes Blick war so kalt, ihr Gesichtsausdruck so hart. Es fiel mir schwer, meinen Blick nicht abzuwenden. Irgendwann begann alles zu verschwimmen. Ich sah Mutters versteinertes Gesicht vor mir. Sie war böse mit mir. Weshalb? Das hatte ich nie auf Anhieb gewusst. Aber es war immer dasselbe: Ich hatte wieder etwas falsch gemacht! Was? Das wusste ich nie so richtig. Aber Mutter wusste es! Ich hatte sie enttäuscht, gekränkt. Sie zeigte mir, dass ich böse war, dass mein Dasein eine Zumutung für sie war. Nun sah ich wieder mein Zimmer, den leeren, grauen Nachmittag mit Schulheften und Büchern, die mir zuwider waren wie alles in diesem Haus. Ich war allein, ausgeschlossen, wertlos und überflüssig. Ein tiefer Schmerz stieg auf. Es schnürte mir den Hals zu, und ich spürte, dass ich meine Tränen nicht zurückhalten konnte.

Plötzlich stand Erika (die Ko-Therapeutin) neben mir. Sie hielt meine Hand. Ich hörte, wie sie sagte: 'Lass deine Hand selbstständig werden. Der Pinsel ist deine verlängerte Hand!' Wie in Trance führte ich den Pinsel zu Utes Gesicht: Vorsichtig zog ich einen roten Strich über den rechten Mundwinkel hinaus, dann über den linken. Nun war ein anderer Gesichtsausdruck da, nicht gerade lustig, aber doch so komisch, dass ich langsam Spass daran fand, weiterzumalen. Mein Schmerz war wie weggeblasen. Ich spürte, wie meine Lebensgeister erwachten. Ohne lange zu überlegen, liess ich dem Pinsel freien Lauf. Der Farbkasten animierte geradezu zum Experimentieren. Und bald hatte ich ein Gesicht vor mir, das in allen Regenbogenfarben erstrahlte. Und wie lustig dieses Gesicht war! Ich spürte, dass ich in diesem Augenblick nicht das hilflose Opfer war, als das ich mich immer fühlte, wenn ich ignoriert wurde. Ich stellte mir vor, wie ich noch viele Gesichter anmalen würde: die Gesichter meiner Kollegen, meines Chefs, meiner Nachbarn - all derjenigen, die mir signalisieren wollten, dass ich nichts wert bin.«

Gewöhnlich führen diese Übung eine Humorreaktion herbei. Diese bahnt sich in einem Lächeln an, das sich über kurz oder lang auf den Partner, dessen Gesicht gerade bemalt wird, überträgt. So erwacht ein Gesicht, das (aufgrund der bunten Bemalung) ohnehin lustig wirkt, zum Leben. Im wechselseitigen Blickkontakt kann eine Lebensfreude aufkeimen, die ein unverkennbarer Ausdruck eines positiven Selbstwertgefühls ist. Eine Teilnehmerin beschrieb diese Erfahrung:

»Als mein Gesicht zum ersten Mal bemalt wurde, war ich schon etwas neugierig, wie der Maler es gestalten würde. Angenehm strich der Pinsel über meine Haut. Der Künstler war auf eine sehr ungewöhnliche, angenehme Weise für mich da. Ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, er würde mich bis unter die Haut erkennen und meine wahre Persönlichkeit in mein Gesicht malen. In seinem lächelnden Gesicht erblickte ich mich selbst wie in einem Spiegel. Ich fühlte mich sehr angenommen. Diese Empfindungen übertrugen sich auf mein gesamtes Körpergefühl. Später, beim Clownspiel, war ich mir selbst näher und vertrauter. Ich nahm besonders die Beweglichkeit meines Gesichts wahr.«

Selbstverständlich sollte diese Übung regelmässig wiederholt werden. Damit wird nicht allein ein allmählicher Einstellungswandel gefördert, sondern auch die Voraussetzung dafür geschaffen, dass innerhalb der Gruppe ein spielfreudiges Gemeinschaftsgefühl entsteht.


Schlussbemerkungen

Eine metaphorische Umschreibung des Schamerlebens ist, »das Gesicht zu verlieren«. Diese Formulierung verweist auf die frühe, schmerzliche Erfahrung, für eben jene Menschen nicht »ansehnlich« zu sein, denen sich ein Kind auf Gedeih und Verderb verbunden fühlt. Im Antlitz der Bezugsperson(en) spiegelt sich der eigene Selbstwert, das eigene »Ansehen«. Ein Mensch, der in seiner Kindheit nicht in diesen Spiegel blicken konnte, verliert gewöhnlich seinen Lebensmut und seine Lebensfreude. Vielleicht wird er versuchen, die anderen durch aussergewöhnliche Taten und Erfolge zu beeindrucken, vielleicht wird er in einen resignierten Rückzug ausweichen, um vor den Augen der Welt zu »verschwinden« (Wurmser 1993; 144, 194): Die »zwischenmenschliche Brücke« (Kaufman 1985, 11-15) wird dadurch in affektiver Hinsicht freilich nicht (wieder)hergestellt. Dies kann erst dann geschehen, wenn der betreffende Klient daran gehen konnte, eben das nachzuholen, was in der Kindheit misslungen war: das Erleben von Freude, die sich »von Angesicht zu Angesicht« entfaltet.


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Anmerkungen:
1 Abgeleitet von gelos (gr.) = Lachen. »Agelotisch« bedeutet demnach »unfähig zu lachen«.
2 Auch im Erleben von Scham stellt sich nicht selten ein bestimmtes (verlegenes) Lächeln ein. Ekman (1988, S. 152) bezeichnet es als »elendes Lächeln«: »Wer immer es sieht, nimmt nicht an, dass die Person, die so lächelt, glücklich ist ... Es ist ein tapferes Grinsen, das dem anderen ankündigt, dass man sein Unbehagen und seine Angst nicht offen zeigen wird. Es bestätigt das eigene Elend.«
3 Wir arbeiten regelmässig mit einem qualifizierten »therapeutischen Clown« zusammen (Titze 1996b; 1997b). Es ist jedoch auch möglich, dass bestimmte Gruppenmitglieder die Rolle des Clowns übernehmen. Unersetzliches Requisit dabei ist die rote Clownsnase.
4 Das »Face Building« setzt sich aus insgesamt sechs mimischen Einzelübungen zusammen: 1. Ein entspannter, normaler Gesichtsausdruck; 2. Mundwinkel werden so weit wie möglich nach aussen gezogen; 3. Die Lippen werden rüsselartig geformt und so weit wie möglich nach vorne gestossen (= »Kussmaul«); 4. Die Mundwinkel werden senkrecht nach unten gezogen (»als ob Gewichte daran hingen!«); 5. Die Mundwinkel werden senkrecht nach oben gezogen; 6. Der Mund wird so weit wie möglich aufgerissen (»als ob man einen Tennisball verschlucken wollte!); 7. Der Mund wird total verschlossen und zusammengepresst (»als ob man seit sieben Tagen Verstopfung gehabt hätte und es jetzt endlich erledigen wollte!«)
5 Der Gruppenleiter kann, falls erforderlich, die entsprechenden Anweisungen geben.
6 In der Familientherapie wird in diesem Zusammenhang von »Parentifikation« bzw. von »Generationsumkehr« gesprochen. (vgl. Titze 1996, S.56ff).
7 Wir verwenden eine wasserlösliche fettfreie Kompaktschminke (»Aquacolor«), die sich mit einem feinen Pinsel auftragen lässt.
8 Dies kann sowohl im Rahmen einer Einzel- oder einer Gruppentherapie stattfinden. In diesem Zusammenhang muss betont werden, dass humorbezogene Interventionen nicht immer durchgängig zur Anwendung kommen sollten. In vielen Fällen ist es unbedingt geboten, zunächst sehr »ernsthaft« auf die lebensgeschichtlich gewachsenen Entstehungsbedingungen der entsprechenden Schamproblematik einzugehen. Erst nachdem dieser Einsichtsprozess abgeschlossen und eine vertrauensvolle therapeutische Beziehung hergestellt worden ist, sollten die hier beschriebenen humorbezogenen Techniken verwendet werden.
9 In unserer Gruppenarbeit fungiert gewöhnlich ein »therapeutischer Clown« (vgl. Titze 1995, 1997b) als Ko-Therapeut(in).

© Dr. Michael Titze
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