Dieser Beitrag befasst sich mit den sozialen Auswirkungen eines schamspezifischen Erscheinungsbildes. Seit der Antike werden entsprechende körperliche Manifestationen, die als ästhetische Deformation erkennbar sind, mit dem »Komischen« in Zusammenhang gebracht. Die entsprechende Normabweichung bezieht sich zusätzlich auf den kommunikativen Bereich (Kenntnis sozialer Umgangsformen, korrekte Beherrschung [nicht]sprachlicher Ausdrucksmittel, rollenkonformes Verhalten). Auf seine Sozialpartner wirkt ein komischer Mensch gewöhnlich provozierend. Er ist in seiner Befremdlichkeit Anlass für eine beschämende Belustigung, die sich in entsprechenden mimischen Ausdrucksmitteln wie Grinsen oder Lachen kundtut. Damit erfüllt der Lachreflex in diesem Zusammenhang eine verhängnisvolle kommunikative Wirkung: Als Belächelter oder Verlachter wird der komische Mensch verobjektiviert. Er ist aus der sozialen Gemeinschaft der über ihn Lachenden ausgeschlossen und gleichzeitig vor den Augen der Welt in seiner beschämenden Ohnmacht decouvriert. Hier setzt häufig der circulus vitiosus einer Schamangst ein, die wir als »Gelotophobie« bezeichnen.
Die beschämenden Auswirkungen einer »agelotischen« Mimik
Scham ist, intentional betrachtet, eine Sicherungstendenz, die das Selbstwertgefühl vor (weiteren) unerträglichen Erschütterungen bewahren soll. Ihr Ursprung findet sich in einer affektiven Urhemmung, die Wurmser auf das schmerzliche Erleben eines »absoluten Liebesunwertes« zurückführt.
Erste (implizite) Hinweise für die verhängnisvolle Mutmaßung, nicht liebens- und damit auch nicht »ansehenswert« zu sein, ergeben sich aus der Gesichterwahrnehmung. Das menschliche Gesicht ist ein primäres Kommunikationsorgan . Wenn ein Kind im Antlitz seiner Bezugsperson(en) nicht jene mimischen Ausdrucksmuster (Lächeln, Lachen) wahrnimmt, die Freude signalisieren, wird es keine Selbstbestätigung finden. Sein Blick wird entweder ins Leere fallen oder - im Falle eines »agelotischen« Gesichtsausdrucks, der negative Gefühle wie Skepsis, Ablehnung, Ekel oder Zorn signalisiert, affektiv abprallen . Die zwischenmenschliche Brücke wird - zumindest teilweise - einbrechen.
Für ein Kind ist es aus naheliegenden Gründen lebenswichtig, sich um die Wiedererrichtung dieser »Brücke« zu bemühen. Eine konsequente Strategie besteht darin, den Bezugspersonen Freude zu machen, auf ihre Wünsche und Erwartungen einzugehen, sich mit ihren privaten Realitätsauslegungen zu identifizieren. Das Kind muss sich somit bemühen, brav, lieb und folgsam zu sein. Dabei wird es sich die entsprechenden Idealnormen der Eltern (durchaus unreflektiert!) zu Eigen machen. Um dies zu realisieren, müssen aber gerade jene spontanen Impulse »gewissenhaft« gehemmt werden, die mit diesen normativen Leitlinien nicht zu vereinbaren sind. Friedrich Nietzsche hat dies als »Verinnerlichung« bezeichnet. Er sah die Anpassung an ichfremde Idealnormen (was im psychoanalytischen Sinne eine Leistung im Sinne von Triebverzicht darstellt) als Voraussetzung für das »schlechte Gewissen« an. Denn indem das »Getier Mensch« auf dem Wege zum »Engel« gelernt hat, sich aller seiner Instinkte zu schämen, habe es sich der eigenen Affektivität entfremdet. Léon Wurmser formuliert dies aus der Perspektive der Psychoanalyse so:
»Die eigenen Antriebe, Bedürfnisse, Gefühle wurden systematisch ausgeklammert, mussten übersehen und unwirklich gemacht werden - ob diese nun die Selbstbehauptung oder den Zorn oder sexuell-zärtliches Verlangen oder Hunger, oder ob sie die Einbildungskraft, das Schöpferische, also das in seinem Wesen Unabhängigste, betrafen. Die Verleugnung großer Anteile der eigenen Individualität war die Voraussetzung dafür, von den Eltern angenommen zu werden, nicht verworfen zu sein und nicht zum Fremdling im eigenen Haus und der Welt überhaupt zu werden.«
Carlo Collodis Märchen führt uns diese Entwicklung symbolisch-dichterisch vor Augen. Der hölzerne Hampelmann Pinocchio erlebt sich zunehmend als nicht dazu gehörig, als eine Zumutung für jedermann. Er ist, wie Giorgio Manganelli schreibt, »ein Stück Brennholz, da vollkommen zum Leiden ausersehen; er ist ein Hampelmann, etwas, das von sich selbst keine Ahnung hat, das gehorcht und mit dem gespielt wird«. Obwohl Pinocchio von den Menschen, denen er zunächst blindlings vertraut, häufig grausam hintergangen, beschämt und gedemütigt wird, will er doch so werden wie diese selbst: ein lebendiges Wesen aus Fleisch und Blut. Doch die Nähe zu ihnen ist eine existentielle Bedrohung, denn sie führt zu schmählichen Metamorphosen, die Pinocchios personale Integrität schließlich ganz in Frage stellen. So wird dieser zunächst in einen Esel verwandelt, als verachtetes Arbeitstier vor einen Karren gespannt und später in einem Zirkus zur allgemeinen Belustigung vorgeführt. Und als Pinocchio schließlich nicht mehr laufen kann, soll ihm auch das Letzte genommen werden, das ihm noch blieb: seine animalische Lebendigkeit. Er soll getötet werden, damit ihm sein Eselsfell über die Ohren gezogen und als Bespannung für eine Trommel verwendet werden kann. So soll die lebendige Existenz Pinocchios auf einen billigen toten Gegenstand reduziert werden.
Metaphorisch hat Collodi damit die Dynamik einer beklemmenden affektiven Entfremdung beschrieben: Angesichts von Sozialpartnern, deren emotionale Abwesenheit, deren Desinteresse und Skepsis signalisieren, dass das Kind keine »Freude macht«, muss sich dieses »als mitten in der Welt erstarrt, als in Gefahr, als unheilbar« erleben. Es ist auf sich selbst als ein Lebewesen zurückgeworfen, das zu einem Objekt distanziert-kritischer Betrachtung geworden ist. Dieser Verobjektivierung könnte sich ein Kind durch Mobilisierung aggressiv-trotziger (»unverschämter«) Impulse widersetzen oder sich durch sozialen Rückzug entziehen. Auch Pinocchio greift zunächst auf diese Möglichkeiten affektiver Selbstsicherung zurück. Doch dies kann zu verhängnisvollen Konsequenzen führen, zu einer Verstärkung des »Teufelskreises« von skeptischer Ablehnung und kritischer Verobjektivierung. Das aber ist gerade für ein Kind, das auf Gedeih und Verderb auf diejenigen angewiesen, die seine Bezugspersonen sind , existentiell bedrohlich. Deshalb muss sich dieses Kind in letzter Konsequenz mit der zurückweisender Haltung seiner Bezugspersonen identifizieren. Dabei wird es sein »peinliches« exponiert Sein nicht nur zu ertragen haben, sondern den eigenen Leib seinerseits verobjektivieren müssen, wodurch dieser zunehmend zu einem Fremdkörper« wird. Jean-Paul Sartre beschrieb dies im Rahmen einer Phänomenologie der Bewusstseinstranszendenz so:
»Ich schäme mich meiner, wie ich dem Anderen erscheine. Und eben durch das Erscheinen Anderer werde ich in die Lage versetzt, über mich selbst ein Urteil wie über ein Objekt zu fällen, denn als Objekt erscheine ich dem Anderen.«
Damit führt die Scham in ihrer häufigsten Konsequenz zu einer leiblichen Erstarrung »mitten in der Welt«. Diese Erstarrung beraubt den Beschämten seiner »natürlichen Geschmeidigkeit« , so dass die vollkommene Schmiegsamkeit lebendiger Beweglichkeit, wie Henri Bergson es formuliert, auf einen körperlichen »Mechanismus« reduziert wird. Dabei »gerinnt« insbesondere die Flexibilität der Gesichtszüge zu einer Maske . So entsteht ein mimischer Ausdruck, der »eine einzige eindeutige Grimasse (ist). Man möchte sagen, das ganze seelische Leben des Menschen sei in diesen Linien versteinert« . All dies ist für Henri Bergson Ausdruck des Komischen.
Das Lächerliche
Bergsons Analysen über die Auswirkungen des Lachens haben implizit den verobjektivierten Leib eines beschämten Menschen zum Gegenstand. Im Lachen entbinden sich expansiv die vitalsten Affekte: »Der Lachende überlässt seinen Körper sich selbst; er verzichtet auf Kontrolle« (Kamper, Wulf, 1986, S. 7). Dadurch erscheint der Lachende gerade jenem, der seinen Körper übermäßig kontrolliert, als bedrohlich. Denn das Lachen ist, nach Ansicht vieler Ethologen (auch) Ausdruck aggressiver Überlegenheit gegenüber jenem, der - als Objekt dieses Lachens - der Lächerlichkeit preisgegeben ist: »Der Sieger quittiert seine Übermacht über den Gestürzten mit einem schallenden, schadenfrohen Gelächter. Lachen ist zuerst Sache der Satten, die Opfer haben nichts zu lachen«.
So führt das Lachen über ein lächerliches Objekt zu einem Macht-Ohnmacht-Gefälle, aus dem sich grundsätzlich beschämende Wirkungen ergeben. Dies wurde erstmals in der antiken Degradationstheorie thematisiert, auf die auch Thomas Hobbes Bezug nimmt. Danach entstehe Lachen, »wenn die schwachen Seiten anderer sichtbar (werden)«.
Das Komische als Quelle von Beschämung
Als komos bezeichneten die alten Griechen jene Prozession, in der zu Ehren von Dionysos ein überdimensionaler Phallus getragen und obszöne Lieder gesungen wurden . Palmer erwähnt, dass die - in der Regel stark betrunkenen - Teilnehmer dieser »komischen« Prozession Anlass zu allgemeiner Belustigung gewesen seien. Ihre mangelhafte Körperbeherrschung entsprach zwangsweise nicht der Norm und wirkte damit lächerlich. Die (zunächst spontane) Nachahmung der unkoordinierten Bewegungen der Dionysos-Anhänger führte zur allmählichen Entwicklung des komischen Schauspiels. Die Lust am Verlachen des komisch Wirkenden muss daher als eine ursprüngliche Neigung des Menschen angesehen werden. Karl Groos gelangt zu der Schlussfolgerung: »Aus der ganzen Untersuchung über das Wesen des Komischen springt der Gedanke mit großer Klarheit hervor, dass das Lachen beim Komischen zunächst ein Verlachen ist.«
Für Bergson manifestiert sich das Komische, wie wir sahen, zunächst im körperlichen Bereich. Sobald ein Mensch in seinen natürlichen Bewegungsabläufen gehemmt ist, wirkt er auf andere komisch. Diese Hemmung, die sich aus einer übermäßig willentlichen (Selbst-) Kontrolle ergibt, führt zu einer psychomotorischen Erstarrung, die Bergson als »Trägheit« bezeichnet. In dieser Position kann es zu einer »mechanischen Verkrustung des Lebendigen« kommen. Ursache dafür ist eine schamgebundene Haltung, die Bergson als »Schüchternheit« bezeichnet: »Der Schüchterne kann den Eindruck eines Menschen machen, den sein Körper geniert und der sich nach einem Platze umsieht, wo er ihn ablegen könnte.« Diese schambedingte Verobjektivierung ist dabei die eigentliche Quelle weiterer Beschämung, denn »wir lachen jedes Mal, wenn eine Person uns wie eine Sache erscheint«.
Scham übt, wie ebenfalls eingangs festgestellt wurde, eine dissoziative Wirkung aus. Dies führt zu einer Vereinzelung, die Bergson als »Ungeselligkeit« bezeichnet. Der ungesellige Mensch wirkt vielfach befremdlich, denn er kann den anderen leicht als »Sonderling« erscheinen. Ernst Speer schreibt:
»Die glücklicheren Anderen, die Verbindung unter sich haben, sehen ihn mit scheelen Augen an - er ist ihnen 'sonderbar'. Als Einzelgänger ist er verdächtig; sie beargwöhnen ihn, weil er 'anders' ist als sie. Er kommt ihnen fremd vor. Aber 'fremd' ist in manchen Sprachen auch das Wort für 'feind'.«
Oscar Klapp bezeichnet den komischen Sonderling als »Narren«. Er spricht ihm eine spezifische, sozial definierte Position und Rolle zu, die - wie Avner Ziv bemerkt - die Funktion eines »Sündenbocks« erfüllt. Dieser fungiert als Projektionsobjekt bzw. als »negatives Beispiel« für die abgewehrten Schwächen und Mängel derjenigen, die zur Gruppe gehören und um soziale Integration bemüht sind. Bergson seinerseits schreibt:
»Gleichviel, ob ein Charakter gut oder schlecht ist: Wenn er nur ungesellig ist, so kann er auch komisch wirken. Die Schwere eines Falles [ ... ] macht auch nichts aus: Ob leicht oder schwer, wir können immer darüber lachen, wenn man es nur so einrichtet, dass unser Gefühl unbeteiligt bleibt. Ungeselligkeit der dargestellten Person und Fühllosigkeit des Zuschauers sind die beiden wesentlichen Bedingungen.«
Die Gelotophobie
Die frühen Phasen der Lebensgeschichte schamgebundener Patienten sind durch starken Anpassungsdruck gekennzeichnet. Die elterlichen Bezugspersonen stellen in der Regel überzogene Loyalitätsforderungen , die durch eine »unnachgiebige normative Ideologie bezüglich dessen (begründet sind), was richtig und falsch zu sein hat« . Bei diesen Bezugspersonen handelt es sich häufig um selbstbezogene (»narzisstische«) Persönlichkeiten, die das Kind immer dann durch beschämende Nichtbeachtung strafen, wenn dieses (im Hinblick auf diese Ideologie) »versagen« sollte. So wird das Kind in rigide familiäre Rollen gepresst . Dabei kann der normative Erwartungsdruck, der vom familialen Beziehungsgefüge ausgeht, so stark sein, dass sich das betreffende Kind jenen weitergehenden sozialen Lernprozessen nicht hinreichend öffnen kann bzw. darf, die von außerfamiliären Sozialisationsagenturen ausgehen. Damit wird der Erwerb sozialer Kompetenzen mehr oder weniger nachhaltig eingeschränkt. So wirken die betreffenden Kinder im Umgang mit Gleichaltrigen befremdlich und komisch. Als Folge werden solche Kinder zunächst gemieden, um in einem späteren Entwicklungsalter zunehmend der Lächerlichkeit preisgegeben zu werden.
Eine besonders sensible Phase ist die Pubertät. Ein Heranwachsender muss im steten Kontakt mit Gleichaltrigen, der peer group, eine Vielzahl neuartiger Umgangsformen erlernen, die sich an entsprechenden Idealnormen orientieren. Es geht dabei um eine neue Identitätsfindung. Der Heranwachsende ist, wie Erik Erikson schreibt, »in manchmal krankhafter, oft absonderlicher Weise darauf konzentriert herauszufinden, wie er in den Augen anderer erscheint und wie er seine früher aufgebauten Rollen und Fertigkeiten mit den gerade modernen Idealen und Leitbildern verknüpfen kann«. Dies ist für die Konsolidierung des Selbstwertgefühls von höchster Bedeutung. Wenn es einem Jugendlichen in dieser Zeit nicht gelingt, sich mit den Idealen einer außerfamilären sozialen Bezugsgruppe zu identifizieren, führt dies im allgemeinen zu einer beschämenden »Identitätsdiffusion«. Der Anschluss an entsprechende soziale Bezugsgruppen (»Cliquen«) misslingt; die Versuche, mit anderen Jugendlichen in Verbindung zu treten, scheitern allein deshalb, weil implizite Spielregeln nicht vollkommen beherrscht wird. Dies bezieht sich sowohl auf bestimmte kommunikative Umgangsformen (Sprachgewohnheiten, Gesten) wie auf Vorlieben im Hinblick auf Kleidung, Musik und Freizeitaktivitäten. Wer dieses ingroup-Wissen nicht (vollkommen) besitzt, wirkt komisch und befremdlich und gehört folglich nicht dazu. Erik Erikson bemerkt, dass junge Leute im Ausschluss all derer sehr grausam sein können, die schon »in geringfügigen Nuancen der Kleidung und Geste« von den Gruppennormen abweichen. Diese Grausamkeit äußert sich immer auch in jener Art von Verspottung, die mit aggressiven Formen des Lachens einhergeht. Dazu geören das verächtliche Grinsen und Kichern ebenso wie das lautstarke Verlachen. Die entsprechende Auswirkung ist häufig traumatisierend. Jugendliche, die über einen längeren Zeitraum einer derartigen beschämenden Beeinträchtigung ihres Selbstwertgefühls ausgesetzt sind, entwickeln für gewöhnlich eine »Gelotophobie«, das heißt, eine Angst vor dem Ausgelachtwerden. Diese Angst wiederum führt zu einer verstärkten Ausweichtendenz im sozialen Leben, die mit sensitiven Beziehungsideen und einem paranoiden Erscheinungsbild verbunden sein können.
Klinische Vignette
Eine dreißigjährige Patientin kommt wegen vielfältiger psychosomatischer Probleme (Spannungskopfschmerzen, Schlafstörungen, Bauchkrämpfen, Schwindelgefühlen, Hitzewallungen, Zittern) in Behandlung. Allmählich stellt sich heraus, dass sie unter einer ausgeprägten Schamangst leidet, die mit sensitiven Beziehungsideen, Errötungsproblemen und psychomotorischen Verkrampfungen einhergeht. Im Berufsleben kam es in der Vergangenheit zu gravierenden Problemen mit Kollegen und Vorgesetzten, was die Patientin auf Mobbing zurückführte. Insgesamt erweckt sie jenen unlebendigen, hölzernen Eindruck, der die Diagnose eines »Pinocchio-Syndroms« nahe legt.
Anamnestisch ergaben sich zunächst keine eindeutigen Hinweise, die die Schwere des Krankheitsbildes erklärt hätten. Die Patientin war als Einzelkind mit ihrer alleinerziehenden Mutter eine enge Symbiose eingegangen. Offensichtlich war sie für die zurückgezogen lebende Frau die wichtigste Bezugsperson gewesen. Als Partnerersatz musste sie für die lebensuntüchtige und extrem kränkbare Mutter zudem eine »parentifizierende« Funktion erfüllen. Diese starke Bindung machte es der Patientin unmöglich, dauerhafte Beziehungen zu Gleichaltrigen aufrechtzuerhalten. So gelangte sie allmählich in die Position eines komischen Außenseiters. Die entsprechenden Erfahrungen waren derart beschämend gewesen, dass die Patientin erst nach über einem Jahr Behandlung bereit war, ihrem Therapeuten diesen schriftlichen Bericht zu überlassen:
»Es begann damit, dass ein Klassenkamerad mich 'Knofel' zu rufen begann. Dies hing damit zusammen, dass meine Mutter alle Speisen mit Knoblauch würzte, obwohl ihr klar sein musste, dass dies zu unangenehmen Ausdünstungen führte. Bald machten sich auch andere Jugendliche über mich lustig. Sie riefen 'Iii - pfui Teufel', wenn sie mich nur sahen. Das hat sich dann so ausgeweitet, dass selbst Jugendliche, die mich überhaupt nicht kannten, mich zu verspotten begannen. Sie grinsten dreckig, wenn sie mich nur anguckten und schrien 'igitt'. Auf dem Schulhof und selbst auf offener Straße wandten sie sich entsetzt von mir ab, oder sie hielten sich die Kapuze oder die Schultasche vors Gesicht, um meinen Anblick nicht 'ertragen' zu müssen. Ihr teuflisches Gelächter klingt mir noch heute in den Ohren! Nach der großen Pause machten alle einen Wettlauf, um vor mir im Klassenzimmer zu sein. Wenn ich dann hereinkam, taten sie so, als hätte ich die Türe verseucht. Die nach mir Kommenden 'trauten' sich dann nicht, das Klassenzimmer zu betreten. Und die, die schon drin waren, hielten mir höhnisch lachend gekreuzte Bleistifte entgegen - so, als sei ich ein Vampir!
Ich begann immer mehr in Scham zu erstarren. Ich fragte mich ständig: 'Was an mir ist so entsetzlich? Bin ich ein ungeschickter Trampel?' Ich traute mir bald gar nichts mehr zu, denn ich wurde wirklich immer verkrampfter und komischer. Im Unterricht war ich ganz still und meldete mich nie. Deshalb bekam ich auch noch eine schlechte Note in Mitarbeit! Ich wurde immer empfindlicher und begann selbst Leute zu fürchten, die mich freundlich anlächelten! Über all das sprach ich aus lauter Scham mit keinem Menschen, schon gar nicht mit meiner Mutter. Sie hätte mir ohnehin nur Vorhaltungen gemacht wie: 'Du musst eben freundlicher zu den anderen sein, nicht so hochnäsig usw.' Ich traute mich schließlich nicht, mit meiner Mutter in die Stadt zu gehen, weil sie es nicht mitbekommen sollte, wie ich verspottet wurde. So blieb ich immer zu Hause, täuschte Unwohlsein und Bauchschmerzen vor. Bis vor wenigen Monaten dachte ich, das alles habe mein ganzes Leben verkorkst und mich innerlich gebrochen. Es blieb all die Jahre ein Riesengeheimnis. Niemandem habe ich davon erzählt. Nicht einmal Ihnen, als meinem Therapeuten, wagte ich davon zu berichten. So sehr habe ich mich geschämt.«
Schlussbemerkungen
Das Wesentliche des Lebens ist die Bewegtheit, hatte Henri Bergson festgestellt. Wird diese »Lebensschwungkraft« (élan vital) gehemmt, so kommt es zu einer mechanischen Verkrustung des Lebendigen, so dass die Person »als Sache« erscheint. Dies Verobjektivierung des lebendigen Menschen kann grundsätzlich komisch bzw. lächerlich wirken. Die Schamgefühle, die in diesem Zusammenhang entstehen, sind der affektive Ausdruck einer personalen Sicherungstendenz, die in ihrer letzten Konsequenz in die soziale Isolation führt. Denn das Ziel der Scham(angst) ist das Verschwinden, was »am einfachsten durch das Verstecken geschehen (kann), am meisten archaisch durch das Erstarren in völliger Lähmung (Wurmser). Doch eben diese »Versteifung gegen das soziale Leben« (Bergson) wirkt ihrerseits komisch. Damit entwickelt sich eine psychopathologisch relevante Schamproblematik innerhalb eines Teufelskreises, innerhalb dessen das Komische sowohl Folge als auch (Mit-)Ursache ist.
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