Unfreiheit in der Freiheit?
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Von Michael Titze
[Aus: A. Längle, Existenz zwischen Zwang und Freiheit. Therapeutischer Prozeß und existentielle Freiheit, GLE-Tagungsbericht, Wien, 1988, S. 179-187]

Émile Durkheim und Marcel Mauss haben zu Anfang dieses Jahrhunderts eine wegweisende kultursoziologische Studie über primitive Klassifikationen vorgelegt (Durkheim und Mauss, 1963). Darin zeigen die Autoren, und zwar am Beispiel eines südaustralischen Stammes, dass am Anfang der menschlichen Kulturentwicklung ein dichotomisierendes bzw. dualistisches Prinzip der Klassifikation steht. Die gesamte belebte und unbelebte Welt wurde nämlich nach zwei Kategorien unterteilt, die den beiden Blutsverbänden entsprach, aus denen sich dieser Stamm zusammensetzte. Damit war die gesamte Welt, mochte es sich um Tiere, Pflanzen, Mineralien, Gestirne oder Menschen handeln, »sozialisiert«. Dem einzelnen Mitglied dieses Stammes war nun ausschließlich der Umgang mit solchen Gegenständen erlaubt, die seinem eigenen Blutsverband zugehörten. Alle anderen Objekte, ob belebt oder unbelebt, waren »tabu«, das heißt der Umgang mit ihnen war verboten. So durften z. B. nur solche Menschen zu Geschlechtspartnern gewählt werden, nur solche Pflanzen und Tiere verzehrt werden und nur solche Steine für kultische Handlungen verwendet werden, die dem eigenen Blutsverband zugehörten.

Auf einer derart niederen kulturellen Stufe verfügt ein Individuum demnach über das denkbar einfachste soziale Orientierungsprinzip zur Bestimmung richtigen und falschen Handelns. Je weiter die kulturelle Entwicklung indes voranschreitet, desto differenzierter wird dieses Orientierungsprinzip auf der einen Seite und desto schwieriger wird es für das Individuum auf der anderen Seite, »richtig« zu handeln bzw. das Begehen von Fehlern zu vermeiden.

So berichten Durkheim und Mauss von einem australischen Stamm, der in kultureller Hinsicht schon auf einer höheren Stufe stand als der eben geschilderte. Die Angehörigen dieses Stammes teilten die Welt zwar ebenfalls zunächst hinsichtlich zweier Blutsverbände auf, die ihrerseits aber wieder nach jeweils zwei »Heiratsklassen« diskriminiert wurden. Damit mussten - neben den ursprünglichen zwei Hauptkategorien - vier zusätzliche Unterkategorien bei der Bewertung individuellen Handelns herangezogen werden. Das zugrunde liegende Orientierungsprinzip ist damit differenzierter, die Möglichkeiten, etwas »falsch zu machen«, sind gleichzeitig aber auch größer geworden, während der Bereich »richtiger« oder erlaubter Handlungsmöglichkeiten sowohl geringer als auch schwieriger bestimmbar geworden ist.

Hieraus lässt sich folgern, dass die kognitiven Orientierungssysteme gerade bei jenen Gesellschaftsordnungen ausgeprägt standardisiert, das heißt an eindeutigen, durch allgemeine Konvention bestimmten Leitlinien und Idealen ausgerichtet sind, deren kultureller Entwicklungsstand besonders archaisch bzw. »primitiv« ist. Angehörige solcher Kulturen müssen das tun, was im Sinne der vorgegebenen sozialen Orientierungssysteme erlaubt bzw. geboten ist, und sie müssen umgekehrt von all dem Abstand nehmen, was verboten bzw. tabuisiert ist, weil sie sonst mit massiven Sanktionen ihrer Bezugsgruppe rechnen müssen.

Auf welche Weise mit fortschreitendem kulturellen Entwicklungsstand der progressive Differenzierungsprozess im Bereich solcher Orientierungssysteme verläuft, lässt sich vorbildlich aus den Analysen des sog. wilden Denkens von Lévi-Strauss (1973) ersehen. Als Beispiel können wir in diesem Zusammenhang die ausgesprochen komplizierte Weltordnung des kanadischen Indianerstammes der Winnebago anführen. Diese teilten die gesamte belebte und unbelebte Welt in fünf Hauptkategorien ein, die jeweils der Erde, dem Wasser, der Unterwasserwelt, dem atmosphärischen Himmel und dem Empyreum entsprachen. Der Stamm als solcher setzte sich aus einer Vielzahl von Clans zusammen. Diese Clans wurden ihrerseits durch Vermittlung bestimmter Totemtiere, die einer der fünf Hauptkategorien zugehörten und die ihrerseits klassifiziert sind (z. B. »Vierfüßler der festen Erde«, »Vierfüßler der feuchten Orte«, »Wasservögel«), zu eben diesen Hauptkategorien in Beziehung gesetzt. Nun leiten sich sowohl von der Tatsache der Zugehörigkeit zu einer dieser Hauptkategorien als auch der damit in Zusammenhang stehenden Zugehörigkeit zu einem bestimmten Clan die vielfältigsten Regeln und Verbote ab. So durften etwa bei den Omaha nur einige ausgewählte Clans den (geheiligten) Mais anpflanzen.

Diese Beispiele zeigen, wie kompliziert selbst in sog. primitiven Kulturen die zugrunde gelegten Orientierungsprinzipien sind. Von großer Bedeutung ist aber vor allem, dass verschiedene Individuen nicht eindeutig richtig oder falsch handeln, wenn sie Gleiches tun: entscheidend ist vielmehr die Clan- bzw. Kastenzugehörigkeit, der soziale Bezugsrahmen mithin, der sich mit dem Anwachsen des kulturellen Entwicklungsstandes zunehmend einengt. Je größer aber die Differenzierung einer sozialen Gemeinschaft nach verschiedenen Clans, Blutsverbänden und Heiratsklassen ist, desto schwerer muss es dem jeweiligen Individuum fallen, die entsprechenden Regeln, Vorschriften, Gebote und Verbote zu kennen und zu verstehen, um die Richtlinien »richtigen« Handelns verfügbar zu haben.

Zwangsläufig ergibt sich in diesem Zusammenhang ein zunehmender Bedarf an »Spezialisten«, die einerseits fähig, andererseits aber auch berechtigt sind, als »Schamanen«, »Medizinmänner«, »Priester«, »Schriftgelehrte« usw. richtiges und falsches Verhalten zu definieren - und damit die Kriterien einer anzustrebenden Normalität zu bestimmen. Diese »Experten« besitzen sozusagen die Funktion von absoluten Autoritäten, von »Gralshütern der Normalität«.

Die Angehörigen einer primitiven Kultur stehen also grundsätzlich unter dem normierenden Einfluss einer Sozialität, die eine totale Anpassung an ihr universales Glaubens- und Orientierungssystem fordert. Das wiederum bringt eine eindeutige, widerspruchsfreie Weltanschauung her.

Wer in einer solchen Kultur sozialisiert wurde, wird insofern »irrational« bzw. »prärational« denken und handeln müssen, als er den normativen Setzungen, den Glaubensinhalten und Idealen, die seine Kultur hervorgebracht hat, in aller Regel die Bedeutung von »absoluten Wahrheiten« beimessen wird. Dieser Verabsolutierungstendenz entspricht umgekehrt die Unfähigkeit, die »gesellschaftlichen Vor-Urteile« zu relativieren. Daneben wird der Angehörige einer primitiven Kultur aber auch stets soziozentriert sein (müssen), ausgerichtet auf das allgemeine Ordnungsprinzip der Sozialität (das »Man«, vgl. Heidegger, 1979), da jede Form der »Ich-Zentrierung« eine Gefahr für den Zusammenhalt, den Kollektivismus primitiver Kulturen darstellt.

Im Verlauf ihrer Entwicklungsgeschichte haben die Menschen vorwiegend im Geltungsbereich von totalitären bzw. verabsolutierenden Weltanschauungen gelebt - mag es sich dabei im einzelnen um die magischen Weltbilder sog. Naturvölker gehandelt haben, um die Wertvorstellungen eines zentralamerikanischen Priesterstaates, um die Glaubenslehren einer puritanischen Siedlerkolonie in Nordamerika oder schließlich die Parteiendoktrin der chinesischen Kommunisten unter Mao-Tse Tung.

»Jeweils lieferten kollektive Weltauslegungen dem Einzelnen praktisch in allen Lebenslagen und für alle Wechselfälle des Lebens eindeutige Anweisungen für 'richtiges' Verhalten und zeigten ihm die 'wahren' Zusammenhänge auf zwischen seinem persönlichen Schicksal und den großen Weltgesetzen« (Wiegand, 1986, 41).

Damit sind, auch wenn dies erstaunlich klingt, die sozialen Systeme der von Durkheim und Mauss beschriebenen australischen Ureinwohner und die eines totalitären Staates der Gegenwart in formaler Hinsicht miteinander vergleichbar. Die betreffenden sozialen Orientierungssysteme präsentieren sich nämlich typischerweise als in sich geschlossene homogene Kollektive, in denen Einklang und Übereinstimmung im Denken, Fühlen und Handeln aller Individuen vorherrschen. Diesaus dem einen Grund, weil es nur ganz bestimmte Normen und Werte gibt, an denen sich diese Individuen einheitlich ausrichten (dürfen) und die eindeutig und unmissverständlich bestimmt sind.

Oberflächlich gesehen, müssten wir nun davon ausgehen, dass die Angehörigen solcher Kulturen, in Anbetracht ihres prärationalen kognitiven Entwicklungsstandes, allesamt neurotisch oder gar psychotisch wären (von einer derartigen These ging immerhin Gabel [1967] aus). Dass dies aber durchaus nicht so ist, dass vielmehr alle fundamental totalitären Gesellschaftssysteme mehr oder weniger vollständig neurosefrei sind, ergibt sich aus der Tatsache ihrer Geschlossenheit: Wer sich nämlich an eindeutigen soziogenen Leitlinien und Wertmaßstäben orientieren kann, wer mithin jederzeit »hundertprozentig« weiß, was »richtig« und was »falsch« ist, wird in seinem Lebensvollzug nie auf besonders gravierende Widersprüche stoßen und demzufolge in aller Regel nicht in ethische Konflikte geraten.

Gerade diese Bedingung findet der Angehörige einer kulturell hochentwickelten pluralistischen Gesellschaftsform nicht vor. Sie, die weitgehend »desozialisiert« ist, zeichnet sich durch die Tendenz aus,

a) den normativen »äußeren Druck« auf den Einzelnen zu minimalisieren, das heißt diesem möglichst wenig feststehende Orientierungshilfen zu geben, ihn »nach eigener Fasson selig werden zu lassen«;

b) ferner »Meinungsfreiheit« in der Weise zu tolerieren, dass jedermann seinen eigenen Wahrheitsbegriff vertreten und - im Rahmen gewisser, gesetzlich bzw. strafrechtlich geregelter Mindestanforderungen - diesen frei und mit beliebigen Mitteln propagieren darf und sich dabei

c) mit Gleichgesinnten in Kirchen, Sekten, Parteien, Interessengemeinschaften, Bürgerinitiativen usw. zu vereinen, wobei

d) dem Einzelnen weiterhin erlaubt ist, an allen innerhalb dieser Gesellschaft vertretenen Wahrheitsbegriffen Kritik zu üben bzw. diese - wieder nach Maßgabe gesetzlicher Bestimmungen - mit »demokratischen« Mitteln zu bekämpfen bzw. relativierend in Frage zu stellen und schließlich und vor allem

e) die Befriedigung individueller Bedürfnisse, Neigungen und Interessen freizügig anzustreben (»persönliche Freiheit«, »Selbstverwirklichung«).

Kulturell hochentwickelte Gesellschaftssysteme sind daher pluralistisch, liberalistisch und individualistisch. Sie verzichten weitgehend auf vorgegebene normative Orientierungshilfen, auf konventionelle Leitlinien »richtigen« Handelns, um dem Einzelnen das Recht zu geben, »seinen eigenen Weg zu gehen« bzw. sich autonom für das zu entscheiden, was er/sie für »richtig« und »falsch« hält. Diese formale Freizügigkeit stellt aber keineswegs den »Schlüssel zum Glück« dar. Ganz im Gegenteil kann dies zu persönlicher Orientierungslosigkeit und einem daraus resultierenden Gefühl von Sinnlosigkeit führen! Wer nämlich als Angehöriger eines pluralistischen Gesellschaftssystems mit einer Fülle von normativen Orientierungssystemen konfrontiert ist, die von den entsprechenden »meinungsbildenden« und »sinngebenden« Instanzen offeriert werden, wird im wahrsten Sinne des Wortes vor der »Qual der Wahl« stehen: Er/sie muss sich nämlich eigenverantwortlich für ein homogenes, in eine eindeutige Richtung weisendes Glaubens- und Orientierungssystem entscheiden (und zu dieser Entscheidung konsequent stehen!), will er/sie nicht in das Chaos von Widersinn und Orientierungslosigkeit gestürzt werden.

Wer sich in einer pluralistischen und liberalistischen Gesellschaftsordnung zurechtfinden und einen Weg gehen will, der für ihn/sie angemessen ist, der muss also zuallererst kritikfähig sein, um aus der Fülle des Angebots prinzipiell heterogener und in ihrem Aussagegehalt oftmals widersprüchlicher Wahrheitsbegriffe das herauszufinden, was ihm/ihr »am ehesten liegt«, was der Verwirklichung seiner/ihrer je eigenen Bedürfnisse, Überzeugungen und Interessen am meisten entgegenkommt. Das heißt aber nichts anderes, als dass dieser Mensch fähig sein muss, gelegentlich »nein« zu sagen - selbst auf die Gefahr hin, andere dadurch zu enttäuschen bzw. in soziale Konflikte zu geraten.

Damit ist aber auch schon festgestellt, dass derjenige, der in einer pluralistischen und liberalistischen Gesellschaft bestehen will, kognitive Operationen in Anspruch nehmen muss, die in formaler Hinsicht die Kriterien der autonomen (»postkonventionellen«) Rationalität erfüllen. Bleibt er/sie hingegen auf dem Niveau eines prärationalen Denkens stehen, das sich vornehmlich an konventionellen, das heißt von außen vorgegebenen Leitlinien orientiert, wird er/sie in seinem Lebensvollzug auf die Dauer ohne konsequente Orientierung bleiben müssen: Angesichts einer sozialen Wirklichkeit, die - wie Alices Wunderland - widersprüchlich und paradox ist. Wo nämlich jedermann alles in Frage stellen und alles abstreiten kann, was andere als »wahr« und »richtig« deklarieren mögen, wird sich die »absolute Wahrheit« des geschlossenen Glaubenssystems einer primitiven Gesellschaftsordnung nirgendwo auffinden lassen. So wird denn auch derjenige, der über die Mittel einer »postkonventionellen« Rationalität, also über Kritikfähigkeit, autonome Entscheidungsfähigkeit und den Mut zum nein Sagen nicht verfügt, zwangsläufig in immer neue ethische Konflikte gelangen. Er/sie wird mithin das Schicksal des »irrationalen Neurotikers« erleiden müssen.

Ist also die Neurose der Preis für die individuelle Freiheit mit der viele Menschen nicht fertig werden? Viktor Frankl wies immer wieder darauf hin, dass die Sinnleere eines der wichtigsten Kennzeichen bzw. Voraussetzungen der Neurose ist. Den bisherigen Ausführungen folgend, können wir davon ausgehen, dass nur derjenige sein Leben als sinnvoll auffassen wird, der in der Lage ist, diesem eine eindeutige Richtung zu geben. Dies setzt allerdings voraus, dass dieser Mensch sich für ganz bestimmte ethische Leitlinien und Wertmaßstäbe autonom entschieden hat, an denen er sich in seinem Handeln ausrichten kann.

Der Neurotiker besitzt diese Voraussetzungen kaum. Sklavisch ausgerichtet an dem, was (aufgrund beliebiger Konventionen) getan werden muss, kann er sich in seinem Handeln nicht an den Zielen und Leitlinien orientieren, die er »eigentlich« erreichen will. Soziale Forderungen und Pflichten von einem erdrückenden Ausmaß stellen sich ihm in den Weg und hindern ihn daran, Freude und Zufriedenheit in seinem Leben zu empfinden.

Es ist eine bekannte Tatsache, dass Neurotiker »unsichere« Menschen sind, umgekehrt aber diejenigen, die sich »ihrer Sache sicher« sind, kaum unter gravierenden neurotischen Problemen leiden. Sie besitzen die Voraussetzungen, sich inmitten der verwirrenden Vielfalt einer pluralistischen Gesellschaft zurechtzufinden, indem sie ihren Überzeugungen und Interessen folgend ihrem Leben seinen je spezifischen Sinn geben.

Menschen hingegen, die diese rationalen Voraussetzungen nicht aufzubringen vermögen, können den für den Neurotiker so charakteristischen Gefühlen der Sinnlosigkeit, Leere, Unsicherheit und Angst häufig nur dadurch entgehen, dass sie sich in die Obhut einer geschlossenen Gesellschaft mit einer homogenen Weltanschauung begeben. Dort, wo ihnen in der Art »primitiver« prärationaler Kulturen ein unumstößlicher, absoluter Wahrheitsbegriff von außen vorgegeben wird, können sie sich, abgeschirmt von den widersprüchlichen Strömungen der pluralistischen Weltordnung, sicher und geborgen fühlen: In dem Bewusstsein, das rechte Ziel ebenso vor Augen zu haben wie die richtigen Mittel und Wege zu seiner Verwirklichung. Die pluralistische Gesellschaftsordnung hält eine Fülle derartiger »totalitärer Subkulturen« bereit, mag es sich dabei um radikale politische Gruppierungen handeln, um fundamentalistische Glaubensgemeinschaften, oder esoterische Heilsbewegungen (vgl. dazu: Klosinski, 1985; Titze, 1979, 173 ff.). Es ist immer wieder beeindruckend zu sehen, wie schnell, oftmals innerhalb weniger Tage, unsichere, ängstliche Menschen, neuen Lebensmut, Zufriedenheit und Sinnerfüllung finden, nachdem sie in solche Gruppierungen integriert wurden. Sie fühlen sich nach eigener Aussage innerlich stark und gefestigt im Bewusstsein, das allein Richtige zu tun und die »wahre Wahrheit« zu kennen. Ganz ähnliche Effekte ergeben sich übrigens auch in den pseudotherapeutischen Großgruppen, wo Tausende von zumeist labilen Menschen von einem »Therapie-Guru« über die Regeln richtiger Lebensführung unterwiesen werden. Ronald Wiegand, ein intimer Kenner der Großgruppenszene, beschreibt dies so:

»Zu (diesen subkulturellen Gemeinschaftsbildungen) stoßen Menschen aus dem Grundgefühl heraus, in der modernen Welt gesellschaftlicher Selbstbehauptung isoliert, überfordert und unterbewertet zu sein. Der Ausstieg in die Gemeinschaft wird zur Verlockung, weil deren Binnenordnung aufgrund der Umwertung aller Werte als Gegenwelt erscheint« (Wiegand, 1986, 51).

Der heilsame Effekt, den solche Gemeinschaften vermitteln, basiert vornehmlich auf der Entlastung von moralischen Entscheidungskonflikten bzw. Wertekollisionen zurückzuführen ist, denen sich der postmoderne Mensch grundsätzlich gegenübersieht. Doch dies bleibt unreflektiert und ist nicht das Ergebnis einer personalen Entscheidung! Echte Psychotherapie muss dem Klienten daher Wege aufzeigen, wie sich solche Entscheidungskonflikte autonom lösen lassen, und zwar dadurch, dass der betreffende Mensch bewusst und mutig nein zu sagen lernt zu jenen Wertangeboten und Normen, die ihm allein nicht liegen bzw., um es etwas anders auszudrücken - die ihm nicht sinnvoll erscheinen. Dazu muss dieser Mensch aber erst jene reife moralische Stufe erreicht haben, die Kohlberg (vgl. Colby und Kohlberg 1978, Kohlberg, 1976) im Anschluss an Piaget (1979) als »postkonventionell« bezeichnet hat. Andere Autoren sprechen in diesem Zusammenhang von einem »autonomen« oder »personalen Gewissen« (vgl. Caruso, 1952; Wiesenhütter, 1969). Wer diese Stufe der moralischen Entwicklung erreicht hat , ist gleichsam vom Zwang zur unwidersprochenen Unterwerfung unter die Konventionalität des »Man« (Heidegger [1979]) befreit. Alle normativen Setzungen stehen dabei einer kritischen Relativierung grundsätzlich offen, wenngleich gewährleistet ist, dass bestimmte moralische Prinzipien, denen eine universale Bedeutung zugesprochen wird, bewusst und eigenverantwortlich befolgt werden - und zwar in einem intuitiven Akt, der die eigenen Bedürfnisse, die personalen Möglichkeiten einbezieht. So ist diese Entscheidung ein genuiner Ausdruck personaler Autonomie bzw. Individualität. Kohlberg bemerkt, dass in dieser Hinsicht eine gewisse Affinität zum (»egozentrischen«, Piaget) präkonventionellen Niveau der moralischen Entwicklung gegeben ist:

»Die Perspektive des postkonventionellen Niveaus gleicht in gewisser Hinsicht der präkonventionellen Perspektive, insofern sie nämlich zum Standpunkt des Individuums zurückkehrt, statt sich auf den Standpunkt von uns' Mitgliedern der Gesellschaft' zu stellen.« (Colby und Kohlberg, 1979, 359).

Der elementare Unterschied gegenüber dem infantilen präkonventionellen Niveau der Moralität besteht natürlich darin, dass das Individuum nunmehr über weit überlegene logische bzw. rationale Kapazitäten verfügt, insbesondere aber uneingeschränkt zur Identifikation mit seinen Mitmenschen, also zur Rollenübernahme fähig ist (Titze, 1984). Das postkonventionelle Individuum vermag sich mithin auf die Bedürfnisse und Nöte seiner Mitmenschen »empathisch« einzustellen und dabei ad hoc zu ermitteln, was im Hinblick auf diese Aspekte (moralisch) richtig ist.

Den (Nach-)Reifungsprozess der zum Erwerb dieses autonomen bzw. postkonventionellen Gewissens führt, muss die Psychotherapie unbedingt anregen, um die Entscheidung zur autonomer Sinnfindung angesichts eines zunehmend heteronomen Werteangebots in der »Postmoderne« anzuregen. Frankl erklärt hierzu folgendes:

»Es gibt Situationen, in denen der Mensch vor eine Wertwahl gestellt ist, vor die Wahl zwischen einander widersprechenden Prinzipien. Soll dann die Wahl nicht willkürlich getroffen werden, so ist er wieder auf das (»autonome»« oder »personale«, MT) Gewissen zurückgeworfen und angewiesen - auf das Gewissen, das allein es ausmacht dass er frei, aber nicht willkürlich, sondern verantwortlich eine Entscheidung trifft« (Frankl, 1985, 239).

Wie der Mensch zu diesem Gewissen, zu diesem autonomen Entscheidungsorgan gelangt, beschreibt Frankl so:

»Wir leben im Zeitalter eines um sich greifenden Sinnlosigkeitsgefühls. In diesem unserem Zeitalter muss es sich die Erziehung angelegen sein lassen, nicht nur Wissen zu vermitteln, sondern auch das Gewissen - zu verfeinern, so dass der Mensch hellhörig genug ist, um die jeder Situation innewohnende Forderung herauszuhören. In einem Zeitalter, in dem die 10 Gebote für so viele ihre Geltung zu verlieren scheinen, inuf3 der Mensch instand gesetzt werden, die 10 000 Gebote zu vernehmen, die in den zehntausend Situationen verschlüsselt sind, mit denen ihn sein Leben konfrontiert. Dann wird ihm eben nicht nur dieses Leben sinnvoll erscheinen, sondern er selbst wird dann immunisiert sein gegenüber Konformismus und Totalitarismus [...] So oder so: Mehr denn je Erziehung - Erziehung zur Verantwortung. Und verantwortlich sein heißt, selektiv sein, wählerisch sein...« (Frankl, 1975, 16)

Wir können ergänzen, dass die Psychotherapie diesen Erziehungs- bzw. Nachreifungsprozess anregen sollte, wenn sie es mit Menschen zu tun hat, die es - aus welchen Gründen auch immer - im Verlauf ihrer Sozialisation nicht geschafft haben, jene Stufe der moralischen Entwicklung zu erreichen, die dem autonomen bzw. personalen Gewissen zugrunde liegt. Mit anderen Worten: Traumata und frühkindliche Konflikte zu analysieren und den Patienten dabei auf der konventionellen moralischen Stufe des sog. Über-Ichs stehen zu lassen, ist zu wenig. Zu wenig auf jeden Fall in einer Welt, in der Konventionen keine Allgemeingültigkeit besitzen, Traditionen verlorengegangen sind und die Widersprüchlichkeit des Werteangebots erdrückend ist. Denn wenn alles relativiert wird, kann nur eines absolut sein, um mit Frankls Worten zu schließen: »das Gebot unseres Gewissens« (Frankl, 1979, 105).

Anmerkungen
1 Die totalitären Gesellschaftssysteme und Einparteienstaaten der Moderne weisen in dieser Hinsicht manche Übereinstimmung mit den in Frage stehenden archaischen Gesellschaften auf. Deshalb besteht in ihrem Machtbereich die unverblümte Tendenz zur »Säuberung« des Staates von »Volksschädlingen«, »Klassenfeinden«, »Konterrevolutionären« oder »Dissidenten«.

2 Kohlberg (1976) meint, dass die Mehrzahl der Jugendlichen und Erwachsenen auf den konventionellen Stufen der moralischen Entwicklung stehen bleibt.

Literatur
Caruso, J. : Bios, Psyche, Person. Freiburg, 1952.
Colby, A. & Kohlberg, L.: Das moralische Urteil: Der kognitionszentrierte entwicklungspsychologische Ansatz. In: Steiner, G. (Hg.): Die Psychologie des 20. Jahrhunderts, Band VII. Zürich, 1978, 348-366.
Durkheim, E. & Mauss, M. (1901): Primitive Classification. London, 1963.
Frankl, V. E.: Der leidende Mensch. Anthropologische Grundlagen der Psychotherapie. Bern, 1975.
Frankl, V. E.: Der Mensch vor der Frage nach Sinn. München, 1979.
Frankl, V. E.: (1948) Der unbewußte Gott. Psychotherapie und Religion. München, 1985.
Gabel, J.: Ideologie und Schlzophrenie
Heidegger, M.: (1927) Sein und Zeit. Tübingen, 1979.
Klosinski, G.: Warum Bhagwan? Auf der Suche nach Geborgenheitund Liebe. München, 1985.
Kohlberg, L: Moral Development and Behavior. New York, 1976.
Lévi-Strauss, C.: Das wilde Denken. Frankfurt, 1973.
Piaget, J. (1932): Das moralische Urteil beim Kinde. Frankfurt, 1979.
Titze, M.: Lebensziel und Lebensstil. München 1979.
Titze, M.: Zur Finalität sozialen Handelns. Ztschr. Indiv. Psychol., 9, 1984, 30-40.
Wiegand, R.: Gemeinschaft gegen Gesellschaft. Frankfurt, 1986.
Wiesenhütter, E.: Grundbegriffe der Tiefenpsychologie. Darmstadt, 1969.


© Dr. Michael Titze
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