Den Widrigkeiten des Lebens trotzen
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Von Michael Titze
Humor in der Behandlung von behinderten Kindern
[Aus: Bulletin ALG Nr. 102, 3. Quartal 2004]
Ein behindertes Kind ist bereichsweise stets weniger kompetent als andere Kinder. Damit befindet es sich in einer »besonderen« Situation. Denn aufgrund seine spezifischen Behinderung wird es (vor allem von Gleichaltrigen) als »blöd«, »komisch«, »merkwürdig« usw. typisiert - und damit der Lächerlichkeit preisgegeben. Es wird stigmatisiert, das heißt auf eine Sonderrolle festgelegt, was zu einer Veränderung seiner Beziehungen zu anderen Menschen bzw. seiner Lebenswelt führt. Auch von Erwachsenen wird ein behindertes Kind auf diese Sonderrolle festgelegt, wenn diese es als »arm«, »eigenbrötlerisch« und als »sonderbar« auffassen. Insbesondere dann, wenn dieses Kind zum Spottobjekt für andere Kinder geworden ist, wird es bei seinen Bezugspersonen in der Regel eine verstärkte Zuwendung finden, so dass ihm ein besonderes Ausmaß an Fürsorge und Mitleid zukommt. Damit gelangt das behinderte Kind ungewollt in die Rolle eines inkompetenten »Sonderlings«, dessen Identität durch ein körperliches oder geistiges Gebrechens (defizitär) definiert wird. Damit konzentrieren sich gerade die wohlmeinenden Bezugspersonen des behinderten Kindes auf das spezifisch Defizitäre, das körperliche oder geistige Gebrechen - wodurch diesem Kind die einseitige Rolle des »Blinden«, »Tauben«, »Stotterers«, »Spastikers« oder »Schwachsinnigen« zugewiesen wird!

So befindet sich das inkompetente Kind häufig in einem doppelten Dilemma: Es wird einerseits durch sein spezifisches Handicap behindert; andererseits erfährt es eine umfassende Rollenzuschreibung »als inkompetenter Behinderter«. Und gerade dadurch wird es einem kontinuierlichen Prozess der Entmutigung ausgesetzt! Während andere Kinder, nicht selten auch herzlose Erwachsene, grinsend oder lachend auf seine normabweichende Andersartigkeit Bezug nehmen, versuchen seine mitleids- bzw. »verantwortungsvollen« Bezugspersonen ihm eine Hilfestellung zu geben, die gerade diese Andersartigkeit fokussiert.

Was in beiden Fällen geschieht, ist im Grunde identisch: Dem behinderten Kind wird vermittelt, dass es als (kompetente) Person nicht ernst genommen wird, dass es - wie Kobi (1980, S.80) schreibt - auf »seinen« Defekt, seine Normabweichung reduziert wird. Dies kann zur Folge haben, dass das behinderte Kind allmählich dazu übergeht, den Kern seiner Identitätsbestimmung um eben diesen Defekt herum aufzubauen, so dass es sich schließlich »nur« noch als einen inkompetenten und hilfsbedürftigen, also nicht vollwertigen Menschen erlebt. Wer sich aber selbst so definiert, wird kaum zu der Motivation gelangen, sein eigenes Leben aktiv anzupacken, sich Ziele zu setzen, die es zu erkämpfen gilt - unbeschadet der Tatsache, wie groß die Hindernisse sein mögen, die dabei zu bewältigen sind.

Nur die letztgenannte Einstellung lässt sich als »mutig« bezeichnen. Sie ist Voraussetzung dafür, sich einerseits den Anforderungen und Aufgaben des sozialen Lebens zu stellen, andererseits aber auch, sich innerhalb der Gemeinschaft im Hinblick auf eigene Bedürfnisse und Rechte zu behaupten.

Diese Fähigkeit zur Selbstbehauptung fehlt vielen behinderten Kindern. Sie erleben sich selbst in einer häufig beschämenden Weise als macht-los. Denn »Macht« bezieht sich bei einem Kind zunächst vor allem auf die Möglichkeit uneingeschränkter Kompetenz. Dieses Bewusstsein geht gewöhnlich mit lustvollen Gefühlen einher, die ihrerseits eine Humorreaktion auslösen können. Kindern, die sich als inkompetent bzw. machtlos erleben, fehlt zumeist jener heitere Gesichtsausdruck, den wir von gesunden Kindern her kennen, die den Widrigkeiten des Lebens zu »trotzen« vermögen (vgl. Titze, 2001).

Dieses Trotzen ist nach Ringel (1973, S.80) eine durchaus konstruktive »Grundkraft des Lebens, ohne die menschliches Handeln, Auseinandersetzung, Vorwärtsentwicklung nicht möglich wären« (ebd.). Im aggressiven Akt des Trotzens lotet ein Kind seine Kompetenz, seine Macht aus. Gelingt dies, erfolgt grundsätzlich die »Humorreaktion«, die sich physiologisch im Lachen äußert (Titze & Eschenröder, 2003, S. 16ff). Viele behinderte Kinder verfügen über diese natürliche »Trotzmacht« (Frankl), die zu einem selbstmächtigen Kompetenzerleben führt, nicht (mehr).

Somit besteht die Zielsetzung therapeutischen Humors immer auch darin, ein entmutigtes Kind zu den verschütteten Quellen seiner ursprünglichen Aggressivität zurückzuführen. Als ein spezifisches Medium zur Vermittlung dieser gesunden Aggressivität, die eine unerlässliche Voraussetzung von trotziger Selbstbehauptung ist, bietet sich der therapeutische Humor an. Sigmund Freud (1970, S. 278) beschrieb den Humor als einen »Triumph des kindlichen Narzissmus, des Lustprinzips«, das sich gegen die Ungunst der realen Verhältnisse zu behaupten vermag. Dabei behandle der humorvolle Mensch sich selbst so, wie ein Kind behandelt, dem gegenüber ein wohlmeinendes Elternteil eine liebevolle Haltung einnimmt. Für die Anwendung von therapeutischem Humor ist diese Haltung programmatisch, denn die Beziehung zum behinderten Kind darf einer liebevollen Freude nicht entbehren (vgl. auch Wygotski, 1980). Erst aus einer solchen Haltung heraus kann sich jenes ironisierende Mutmachen entwickeln, das für den Humor so typisch ist (vgl. Titze & Patsch, 2004). Dabei muss dem behinderten Kind kontinuierlich (und eben durchaus nicht nur verbal!) signalisiert werden, dass es unbedingt über machtvolle Kompetenzen verfügt, die ihm eine Selbstbehauptung ermöglichen.

Eine Heilpädagogin berichtet:

Iris war stets ein Sorgenkind. Gleich nach der Geburt war sie infolge einer Milcheiweißallergie monatelang im Krankenhaus. Später fiel sie durch ein scheues, antisoziales Verhalten auf. Iris ist sechs Jahre alt, nässt immer noch ein und traut sich nicht viel zu. Bei Spaziergängen muss sie von der Erzieherin auf dem Arm getragen werden, weil sie nach kurzer Wegstrecke »nicht mehr kann«. Dies trägt ihr den Spott anderer Kinder ein.

Bei einer längeren Wanderung, auf der unter anderem ein Berg zu erklimmen war, nahm eine Erzieherin Iris beiseite und erklärte ihr folgendes: »Ich kenne mich hier aus, die anderen nicht. Wenn wir beide denen jetzt weglaufen, verirren die sich und kriegen eine fürchterliche Angst. Dann müssen sie weinen. Kommst du mit?« Darauf setzte sich Iris freudestrahlend derart in Bewegung, dass die Erzieherin kaum mithalten konnte. Sie liefen den Berg so schnell hoch, dass der Abstand zu den anderen immer größer wurde. Kichernd fragte die ansonsten so stille und ernste Iris immer wieder: »Haben die jetzt Angst?« - Worauf die Erzieherin antwortete: »Die haben nicht nur Angst, die schämen sich jetzt auch ganz schrecklich, weil sie nicht mehr können! Und ich selber kann jetzt auch nicht mehr. Bitte bleib stehen, damit ich mich ausruhen kann.« Dies war für Iris das Startsignal, den Rest der Strecke im Laufschritt zu bewältigen. Während die Erzieherin keuchend hinter ihr her lief und sie anflehte: »Bitte bleib stehen, ich kann nicht mehr«, schüttelte sich Iris vor Lachen aus!

Eine entsprechende Aggressionsproblematik ist auch bei der funktionellen Enkopresis zu beobachten. Oft sind es durchaus intelligente Kinder, sehr häufig Jungen, die - bei gleichzeitigen Lernproblemen und sozialen Schwierigkeiten - einkoten und dadurch einerseits auf Ablehnung stoßen, andererseits aber auch zum Gespött Gleichaltriger werden.

Michael ist elf Jahre alt, stark kurzsichtig und, da er leicht lispelt, auch sprechbehindert. Er kommt aus einem sozial schwachen Elternhaus. Sein Vater ist alkoholabhängig. Seine Ich-schwache, völlig überforderte Mutter war nie in der Lage, sich den Gewalttätigkeiten des Vaters zu entziehen bzw. ihre Kinder (Michael hat noch drei Schwestern) zuverlässig zu beschützen. Obwohl Michael eher überdurchschnittlich intelligent ist, besucht er eine Sonderschule, wo er wegen seines negativistischen Verhaltens als Problemkind gilt. Im Hinblick auf seine kreativen Fähigkeiten, insbesondere seine große zeichnerische Begabung, sind seine Lehrer allerdings des Lobes voll.

Dieses Kompetenz greift der Therapeut, zu dem Michael auf Veranlassung des Schulleiters bereitwillig geht, gezielt auf. Buntstifte, Papierbögen, Pinsel und Farbe stehen Michael beliebig zur Verfügung. Da er Elefanten am liebsten malt, fragt ihn der Therapeut, was ein Elefant wohl alles »machen kann«. Antwort: »Der kann alles kaputt machen!« - Auf die Frage, ob er denn selbst ein Elefant sein möchte, nickt Michael begeistert. Der Therapeut fordert ihn nun auf, alles zu malen, was ein Elefant »sonst noch machen kann«.

»Der kann schnell rennen.«

»Das können andere, kleinere Tiere auch. Was kann der Elefant viel, viel besser machen?«

Michael überlegt, dann erklärt er: »Der kann viel, viel mehr essen als andere Tiere, weil er doch so dick ist ...«

»Und wenn er soviel isst, was kann er dann auch noch viel, viel besser?« (Der Therapeut hält sich die Nase mit Daumen und Zeigefinger zu.)

Michael grinst verschmitzt: »Der kann ganz viel kacken!«

Darauf der Therapeut: »Da müssen die anderen Tiere aber schauen, dass sie da nicht reintreten, da kommen die doch nicht mehr raus, da müssen die aufpassen, dass es ihnen nicht schlecht wird. Meinst du, du kannst so einen ganz großen Haufen malen?«

Michael ist sofort Feuer und Flamme. Er malt alle möglichen Arten von Elefantenkacke. Der Therapeut hält sich dabei die Nase zu und fleht Michael an: »Nicht noch so einen Haufen, da ist bald das ganze Zimmer voll, und ich muss ersticken!«

Nun schlägt der Therapeut vor, »kackende Elefanten« zu spielen. Er lässt dabei die »konspirative Formel« (vgl. Titze & Eschenröder, 2003, S. 69f) einfließen: »Eins musst du mir unbedingt versprechen. Sag um Gottes Willen niemand, dass ich mit dir dieses Spiel gespielt habe. Wenn du das weiter erzählst, würde man mich auslachen. Und davor habe ich Angst. Die anderen sollen nicht wissen, dass ich so was mache, weil ich doch vernünftig sein soll!«

Danach wird ein Szenario festgelegt, das im Urwald beginnt. Beide, Michael und der Therapeut, gehen mit gebeugten Oberkörpern und wuchtigen Schritten herum und trompeten wie Elefanten. Sie rufen sich gegenseitig zu, auf wen sie gerade stoßen: auf gefährliche Eingeborene mit Speeren, auf Großwildjäger oder auf Tarzan. Abwechselnd spielen sie deren Rollen (indem der Speer geschwungen, das Gewehr angelegt oder das Buschmesser gezückt wird). Dabei wird laut gebrüllt, bedrohliche Grimassen werden geschnitten, denn es soll ja gefährlich und aggressiv zugehen! Derjenige, der gerade den Elefanten spielt, soll dabei nichts anderes machen, als sich lachend - denn anders geht es beim besten Willen nicht! - vor dem »Angreifer« aufzubauen, diesem den Rücken zuzukehren - und mit aller Kraft zu drücken! Dabei wird gerufen: »Jetzt mache ich gleich einen ganz großen Elefantenhaufen, damit kacke ich dich zu, und du musst ersticken!« Der »Angreifer« hält sich darauf die Nase zu und rennt weg, indem er bittet: »Hör auf zu kacken, ich kann nicht mehr! Das stinkt ja fürchterlich!«

Hier wurde versucht, (inkompetente) Verhaltensweisen, die häufig als »negativistisch«, »(verhaltens-)gestört« oder gar »pathologisch« beurteilt werden mögen, in das Gesamtbild eines Kindes zu integrieren, das sich insgeheim durchaus »trotzig« zu behaupten weiß. Indem die entsprechende Aggressivität augenzwinkernd angenommen wurde, ließ sich in einer spielerischen und humorvollen Weise diese trotzige Kompetenz konsequent ermutigen.

Die Ärztin Renate Klöppel verwendet in ihrer heilpädagogischen Gruppenarbeit mit verhaltensgestörten Kindern die komische »Geschichte vom Herrn Gegenteil«, die diese Thematik beinhaltet:

»Gestern begegnete mir ein Mann, der lief mit aufgespanntem Regenschirm durch die Stadt, obwohl es doch gar nicht geregnet hat. Das wäre noch gar nicht so komisch gewesen, aber der Mann hatte nur eine Badehose an, keinen Mantel, keine Schuhe, gar nichts außer der Badehose. Das hat mich so gewundert, dass ich hinter dem Mann hergegangen bin. Da habe ich gemerkt, dass er auch sonst das Gegenteil von dem machte, was andere Menschen taten.

Wenn er über die Straße ging, guckte er nach rechts, dann nach links, und dann ging er los, obwohl ein Auto kam, das glücklicherweise gerade noch bremsen konnte. Schließlich kam er zu einem Supermarkt, in den er hineinging. Da sah ich, dass er aus seiner Tasche ein Pfund Mehl nahm und es ins Regal stellte und genauso ein Stück Butter, eine Dose Erbsen und zum Schluss noch eine Tafel Schokolade. Dann ging er wieder raus, und ihr werdet es euch schon denken, er ging nicht wie die anderen Menschen, sondern er ging immer rückwärts, und dann kam das Erstaunliche: Er holte aus seiner Tasche ein Paar Rollschuhe und schnallte sie sich - ihr werdet es kaum glauben - an die Hände, und husch, schneller als ich laufen konnte, sauste er mit den Rollschuhen an den Händen davon« (Klöppel & Vliex, 1992, S. 168).

Eine Leitfigur könnte in diesem Zusammenhang auch jener freche Lausbub sein, den Frankl (1975, S. 187) beispielhaft anführt: Der Junge war zu spät in die Schule gekommen und entschuldigte sich folgendermaßen: »Auf der Straße gibt es ein so arges Glatteis - wann immer ich einen Schritt vorwärts gemacht hab, bin ich zwei Schritte rückwärts gerutscht.« Woraufhin der Lehrer triumphierte: »Wenn dem wirklich so gewesen wäre - wie hättest du dann überhaupt zur Schule kommen können?« - »Ganz einfach: ich hab mich umgedreht und bin nach Haus gegangen ...«

Wenn ein entmutigtes Kind bewusst zu trotzen lernt, wird es allmählich auch an die Quellen seiner natürlichen Kompetenz gelangen. Dabei kann es in lustvoller Weise aggressive Verhaltensweisen erproben, die es ihm ermöglichen, sich im täglichen Leben in einer Weise zu behaupten, die nicht komisch oder lächerlich ist, sondern einfach »Spaß macht«! Dadurch wird die Voraussetzung geschaffen, Probleme in einer kompetenten, also selbstmächtigen Weise anzupacken. So kann sich ein entmutigtes Kind allmählich seiner eigenen Kompetenz »unbehindert« bewusst werden.

Literatur:
Frankl, V. E.: Ärztliche Seelsorge, Kindler, München, 1975
Freud, S.: Der Humor. In: Studienausgabe Band IV, Fischer, Frankfurt, 1970, S. 275 - 282
Klöppel, R. & Vliex, S.: Helfen durch Rhythmik. Verhaltensauffällige Kinder erkennen, verstehen, richtig behandeln, Herder, Freiburg, 1992
Kobi, E. E.: Heilpädagogik als Herausforderung, Schweizerische Zentralstelle für Heilpädagogik, Luzern, 1979
Ringel, E.: Selbstschädigung durch Neurose, Herder, Wien, 1973
Titze, M.: Die heilende Kraft des Lachens. Mit Therapeutischem Humor frühe Beschämungen heilen, Kösel, München, 2001
Titze, M. & Eschenröder, C.: Therapeutischer Humor. Grundlagen und Anwendungen, Fischer, Frankfurt, 2003
Titze, M. & Patsch, I.: Die Humorstrategie. Auf verblüffende Art Konflikte lösen, Kösel, München, 2004
Wygostki, L. S.: Zur Psychologie und Pädagogik der kindlichen Defektivität. In: Leber, A. (Hrsg.): Heilpädagogik, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 1980, S. 125 - 140


© Dr. Michael Titze
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