Trotzdem Ja zum Leben sagen - die Heilkraft des Humors
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Ansprache anlässlich des Kongresses »Auf der Suche nach Sinn«
Hospitalhof Stuttgart Mai 2005

Von Dr. Michael Titze
»Tragik und Humor sind ja keine Gegensätze.
Oder sind vielmehr nur darum Gegensätze,
weil die eine den anderen so unerbittlich fordert.«
Hermann Hesse


Augustinus empfahl so zu leben, als sei das alltägliche Handeln, die Kraft unmittelbaren Wirkens, von allergrößter Bedeutung. Gleichzeitig sollte der Spannungsbogen der großen Lebenszeit durchaus nicht wichtig genommen werden. Die Folge ist, dass durch dieses Paradoxon vor allem das rationale Denken grundlegend relativiert wird. Gleichzeitig wird das Tor zur Welt der alles relativierenden Komik weit geöffnet. In dieser anderen Welt gelten nicht die Gesetze der Kausalität, die endlosen Verkettungen von Zeit und Raum. Hier braucht sich niemand über die Fehler seiner Vergangenheit zu grämen und dabei voller mutloser Skepsis in die Zukunft blicken. Als der Hollywoodschauspieler Robert Mitchum 60 Jahre alt geworden war, fragte ihn ein Journalist, was die größte Leistung seines Lebens gewesen sei. Mitchum gab zur Antwort: »Als ich 30 Jahre alt war, konnte ich mir nicht vorstellen, die nächsten fünf Jahre zu überleben. Und nun bin ich 60 Jahre alt geworden! Das ist die größte Leistung meines Lebens.« (5, 57)
Die relativierende Kraft des Humor vermag den bedrohlichen Moloch »Ernst des Lebens« auf die Winzigkeit des Hier und Jetzt schrumpfen zu lassen. In diesem Fokus zählt allein der kraftvolle Pulsschlag unmittelbar erlebten Lebens. Ein Beispiel gibt der alte Herr, der an seinem 105. Geburtstag von einem Journalisten gefragt wurde, was er getan habe, um so alt zu werden. Die Antwort darauf war: »Immer geatmet, mein Herr. Nie aufgehört zu atmen.« Entsprechend konnte Martin Luther sagen: »Und wüsste ich, dass morgen die Welt unterginge: Ich würde heute ein Apfelbäumchen pflanzen!« Und ein zum Tode Verurteilter soll am frühen Montagmorgen auf dem Richtplatz ausgerufen haben: »Na, die Woche fängt ja gut an!« (Sigmund Freud hat dieser 'humoristischen Leistung' übrigens ein literarisches Denkmal gesetzt.)

Viktor Frankl, der das »experimentum crucis« in drei Konzentrationslagern durchlebte, bezeichnete den Humor daher als ein »Existential«. Diese »Waffe« wirkt wie ein scharfes Messer, das das »lebendige Leben« (Dostojewski) von den Fesseln der Zeit und den Kausalketten des rationalen Denkens befreit. Dies gelingt nur, wenn wir uns entscheiden, gerade in Krisensituationen wieder so zu denken, wie wir als Kinder gedacht und gehandelt haben. Dieses - gerade in zeitlicher Hinsicht - »verkürzte Denken« macht es möglich, sich selbst von einer ausweglosen Situation dadurch zu distanzieren, dass deren langfristige Folgen bewusst nicht zur Kenntnis genommen werden. In der Fokussierung auf das Naheliegende des Lebens, seine lebendige Unmittelbarkeit, entfaltet sich also der Humor, der in seiner eigenen, einfachen Logik dieses Leben »bedenkenlos« gutheißt. Diese scheinbar unlogische Haltung ist, wie Frankl erklärt, »eine Waffe der Seele im Kampf um Selbsterhaltung«. Hier offenbart sich eine Trotzmacht, die gerade im Angesicht des Todes zu ihrer besonderen Wirkung kommen kann. Diese scheinbar irrationale Trotzmacht ermöglicht es dem betreffenden Menschen, buchstäblich bis zum letzten Atemzug »frei für das Leben zu sein«. Dabei kann sich ein unerschrockener Wille zum Überleben entbinden, der den abwägenden Zweifel, der im allgemeinen zu einem Gefühl der
Sinnlosigkeit, der Selbstaufgabe und damit der Lebensaufgabe führt, niemals aufkommen lässt.

Edith Eger, eine Schülerin Frankls, wurde im Alter von sechzehn Jahren nach Auschwitz deportiert. Unmittelbar nach ihrer Ankunft wurde sie von dem berüchtigten SS Arzt Mengele selektiert. Zusammen mit den meisten ihrer Familienangehörigen wurde sie »nach links«, also in Richtung der Gaskammer geschickt. Im letzten Augenblick entschied der »Todesengel« aber anders: Er rief die heutige Psychotherapeutin wieder zurück und schickte sie in die »andere Richtung«, also ins Leben zurück. Doch in was für ein Leben! Es war dies gleichsam der Alltag von Dantes Inferno, in dem Menschen wahnsinnig wurden und sich dem Kannibalismus hingaben. Aber selbst in dieser Hölle auf Erden vermochte sich die Heilkraft des Humors noch zu entfalten. Sie erwies sich, wie Edith Eger schreibt, als der »Rettungsanker persönlichen Überlebens«. Dadurch, dass die Häftlinge über ihre Machtlosigkeit und vollkommene Unfähigkeit, etwas zu ändern, gescherzt hätten, sei ihnen die Distanzierung von ihrem grauenhaften Schicksal gelungen. »Die Fähigkeit zu lachen trug ihr Teil dazu bei, eine sinnlose Lebenssituation zu bewältigen und sie erträglich zu machen«, stellt die Autorin rückblickend fest. Dies erläutert sie an einem selbsterlebten Beispiel: »Nach der Ankunft in Auschwitz wurden meine Schwester Magda und ich entkleidet, und unser langes Haar wurde uns vollkommen abgeschnitten. Magda hatte lange, blonde Locken, die sie stets stundenlang aufzudrehen pflegte. Nun standen wir also da in einem Zustand äußerster Erniedrigung. Als sie mich fragte, wie sie jetzt aussehen würde, gab ich ihr zur Antwort: 'Du hast wunderschöne blaue Augen!'« (1, 96)

Auch Viktor Frankl berichtet, wie die Fokussierung auf das Unmittelbare des Lebens – unter bewusster Ausklammerung allfälliger zukünftiger Entwicklungen - zur Aktivierung jener »Trotzmacht« führt, die in letzter Konsequenz nicht nur zur Bejahung des Lebens, sondern auch zur Freude an diesem Leben führt. Frankl schreibt: »Wie war es doch beispielsweise, als wir von Auschwitz in eines der Dachauer Filiallager nach Bayern fuhren? Man hatte allgemein angenommen bzw. gefürchtet, der Transport ginge nach Mauthausen. Immer gespannter wurden wir, als sich der Zug jener Donaubrücke näherte, über die er, laut Angabe mitfahrender Kameraden mit jahrelanger Lagererfahrung, nach Mauthausen rollen musste, sobald er von der Hauptstrecke abgezweigt wäre. Unvorstellbar für den, der so etwas oder etwas Analoges noch nicht selber erlebt hat, war der buchstäbliche Freudentanz, den die Häftlinge im Gefangenenwaggon aufführten, als sie merkten, der Transport gehe - 'nur' nach Dachau.

Und wie war es, als wir im Dachauer Filiallager ankamen? Nach einer Fahrt von zwei Tagen und drei Nächten! Und zum Hocken auf dem Boden des kleinen Gefangenenwaggons war nicht für alle Platz; der Großteil musste die Lange Reise vielmehr stehend verbringen, und nur wenige konnten, im Turnus abwechselnd, auf dem spärlichen Stroh kauern, das von menschlichem Harn naß war. So waren wir gewiß übermüdet, als wir ankamen. Die erste wichtige Information seitens älterer Lagerinsassen ging jedoch dahin, dass es in diesem verhältnismäßig kleinen Lager keinen 'Ofen' gab, das heißt: dort gab es kein Krematorium, also auch keine Gaskammern. Und dies bedeutet, dass einer nicht schnurstracks ins Gas gebracht werden konnte, sondern erst, wenn ein sogenannter Krankentransport nach Auschwitz zusammengestellt wurde. Jene Lebensgefahr wenigstens, die aus dieser Richtung drohte, war somit eine weniger unmittelbare. Unsere freudige Überraschung darüber, dass es uns also vergönnt war zu erreichen, was unser Blockältester in Auschwitz uns gewünscht hatte - er empfahl uns nur, nur ja schleunigst in ein Lager zu kommen, in dem es nicht (wie in Auschwitz) einen 'Kamin' gab -, diese freudige Überraschung machte uns froh gelaunt. Ja, diese frohe Laune ließ uns lachen und Späße machen trotz allem, was wir in den nächsten Stunden noch mitmachen mussten: Beim wiederholten Abzählen der mit unserem Transport neu angekommenen Häftlinge fehlte einer. Wir mußten nun so lange im Regen stehen, bis diese Mann gefunden war. Er wurde schließlich in einer Baracke aufgestöbert, in der er vor Erschöpfung in tiefen Schlaf gesunken war. Daraufhin wurde aus dem langwierigen Zählappell - ein Strafappell: die ganze Nacht, bis in den nächsten Vormittag, mussten wir - nach den Strapazen dergeschilderten langen Fahrt! - durchnässt und durchfroren auf dem Appellplatz stehen bleiben.

»Und trotzdem - wir waren alle nichts als freudigst erregt!« (2, 76f)
»Es lachte in mir«, berichtete ein Patient, der Jahre lang an Krebs litt. Er hatte sich in meditativen Methoden der Dekonstruktion unlebendiger Gedanken geübt, die der Zen-Tradition entsprechen. Er hatte das »innere Lachen« für sich entdeckt. Und er hatte die Kraft des »komischen Optimismus« zu spüren gelernt, die sogar die Todesangst dem Lachen preisgibt. Kurz vor seinem Tod schrieb er seinem Psychotherapeuten einen Brief, aus dem wir die letzten Zeilen zitieren:
»Als ich erfuhr, dass mein Tumor inoperabel ist, dass ich bald sterben werde, da war ich zutiefst geschockt. So jung - und schon sterben müssen, dieser Gedanke drückte mich völlig nieder. Dass ich das Gespräch mit dem Psychologen suchte, war zunächst nichts anderes als ein Eingeständnis meiner Hilflosigkeit ... Woran ich mich jetzt vor allem erinnere, das sind die anekdotische Randbemerkungen, die mich meinen Humor wiederentdecken ließen. Das eigenartige Beispiel des Hl. Mauritius etwa, der in siedendes Öl gesteckt wurde und jammerte, wie kalt es ihm sei. Als Sie erzählten, dass der Berberfürst, der den Mauritius zum Tode verurteilt hatte, darauf seine Hand in das heiße Öl gesteckt hatte und sich verbrannte, da musste ich lachen! Ich erinnere mich deshalb so lebhaft daran, weil es das erste Mal war, nachdem ich meine Diagnose erfuhr, dass ich so lachen konnte. Nun bin ich der Mauritius, und der Krebs ist der Berberfürst. Ich hatte gedacht, die Psychologie sei dazu da, Trost zu spenden. Jetzt weiß ich, dass ich diesen Trost nicht brauche. Ich weiß, dass auch ich stärker bin als der Berberfürst, weil ich ihn nicht mehr ernst nehme. Mein Tod soll mein persönlicher Triumph werden. Ich werde ihn lachend erwarten!« (4, 320)

Der klassische Weg der aufdeckenden Psychotherapie führt zu den Verletzungen der Kindheit zurück. Dies ist nicht nur legitim, es ist auch eine Voraussetzung für eine akzeptierende Selbsterkenntnis. Denn das Verstehenlernen der Entstehungsbedingungen eigener Charakterschwächen und emotionaler Mängel steht am Anfang einer ernsthaften Konfliktbewältigung. Doch die Selbstverwirklichung, die diesem Erkenntnisgewinn folgen sollte, braucht nicht unter dem Aspekt des Leidens, der Anstrengung, des Opfers und der schweren Verantwortlichkeit zu erfolgen. Sie kann das Ergebnis einer Entscheidung für ein Leben sein, in dem sich in jedem Augenblick das Wunder der Schöpfung ohne Wenn und Aber manifestiert. Diese Entscheidung bewirkt in letzter Konsequenz einen Wertewandel, der als wichtigstes ethisches Prinzip die »Liebe zum Leben« geltend macht. In seiner Erzählung »Traum eines lächerlichen Menschen« lässt Fjodor Dostojewski einen, der das Leben zu lieben gelernt hat, ausrufen: »Oh, Leben, Leben! Entzücken, unermessliches Entzücken erhob mein ganzes Wesen. Ja, leben und verkünden! Und seit der Zeit verkünde ich nun! Außerdem liebe ich jetzt alle, und die, die über mich lachen, liebe ich am meisten.« (4, 321)

Viktor Frankl schreibt: »Fragen wir nach der Grunderfahrung, die uns in den Konzentrationslagern wurde - in diesem Dasein am Abgrund-, dann lässt sich aus all dem von uns Erlebten als dessen Quintessenz herausstellen: 'Wir haben den Menschen kennengelernt wie vielleicht bisher noch keine einzige Generation. Was also ist der Mensch? Er ist das Wesen, das immer entscheidet, was es ist. Er ist das Wesen, das die Gaskammern erfunden hat, aber zugleich ist er auch das Wesen, das in die Gaskammern gegangen ist mit stolz erhobenem Haupt und mit dem Vaterunser auf den Lippen oder dem Sch’ma Jisrael'.« (3, 213)

Literatur:
(1) Edith Eger: My use of logotherapy with clients, Int. Forum Logother., 4, 1980
(2) Viktor E. Frankl: ... trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager. München, 1977
(3) Viktor E. Frankl: Logotherapie und Existenzanalyse. München, 1987
(4) Michael Titze: Die heilende Kraft des Lachens. München, 2004
(5) Michael Titze, Inge Patsch: Die Humorstrategie. München, 2004

© Dr. Michael Titze
Quelle: www.existenzanalyse.co.at - Mai 2005
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